Rostock, Volkstheater Rostock, Peer Gynt - Henrik Ibsen, Edvard Grieg, IOCO Kritik, 13.04.2019
Peer Gynt - Schauspiel Henrik Ibsen - Musik Edvard Grieg
- Die Suche nach dem Ich - In permanenter Reibung an der Umwelt -
von Thomas Kunzmann
Schauspiel auf der großen Bühne – funktioniert das überhaupt noch? In den großen Kulturzentren des Landes vielleicht, aber in Rostock? In den letzten Jahren waren allenfalls die Premieren passabel verkauft. Für den Theaterneubau in der Hansestadt gab es schon mal einen Plan mit zwei Bühnen, eine kleinere für das Schauspiel und Tanztheater, eine große für die regelmäßig ausverkauften Philharmonischen Konzerte und Musiktheaterproduktionen. Letztere dank ansprechender Inszenierungen bekannter Kassenschlager neuerdings auch wieder gut ausgelastet. Und so war es wohl folgerichtig, ein spartenübergreifendes Stück zu wählen, das die Leistungsfähigkeit des kleinen Ensembles unter Beweis stellen kann: ein Titel, der zieht, mit Musik, die jedem ein Begriff ist und somit das Schauspielpublikum mit den Konzertgängern zu verbinden vermag.
Ein Dutzend Mal ist Peer Gynt, von Henrik Ibsen 1867 nach norwegischen Feenmärchen geschaffen, verfilmt worden. Große Namen von Ingmar Bergman über Peter Stein, Peter Zadek, Claus Peymann bis Robert Wilson haben diesen Henrik Ibsen inszeniert. Seltener ist mittlerweile die Kombination mit Edvard Griegs Musik zu sehen.
Ibsens Werk, ursprünglich nicht für die Bühne geschaffen, ist reich an philosophischen und psychologischen Leckerbissen und kann gut und gern fünf Stunden dauern. In Rostock wird das Stück auf reichlich drei Stunden eingedampft, ohne an Wirkung zu verlieren – im Gegenteil! Die Kondensierung auf das Wesentliche macht den an sich ziemlich spröden Happen genießbar.
Im zeitlos schlichten Bühnenraum führt Regisseurin Konstanze Lauterbach straff durch den Text und konzentriert sich auf Gynts Suche nach dem eigenen Ich, indem sie ihn sich permanent an der „Gesellschaft“ reiben lässt. Der Einzelne im Ganzen, gegen das Ganze. Gynt, meist im Rahmen der Legalität, aber ständig einige Schritte jenseits der Moralvorstellung sowohl damaliger, als auch heutiger Zeit, beginnt eher als kindlich versponnener Dorfjunge denn als Phantast, bedenkt nie die Konsequenzen seines Handelns, hat aber auch nicht gelernt hat, für seine Taten einzustehen. Und so wird er immer ein Getriebener sein, jagt sich selbst von Abenteuer zu Abenteuer. Der Held seines eigenen Universums, allerdings ohne die Achtung, die er glaubt zu verdienen, die er aber auch niemandem zu geben in der Lage ist. Ebenso (und folgerichtig) ergeht es ihm mit der Liebe, die er zwar sucht, jedoch selbst nicht zu empfinden vermag.
Bernd Färber verkörpert Peer Gynt nicht selbstsüchtig, egozentrisch oder gar böswillig, eher unbedarft-infantil, sodass man wünscht, jemand nähme ihn in den Arm, um ihm ein liebevolles „Mensch Junge, sei doch mal nett zu jemandem und alles wird gut!“ zuzuraunen. Aber weder Aase (Sandra-Uma Schmitz) - als Mutter überfordert - schafft das, noch findet Solveig den Zugang. Vaterlos, ohne wirksam helfende Hand, bleibt Peer auf sich selbst gestellt. Ohne Teil der Gesellschaft zu sein, ohne Wurzeln, zwar mit einem Ziel, „Kaiser zu werden“, bei dem man sich letztlich fragt – ‚Wozu eigentlich?’ – scheitert seine Suche nach seinen Lebenskoordinaten, seinem Platz in der Gesellschaft, seinem Ich, bereits im Ansatz.
Spannend hier die Besetzung des „Krummen“ mit dem späteren „alten“ Gynt, als wolle er sich selbst, aus der Zukunft kommend, den Weg zu sich selbst weisen. Und was tut er? Er orakelt hilflos über Umwege, dass der kürzestete Weg zwischen zwei Punkten aufgrund von Hindernissen eine Kurve ist und stellt sich damit selbst vor weitere Rätsel.
Nach der Pause: Gynt ist in die Jahre gekommen, war erfolgreicher Geschäftsmann in Amerika – und ist noch immer, jetzt allerdings viel intensiver, auf der Suche nach sich selbst. Oliver Breite übernimmt diesen neuen alten Gynt, grüblerisch bis selbstzerfleischend mit eindringlicher Intensität, ohne zum Kern seines Problems zu gelangen, was sich im zentralen Zwiebel-Monolog (mit echter Zwiebel) zuspitzt. Erst in der alten Heimat soll er seine Erlösung finden. Nicht als Ziel einer langen Suche, sondern wieder eine Flucht, diesmal vor den Knopfgießern, die Peer einschmelzen wollen, um aus ihm eine für die Gesellschaft taugliche Figur zu gießen. Und so gerät die Rückkehr zu Solveig weniger zur finalen Liebesentscheidung, denn zu einer Suche nach Trost und Rettung. Auch hier wieder Solveig interessant besetzt mit Sandra-Uma Schmitz, der Mutter Gynts aus dem ersten Teil. Solveig als Mutterersatzfigur, was der Text des Wiegenliedes stützt: „Schlaf denn, teuerster Junge mein! Ich wiege Dich und ich wache.“
In atemberaubendem Tempo, pochend wie nervöser Herzschlag, reiht sich nahtlos Szene an Szene. Wohltuend entschleunigend, nahezu konterkarierend hingegen fügt sich Edvard Griegs sinfonische Dichtung ein und bietet Momente der Besinnung. Martin Hannus, seit Saisonbeginn erster Kapellmeister in Rostock, verzichtet auf übermäßiges Pathos und lässt die Norddeutsche Philharmonie klar und durchsichtig aufspielen. Lediglich die „Halle des Bergkönigs“ gerät in Kombination mit dem Chor etwas muffig. Noch im Konzert in der letzten Saison – da allerdings in der akustisch deutlich besseren Werfthalle – war es gerade dieses Stück, das in seiner rhythmisch-extatischen Wucht im besonderen Maße die Vorfreude auf diese Premiere anheizte.
Neben den beiden Peer Gynts glänzt Ulrich K. Müller als besorgter Vater Solveigs, Ulf Perthel als schweinsnasiger Trollkönig und Frank Buchwald in seiner Rolle als Vater Moen, Typ Ekel-Alfred, sowie Sandra-Uma Schmitz als Aase und alte Solveig. Judith Österreicher singt sich mit kristallklarem, leicht dramatischem Sopran als Solveig nach Marzelline (Fidelio) und Adina/Gianetta (Der Liebestrank) noch tiefer in die Herzen des Publikums. Die Vorstellung endet mit dem Wiegenlied, das ein hochkonzentriertes Publikum einige Sekunden ausklingen lässt, ehe sich ein unglaublicher Applaus Bahn bricht.
Ein außergewöhnlicher Abend, eine großartige Leistung Aller, die so eng verzahnt interagieren, dass wohl nur die regelmäßigen Besucher merken, wer welcher Sparte zugehörig ist. Ein anspruchsvolles Stück, das viele Gefahren birgt, nicht nur „geschafft“, sondern mit Bravour gemeistert. Rostocker! Hier könntet ihr einmal mehr stolz auf euer Theater sein und wer nicht in der Nähe ist – DAS ist ein Grund, die Hansestadt Rostock zu besuchen. Einige scheinen es bereits zu ahnen, die zeitnahen Vorstellungen sind komplett ausgebucht. Und dieses Stück gehört einfach auf eine große Bühne!
Trotz der ungewöhnlichen Länge blieben viele Besucher bis spät nach Mitternacht auf der Premierenfeier und ließen den gelungenen Abend im Kreise der Darsteller und Musiker nachklingen, von denen einer noch ganz ordentlich nach Zwiebel roch.
Peer Gynt am Volkstheater Rostock, die weiteren Termine: 13.4.; 19.4.; 26.4.
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