Rostock, Volkstheater Rostock, Falstaff - Höhepunkt der Theatersaison, IOCO Kritik, 12.05.2016
Falstaff von Giuseppe Verdi
Schaurig humoriges einer 60er-Jahre-Küchenlandschaft
Als am 5. Oktober 1840, wenige Tage vor seinem 27. Geburtstag, die Uraufführung seiner komischen Oper Un giorno di regno so erfolglos war, dass das Stück umgehend vom Spielplan genommen werden musste, war Giuseppe Verdi kurz davor, das Komponieren aufzugeben. Gut, dass er es nicht tat. Doch in den 1870er Jahren, nach seiner Aida, galt er trotz vieler Erfolge in Italien als Wagner-Epigone, was ihm wiederum für ein Jahrzehnt das Komponieren verleidete. Erst der Texter, Komponist und Übersetzer Arrigo Boito, den er nach einem heimlichen Lohengrin -Besuch kennengelernt hatte, verhalf Verdi mit der Überarbeitung seines Simon Boccanegra sowie dem Libretto zu Otello zu neuem Selbstbewusstsein. Und so mag es nicht verwundern, dass sich der 80-Jährige, 53 Jahre nach dem Misserfolg seiner Opera buffa wieder an eine Komödie wagt, den Falstaff nach William Shakespeare. Von Thomas Kunzmann
Bedrohliches Gesurr hinter dem dunklen Vorhang des Rostocker Volkstheaters verheißt jedoch erst einmal Schauriges. Wir befinden uns in einer 60er-Jahre-Küchenlandschaft, in der geschlachtete Hühnchen von der Decke hängen, an denen das Auge nach den hörbaren Schmeißfliegen Ausschau hält. Leicht dezentral eine große Kücheninsel mit einem riesigen Kochtopf. Darin rührt ein Mädchen mit verstockter Miene die Zutaten für die Handlung ein. Diesem Topf entsteigen im Laufe des Abends, wie der Büchse der Pandora, die handelnden Personen und verschwinden auch wieder darin. Mrs. Alice Ford mit Tochter und Freundinnen wirken wie die Hexen von Eastwick und würden dem Tunichtgut auch gleich mit dem Jagdgewehr den Garaus machen. Überhaupt finden sich einige, immer unaufdringliche, cineastische Zitate von der Adams Family bis hin zu Magnolia.
„Es geht in unserem Konzept vor allem um Gesellschaftskritik, um die falsche Doppelmoral. Unser Falstaff spielt in der Küche des Lebens, in der das Schicksal gebraut wird. Das Mädchen ist sozusagen der Wirt der Vorhölle, eine Lilith. In jedem von uns stecken die Todsünden, doch nur Falstaff steht zu Ihnen, lebt sie, und ist bereit, diese (in Form des Bauches) für einen Weg in ein neues Bewusstsein abzulegen“, sagt Anja Nicklich.
Der mit einer für Opern ungewohnten Leichtigkeit eingearbeitete Slapstick verblüfft im Minutentakt, ohne jemals platt oder auf Effekt heischend zu wirken. Sogar das Wasser spritzt tief in den Bühnenraum, wenn Falstaff mit der Wäsche in den Bach entsorgt wird. Das kleine Mädchen, die Handlung lange vorbereitend und vorantreibend, kann sich im dritten Akt zurücklehnen den Intrigen ihren Lauf lassen.
Das Spiel der Charaktere verzichtet auf großen Operngestus zugunsten immerwährender Interaktivität der Personen. Trotz der optischen Verfremdung bleibt auf surreale Weise die Handlung jederzeit dicht am Text.
Neben einem überragenden Daniel Henriks als Falstaff (Bild oben), der das Publikum mit ungelenkem Charme und pausenlosem Spielwitz ebenso in Atem hält wie mit seinem flexiblen Bariton, brilliert absolut ebenbürtig Monika Rebholz als Alice Ford. Garrie Davislim als Fenton und Theresa Grabner als Nannetta beweisen erneut ihr großartiges Niveau. Die „Hochzeitsreise“ führt Theresa Grabner nach diesem Falstaff weg aus Rostock – ein schmerzlicher Verlust für das Publikum des Volkstheaters. In unzähligen Vorstellungen haben sie sich in das Herz der Besucher gesungen und das Gesicht des hiesigen Musiktheaters maßgeblich geprägt. Der aus dem Maskenball in Rostock bereits bekannte Johan Hyunbong Choi gibt einen stimmgewaltigen, eifersüchtigen Ford.
Robin Engelen am Pult lässt die Norddeutsche Philharmonie facettenreich aufspielen und deckt die Sänger trotz schwungvoller Emotionen niemals zu.
Selten ist sich heutzutage das Publikum so einig ob einer gelungenen Regieleistung. Und so steigert sich der begeisterte Schlussapplaus für die Künstler nochmals, als die Regisseurin Anja Nicklich (sonst u.a. Semperoper, Theater Koblenz) mit ihrer Ausstatterin Antonia Mautner Markhof die Bühne betritt. Von den wie Schauspielern geführten Solisten bis hin zur ausgefeilten Detailarbeit mit dem Chor lässt diese Arbeit keine Wünsche offen.
Fazit: Absoluter Höhepunkt der Saison 2015/16 des Musiktheaters am Volkstheater Rostock! Glückwunsch! IOCO / Thomas Kunzmann / 10.05.2016
Falstaffim Volkstheater Rostock: Weitere Vorstellungen 13.5.2016; 21.05.2016; 11.06.2016; 17.06.2016---| IOCO Kritik Volkstheater Rostock |---