Rostock, Volkstheater - Werfthalle, WIENER BLUT - J. Strauss, IOCO
Wiener Blut in der Rostocker Werfthalle 207: Die Operette Wiener Blut gehört wohl zu den bekanntesten Bühnenwerken des Komponisten. Allerdings hat er sie so gar nicht geschrieben. Der Wiener Theaterdirektor Franz Jauner drängte den bereits 74-jährigen Strauss ......
Wiener Blut - Komische Operette in drei Akten von Johann Strauss (Sohn), 1825 - 1899 - PREMIERE in Rostock am Donnerstag, den 27.06.2024 in der Rostocker Werfthalle 207
von Thomas Kunzmann
Wiener Blut gehört wohl neben Der Zigeunerbaron, Eine Nacht in Venedig und Die Fledermaus zu den bekanntesten Bühnenwerken des Komponisten. Allerdings hat er sie so gar nicht geschrieben. Der Wiener Theaterdirektor Franz Jauner drängte den bereits 74-jährigen Strauss, eine Zusammenstellung seiner Melodien als Operette unter seinem Namen zu autorisieren, um das eigene Theater vor dem Konkurs zu retten. Das Libretto dazu schrieben Victor Léon und Leo Stein. Der erhoffte Erfolg blieb aus und Jauner nahm sich das Leben. 1905, sechs Jahre nach der Uraufführung in 1899, wurde die Operette nach einer Neueinstudierung im Theater an der Wien zu jener Attraktion, die bis heute andauert. Ob die Inszenierung in Rostock dazu beiträgt?
Jawoll! Es gibt sie, die kongenialen Regieteams, die ein Werk durchdringen, die Intention der Komposition herauszukehren vermögen und ihr dennoch mit traumwandlerischer Unbeschwertheit eine Individualität verleihen, sodass man sich ein Stück gar nicht mehr anders vorstellen mag als in genau dieser Inszenierung. Genau das gelingt dem Trio Geertje Boeden (Inszenierung), Sarah Antonia Rung (Ausstattung) und Annika Dickel (Choreografie) in der Rostocker Werfthalle 207 – der Sommerspielstätte des Rostocker Volkstheaters.
Das Bühnenbild als „Prater im Kleinstformat“ mit Mini-Riesenrad, angedeuteten Sälen und Verstecken. Doch hinter den Kulissen sieht man: alles nur Fassade. Vergnüglichkeiten statt notwendiger Staatsgeschäfte. Die Kostüme im verschlissenen Charme einer untergehenden Monarchie. Fast meint man, in der ersten Reihe sitzend, die könnten schon nach Erde riechen. Und die grotesken Frisuren erst! Irgendwie wirken alle wie gerade nach einer wilden Nacht dem Bett entsprungen – „Amadeus“ lässt grüßen.
Die Handlung spielt zur Zeit des Wiener Kongresses, als der Adel gegen das Erstarken des Bürgertums seine Macht wieder zu festigen und auszubauen suchte. Und hier liegt auch der Regieansatz: Die zutiefst morbide Aristokratie in ihrem Niedergang feiert sich offen in ihren fragwürdigen Moralvorstellungen. Wer das Wiener Blut (natürlich blaues!) hat, darf fast alles – außer sich mit den Bürgerlichen einlassen. Die detailverliebte Regie, die ausgeklügelte Personenführung und sehr differenzierte Charaktergestaltung kann man getrost als Musterbeispiel für eine Frischzellenkur für das Genre der Operette vorzeigen. Kein nostalgischer Blick auf längst vergangene Zeiten, sondern kitschfreier Slapstick. Trotz der nahezu ausschließlichen wer-hat’s-mit-wem-Frage, die sich von Anfang bis Ende durch das Libretto zieht, kommt die Regie komplett ohne explizite Sexszenen aus und setzt gekonnt auf Andeutungen, wie das Spiel mit den Handschuhen, das sich durch die gesamte Inszenierung zieht. Regie und Choreografie befeuern sich gegenseitig, spielen sich die Bälle zu, liefern Rhythmik und Bewegungen zurück, sodass ein Gesamtbild aus einem Guss entsteht.
Musikalisch ist die alte Rostocker Werfthalle mitunter etwas schwierig. Philharmonischen Konzerten ist der Klang, zumindest was den Vergleich mit dem Großen Haus angeht, eher zuträglich. Stimmen gehen jedoch in der Werfthalle schnell unter. Das Orchester hinter der Bühne sorgt für einen satten Klang und der erste Kapellmeister Eduardo Browne-Salinas lässt die Norddeutsche Philharmonie in berauschenden Klängen schwelgen, ohne sich in einlullender Walzerseligkeit zu suhlen. Kaum hat man sich in die Dreivierteltakt-Harmonien eingeschwungen, bei denen eine latente Bedrohlichkeit mitklingt, unterbricht die Handlung mit einem in der Mittelbühne stattfindenden dämonischen Ritual. Das wird vorangetrieben vom bürgerlichen Karussell-Betreiber Kagler (Jussi Joula) mit seinen höllischen Begleitern (Tanzcompagnie), die in den Adelsstand aufstreben wollen. Die Noblesse schaut zwar fasziniert wie das berühmte Kaninchen auf die Schlange, lässt aber das Volk widerstandslos gewähren. Hat man der neu aufkommenden Gesellschaftsordnung nichts entgegenzusetzen? Ist es die diabolische Komponente, die fasziniert?
Die Solisten werden unauffällig und kaum störend über Mikroports verstärkt. Dank der exzellenten Aussteuerung entsteht ein insgesamt sehr ausgeglichenes Klangbild. Zwar leidet mitunter die Textverständlichkeit, doch durch das bildhafte Spiel werden diese Defizite problemlos wettgemacht.
Adam Sánchez gibt den rastlosen Zedlau, getrieben vom Willen zu erotischen Abenteuern, aber auch regelmäßig auf der Flucht vor Entdeckung seiner Liebschaften. Ethan Daniel Freeman, jahrelang international gefeierter Musical-Star, kehrt zur Operette zurück: sein Ypsheim, dessen häufig tollpatschige Unüberlegtheit seinem weltmännischen Charme immer wieder Abbruch tut, erinnert an die Entertainer-Qualitäten eines Peter Alexander. Man lässt ihn, der an der Moral der Protagonisten zweifelt, aber dennoch in den Wirbel der Liebeleien gezogen wird, den hineingemogelten Georg-Kreisler-Klassiker „Wien ohne Wiener“ wie einen Stoßseufzer interpretieren. Überhaupt sind alle Charaktere so herzzerreißend detailverliebt ausgearbeitet: da ist die Gräfin Gabriele (Natalija Cantrak), die selbstbewusst die „Wiener Moral“ neu definiert, der Diener Josef (Tobias Zepernick), der sich durch die Szenerie laviert, bis er merkt, dass seine Freundin Pepi (Katharina Kühn) in den Sog aus fürstlichem Begehren gezogen wird. Die wiederum ist eher eine Berliner Kodderschnauze denn eine „Probiermamsel“ - also ein Model. Es ist einfach köstlich zu beobachten, wie sich die Charaktere immer tiefer in den Klebnetzen der Verwicklungen verfangen, zu denen jeder seinen Teil beiträgt. Bis zum unausweichlichen Showdown – köstlichste Sommerunterhaltung! Großstadtflair, für die Provinz zum Schmunzeln inszeniert. Musikalisch auf sehr ordentlichem Niveau und inhaltlich trotz „leichter Unterhaltung“ anspruchsvoll umgesetzt.
Das Gemäuer – so morbide wie das Stück – trägt diesmal ebenfalls bestens zum Gelingen bei. Dass bei einsetzendem Starkregen einige Zuschauer auf die wenigen freien Randplätze wechseln mussten, weil das Dach undicht ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Einfach nur schade, dass mit Cantrak, Zepernick und Joula (nicht zu vergessen Lena Langenbacher, die diesmal nicht mit von der Partie war), mehr als die Hälfte der Musiktheatersolisten zum Ende der Saison das Ensemble verlassen. An kleinen Theatern wachsen einem die SängerInnen anders ans Herz, als das wohl in den großen Kultur-Metropolen ist. Alles Gute auch auf diesem Wege von mir. Und sicher hört man sich irgendwann wieder – vielleicht sogar so wie mit „Pepi“ Katharina Kühn, die in Rostock von 2016 – 2020 fest im Team war.
Aber was für ein fulminanter Abschied am 27. Juni 2024 in der Rostocker Werfthalle 207!
WIENER BLUT - Volkstheater Rostock - alle Termine, Karten - Link HIER!
Musikalische Leitung - Eduardo Browne Salinas
Inszenierung - Geertje Boeden
Ausstattung - Sarah Antonia Rung
Choreografie - Annika Dickel
Choreinstudierung - Csaba Grünfelder
Dramaturgie - Stephan Knies
Zedlau - Adam Sánchez
Gabriele - Natalija Cantrak
Josef - Tobias Zepernick
Pepi - Katharina Kühn
Ypsheim - Ethan Daniel Freeman
Franzi - Julia Ebert
Kagler - Jussi Juola
Tänzer:innen der Tanzcompagnie
Almog Adler, Norikazu Aoki, Martina Martín, Flurin Stocker
Opernchor des Volkstheaters, Norddeutsche Philharmonie Rostock
TERMINE:
Samstag, 13. Juli 2024 um 19:30 Uhr / Volkstheater Rostock – Halle 207
Sonntag, 14. Juli 2024 um 18:00 Uhr / Volkstheater Rostock – Halle 207
KARTEN gibt es an der Vorverkaufskasse des Volkstheaters in der Doberaner Str. 134-135 (Telefon: 0381-381 4700), an der Abendkasse und im Internet: www.volkstheater-rostock.de.