Rostock, Volkstheater Rostock, Die Schändung der Lukrezia - Benjamin Britten, Kritik, 28.10.2020
DIE SCHÄNDUNG DER LUKREZIA - Benjamin Britten
- Britten, der Pazifist zeigt - Moral ist das erste Opfer im Krieg -
von Thomas Kunzmann
Rostock macht von sich Reden. Unter der Ägide von Marcus Bosch, seit der Spielzeit 20/21 Chefdirigent der Norddeutschen Philharmonie, war der Rostocker Klangkörper der erste in Deutschland, der in Abstimmung mit allen notwendigen Gesundheitsbehörden und in Zusammenarbeit mit Centogene in voller Besetzung reguläre philharmonische Konzerte aufführen konnte. Was auf der Bühne möglich war – im Publikum ist es noch nicht. Wie überall in Deutschland müssen Plätze frei bleiben. Nur jede zweite Reihe wird besetzt, zwischen den Haushalten jeweils drei Plätze Abstand: bei 500 Sitzen im Haus und drei Konzerten pro Turnus gibt es nur Karten für insgesamt ca. 400 Gäste … und das Haus hat etwa 800 Konzert-Abonnenten. Rostock hat eine salomonische Entscheidung getroffen: alle Abonnements werden für die aktuelle Saison ausgesetzt, aber es gibt für diese Gäste ein Vorkaufsrecht. Zudem werden Haupt- und Generalproben ebenfalls zum Kauf angeboten. Ein Konzept, das aufgeht. Gäste, denen trotz der ausgeklügelten Hygienekonzepte der Besuch erst einmal zu riskant erscheint und aktuell doch abwarten wollen, verlieren weder den Anspruch auf ihr Abonnement noch auf den daraus resultierenden Vorteilspreis. Zudem werden alle Besucher nach einer Vorstellung befragt, ob sie lieber mit reduzierter Zuschauerzahl ohne Maske oder mit Maske während der Vorstellung und mehr Publikum einverstanden sind – die Begeisterung für die bereits stattgefundenen Vorstellungen scheint so groß, dass ein Großteil des Publikums sich für die Maske und damit für die Chance, dass mehr Gäste die exzellenten Vorstellungen erleben können, zu entscheiden scheint.
Saisonauftakt 2020. Geplant war ein fulminanter Einstieg mit Tosca, doch wie an vielen Theatern entschied man sich auch in Rostock, auf Opern mit kleinem oder gar keinen Chor zu setzen, Werke, die ohne Pause gespielt werden und eventuell sogar mit den eigenen Solisten besetzt werden können. Ohne großes Orchester. Das Sänger-Ensemble war bereits in der vergangenen Saison wieder aufgestockt worden, sodass nun zumindest 8 feste Solisten zur Verfügung stehen. Nicht viel, aber gegen die vergangenen Jahre ein großer Fortschritt. Womöglich wurde die Haben-Seite als Blaupause genutzt, um zu schauen, was man unter Einsatz aller Kräfte tatsächlich aufführen kann. Vor sehr vielen Jahren lief mal ein erfolgreicher Peter Grimes in Rostock, in größeren Abständen war Britten zumindest in den Philharmonischen Konzerten zu hören. Nun also Lukrezia. Die Kammeroper mit nur 13 Musikern entstand 1946 im Folgejahr von Brittens Durchbruch als Opernkomponist mit Peter Grimes (1945) und ist maßgeblich unter dem Eindruck des Krieges entstanden. Der bekennende Pazifist Britten, der sich sogar sein Kriegsdienstverweigerungsrecht gerichtlich erstritt, zeichnet in der anfänglich äußerst spröde wirkenden Musik dennoch fein ziselierte Figuren im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Position und Machtanspruch; und wie die Moral zum ersten Opfer des Krieges wird.
Im römischen Nachtlager, auf dem Feldzug gegen die Griechen, haben sich Tarquinius, der Sohn des etruskischen Regenten und seine römischen Generäle Collatinus und Junius versammelt. Junius’ Gattin nutzt dessen Abwesenheit für hedonistische Ausschweifungen, was ihn zum Gespött der Römer macht und Tarquinius ist bekannt für seine Eskapaden in den einschlägigen römischen Etablissements. Lediglich Collatinus’ Frau Lukrezia gilt als Maßstab für Treue. Ihre Unerreichbarkeit reizt Tarquinius. Von Junius angestachelt begibt sich der Thronfolger zu ihr. Da seine Verführungskünste scheitern, nimmt er sie mit Gewalt. Als Collatinus zurückkehrt und von den Geschehnissen erfährt, will er, um sich seine Liebe zu erhalten, ihr ihre Unschuld an den Geschehnissen beweisen. Doch Lukrezia kann und will mit dieser Schande nicht leben und begeht Selbstmord. Die Römer sind entrüstet, die Herrschaft der Etrusker wankt und Junius erhebt sich zum Kaiser einer neuen römischen Republik.
Gesungen wird auf Deutsch mit einer neuen Übersetzung. Die Konstellation mit dem Orchester im Bühnenhintergrund sorgt für ausgezeichnete Textverständlichkeit, die die Übertitel fast obsolet macht.
Gerahmt wird die Geschichte durch zwei Erzähler inhaltlich als auch optisch, oftmals von den Seiten gesungen. Nornenartig dokumentieren sie das Geschehen und projizieren sie auf die erst etwa 500 Jahre später stattfindende Christus-Geschichte: das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Anderen. Sie ziehen Parallelen und lassen im Zuschauer den Zeitstrahl weiterfolgen bis in die Gegenwart.
Das Bühnenbild von Wiebke Horn, bestehend aus monolithischen Quadern, diagonal gespalten, versetzt, gekippt – ein Sinnbild der darauf agierenden Figuren. Jeder der drei Männer eine Institution mit festem Platz in der Gesellschaft, durch den Krieg, die Frauen, den Eigenanspruch und die Beurteilung der Gesellschaft ins Wanken gebracht. Dazwischen ein toter Schwan - die verlorene Reinheit, ein ewig flackernder Monitor – die permanente „öffentliche Meinung“, ein Einkaufswagen – die Käuflichkeit. Ein Sandkasten für die Kriegsspiele, ein quadratisches Bretterpaneel als Bühne auf der Bühne für die Selbstdarstellung. Und in der Summe ein unvollständiges Schachbrett. Auf jedem Feld nur eine Person, wie Spielfiguren, die einer einmal angestoßenen Logik folgen.
Wie zeitgemäß ist die 2500 Jahre alte Geschichte auch heute noch? Nun, auch ohne blonde Fönfrisur und rote Krawatte drängt sich das me-too-Thema mit Politikern oder Künstlern auf, das Öffentlichmachen von Fehlleistungen und dass, ganz neben der verabscheuungswürdigen Tat, noch immer jemand daraus Kapital zu schlagen vermag - da scheint sich die Menschheit bis heute kaum weiterentwickelt zu haben. Lediglich die Konsequenzen sind nun andere, aber in der Kunst macht die Übertreibung eben anschaulich.
Václav Vallon, seit drei Jahren als lyrischer Tenor am Haus, und Alyona Rostovskaya, eigentlich als Tatjana für Eugen Onegin verpflichtet (eine der ersten Opern, die dem Corona-Lockdown zum Opfer fiel), bilden das kongeniale Erzähler-Duo. Sie, das moralische Regulativ, er, der durchaus von Macht und Möglichkeit Verführbare mit voyeuristisch-männlichem Blick auf die Geschichte. Wie er selbst mit dem Dolch im Sand sitzend über die Macht einer Waffe sinniert und von ihr zurück in die Realität geholt wird – nur ein Beispiel der vielen puzzleartigen Sinnfragen, die die Oper nicht nur an ihre Charaktere, sondern unterschwellig auch an das Publikum stellt. Stimmlich sind beide ein Genuss: ebenbürtig in Klangschönheit und Kraft führen sie traumwandlerisch sicher durch die Geschichte.
Jussi Joula als Collatinus ist gänzlich neu in Rostock und bisher ein weitgehend Unbekannter, NOCH! muss man sagen. Der sympathische Finne, dessen ausgleichendes Wesen zwischen den Streithähnen Tarquinius und Junius zu vermitteln sucht, könnte mit seinem balsamischen Bassbariton die geborstenen Monolithen wieder schweißen. Seine vornehmliche Stärke liegt eher im lyrischen Liedgesang, was er hier noch nicht ganz ausspielen konnte – dennoch fügt er dieser hochangespannten Situation eine so konterkarierend beruhigende Note bei, als wolle er mit einem einzigen, sonoren Einsatz die Gemüter herunterfahren.
James J. Kee ist Junius, der mit intrigantem Spott Tarquinius in seine Tat und damit ins Verderben führt. In seiner Schlussproklamation kann er seinen heldenhaften Tenor voll ausspielen. Geschmeidig und kraftvoll wie eine Wildkatze bewegt, schleicht, springt Grzegorz Sobczak als Prinz Tarquinius über die Bühne und strahlt mit der vielschichtigen Nutzung seiner baritonalen Kraft eine hypnotische Wirkung aus, die ihn niemals als rein böse, sondern immer auch als wild-verführerisch erscheinen lässt. Der universale Bariton, der sich seit seines 2014er Gianni Schicchi an der Hochschule für Musik und Theater in die Herzen der Rostocker sang, als Zar Peter in Lortzings Zar und Zimmermann ebenso überzeugte wie als Dandini in La Cenerentola oder als Belcore im Liebestrank, vermag es, der Rolle des Tarquinius nicht nur das verabscheuenswürdige Täterprofil zu verleihen. Ja, Lukrezia ist eine Herausforderung in seinem Beuteschema. Seine durch nichts zu entschuldigende Tat, ist sie nicht dennoch eine Folge seines ihm durch die Gesellschaft ermöglichten Lebensstils, seiner zur Herrschaft über alles und jeden, der gesellschaftlich verliehenen und für ihn selbstverständlichen Macht?
Katarzyna Wlodarczyks keusche Lukrezia lässt sowohl darstellerisch als auch stimmlich keine Wünsche offen. Von der warmherzigen Halbschlaf-Arie, das Betttuch, das auf der einen Seite sie, auf der anderen einen Marmor-Torso ihres Gatten umhüllt, bis zu den spitzen Tönen im Duett mit ihrem Bedränger kann sie binnen kürzester Zeit ihr umfangreiches Klangrepertoir präsentieren und bleibt in jeder Stimm(ungs)lage glaubhaft und im Spiel ausdrucksstark. Ihr zur Seite als biedere Amme Bianca, Takako Onodera.
Als Dauergast der letzten Jahre ist sie nun festes Ensemblemitglied. Den sonst nur so vor Spielwitz sprühenden Mezzo in der gebremst-altjüngferlichen Rolle zu erleben ist schon eine ungewöhnliche Erfahrung. Ihr gegenüber Lucia, Katharina Kühn: warum um alles in der Welt musste sie ausgerechnet in dem scheinbar einzigen römischen Haushalt eine Anstellung finden, in dem Sitte und Ordnung oberstes Gebot scheinen?
Martin Hannus erzeugt aus der Hinterbühne mit den lediglich 13 Musikern einen effektvollen Raumklang, der schnell vergessen lässt, dass das Werk lediglich als Kammeroper deklariert ist und bietet den Sängern im Vordergrund den nötigen Platz, sich zu entfalten. Britten als Komponist des 20. Jahrhunderts mag nicht das Harmoniebedürfnis des üblichen Klassik-Konsumenten befriedigen, aber wer sich darauf einlässt, wird seinen künstlerischen Horizont deutlich erweitern können. Und mit den Bildern dieser Inszenierung im Kopf kann man selbst die Musik mit völlig anderen Augen … hören.
Vermisst man die körperlichen Interaktionen auf der Bühne? Nein! Die Erbarmungslosigkeit steckt bereits tief im Libretto, in der lautmalerischen Musik, im intensiven Vortrag und entwickelt gerade durch das Fehlen von Berührungen eine so unglaubliche Wirkung, dass es keiner greifbaren Gewaltdarstellung bedarf, den Zuschauer in die Abgründe der (un)menschlichen Natur zu ziehen. Psychische Verletzungen überdauern die physischen.
Diese „kleine“ Oper scheint groß für Rostock und es bleibt zu hoffen, dass sie die Anerkennung erfährt, die ihr gebührt. Gemessen am Applaus des Premierenpublikums, der die geringe Verkaufsmöglichkeit unter Corona-Bedingungen mehr als ausglich, sollte sie sich allerdings wirklich zu einer Erfolgsproduktion entwickeln.
Besprochene Vorstellung: Premiere: vom 26.09.2020
----------------------------------------------
Musikalische Leitung - Martin Hannus, Inszenierung - Christian Poewe, Bühne & Kostüme - Wiebke Horn
Erzähler (Male Chorus) - Václav Vallon, Erzählerin (Female Chorus) - Alyona Rostovskaya
Collatinus - Jussi Juola, Junius - James J. Kee, Prinz Tarquinius - Grzegorz Sobczak, Lukrezia - Katarzyna Wlodarczyk, Bianca - Takako Onodera, Lucia - Katharina Kühn
Die Schändung der Lucrezia am Volkstheater Rostock; die weiteren Vorstellungen am 1.11.; 13.11.2020 und mehr
---| IOCO Kritik Volkstheater Rostock |---