Rostock, Volkstheater, ORPHEUS UND EURYDIKE - Chr. W. Gluck, IOCO

ORPHEUS UND EURIDIKE: In der Rostocker Auslegung verlagert Rainer Holzapfel das Geschehen in ein totalitäres Regime. Eurydice, Anführerin einer Protestbewegung, wird nach einer erfolgreichen Demonstration von der Staatspolizei (es könnte sowohl die Gestapo sein .....

Rostock, Volkstheater, ORPHEUS UND EURYDIKE - Chr. W. Gluck, IOCO
Volkstheater Rostock @ Dorit Gätjen

Oper von Christoph Willibald Gluck / Libretto von Ranieri de' Calzabigi / Spartenübergreifende Inszenierung mit dem Opernensemble und der Tanzcompagnie des Volkstheaters, dem Opernchor und der Norddeutschen Philharmonie Rostock; Premiere: 09.02.2024

von Thomas Kunzmann

Christoph Wllibald Gluck in Wien @ IOCO

Der Opheus-Mythos mag einer der am häufigsten vertonten sein: Monteverdi, Schütz, Rameau, Telemann, Haydn, Liszt, Offenbach, Krenek, Orff, Strawinski, Henze im klassischen, um nur einige zu nennen, ebenfalls Reinhard Mey, David Sylvian, Philip Glass, Arcade Fire oder Nick Cave – Protagonisten der modernen Popmusike - nahmen sich des Themas an: Der Sohn der Muse Kalliope und Apollon, dem Gott der Musik, der ihm eine Lyra schenkte, sang so betörend, dass er damit die Natur und sogar die Götter zwingen konnte. Ob er sich nun von den Frauen lossagte und sich gar der Knabenliebe zuwandte, wie Ovid es schrieb, oder weil er zwar den Musen nahestand, jedoch nicht Dionysos, dem Gott des Rausches: sein Tod wird nicht als natürlicher beschrieben. Seine Ehefrau, die Nymphe Eurydice, stirbt früh. In einigen Erzählungen wird sie auf der Flucht vor dem sie bedrängenden Aristaios von einer Schlange gebissen.

Orpheus, zu Tode betrübt, singt so herzzerreißend, dass ihm die Götter die Chance geben, Eurydice aus der Unterwelt, dem Hades, zu befreien. Der Hoheiten Bedingung: er darf sie nicht ansehen, bis beide das Tageslicht erreichen. Und wie er an dem Höllenhund Kerberus und sonstigen Gefahren vorbeikäme, wäre dabei ihm überlassen. Da er eh schon ernsthaft mit Selbstmordgedanken spielt, kann er letztlich darauf eingehen und es gelingt ihm tatsächlich, die Mächte der Finsternis einzulullen und Eurydice zu erreichen, um sie aus der Unterwelt zu führen. Weil er sie nicht eines Blickes würdigt, zweifelt Eurydice seine Liebe an und kurz vor Erreichen des Tageslichts wendet sich Orpheus ihr zu und er verliert sie ein zweites Mal.

Orpheus und Euridice hier Szenefoto @ Dorit Gätjen

Gluck mit seinem Librettisten Calzabigi hält sich weitgehend an die griechisch-mythologische Vorgabe, sie wählen allerdings einen positiven Ausgang. Als Orpheus sich darüber klar wird, selbst am zweiten Tod Eurydices Schuld zu haben und nicht länger leben will, schicken die Götter in letzter Sekunde Amor, der ihm verkündet, dass er genug gelitten habe und fortan mit seiner Gattin glücklich werden soll.

Ja mei, so schlüssig klingt das jetzt nicht, trotzdem, das Werk erhält sich – mit einigen Höhen, Tiefen, Korrekturen und Umschreibungen – jetzt schon ein knappes Vierteljahrtausend seinen Platz auf den Opernbühnen dieser Welt.

Ob nach all den Geschichts- und Geschichtenschreibern und Komponisten die Deutung des Rostocker Haus- und Hofregisseurs ebenfalls in den Annalen der Literatur Einzug erhält? In der hiesigen Auslegung verlagert Rainer Holzapfel das Geschehen in ein totalitäres Regime. Eurydice, Anführerin einer Protestbewegung gegen das bestehende System, wird nach einer erfolgreichen Demonstration von der Staatspolizei (es könnte sowohl die Gestapo oder die Stasi sein, allerdings ist ebenso die Geheimpolizei einer eventuell zukünftigen Regierung, der AFD? denkbar) verhaftet. Das wirkt zunächst so unwirklich und skurril, dass es an Terry Gilliams „Brazil“ erinnert. Dazu fehlt hier das zwingend schwarz-komische. Während sich die nun führerlose Protestbewegung selbst bedauert, sucht Orpheus den Weg, seine Angebetete zu befreien. Der „Staat“ gibt ihm via „Headhunter Amor“ die Chance, dass wenn er sich durch die Bürokratie (wieso erinnern mich die Frisuren der Staatsangestellten an John Carpenters „Das Dorf der Verdammten“?) zu kämpfen vermag, sei seinem Ansinnen stattgegeben (Anklänge an „Das Schloss“ oder „Vor dem Gesetz“ von Kafka – dabei ohne kafkaeske Groteske). Das gelingt dem Lautenschläger letztlich, gleichwohl scheitert er an seiner tiefskeptischen Gattin. Nach einer langen Reihe von Versuchen, ihr zu widerstehen, wendet er sich doch zu ihr um. Zack! – GestapoStasi wieder da und führt sie zurück. Von tiefer Schuld gequält sinnt Orpheus erneut über Selbstmord nach, doch Amor kommt mit dem Deal der „Götter“: „Wenn du ‚IM Orpheus‘ wirst, bekommst du Eurydice doch noch zurück“, Orpheus knickt ein.

Nun, die alten Griechen schrieben nun mal allegorische Geschichten, die problemlos in jede Zeit übertragen werden können - Aber nicht müssen!

Orpheus und Euridice hier Szenefoto @ Dorit Gätjen

Ich bin, weiß Go.. äääh … Zeus, kein Opernbesucher, der Merker-gleich nach Abweichungen vom Libretto sucht, um mit dem Finger drauf zu zeigen, denselben zu erheben und zu postulieren: „Das darf der Regisseur nicht“. Ich lasse mich voller Zuversicht auf jedes neue Opernabenteuer ein. Da darf der Prinz in den „Drei Orangen“ ein verwöhntes Geburtstagskind sein, Carmen als Vampir? Ich habe mich selten so gut amüsiert! Tannhäuser als abgewrackter Crossdresser? Fantastisch! – alles schräge Ideen, denen ich bereit war zu folgen, weil mir die Regie ein schlüssiges Konzept ausgebreitet und konsequent verfolgt hat. Allein, hier geht für mich etwas schief.

Zum einen ist es wohl die unablässige (N)Ostolagie, das 80er-Jahre-Revival, das sich wie ein roter Faden durch gefühlt schon zehn Spielzeiten zieht, die fehlende Zukunftsorientiertheit, das Suhlen in verklärten Erinnerungen, das dauernde Abrechnen mit der Vergangenheit mitunter von Leuten, die nicht einmal dabei waren. Ich bin Stasi/DDR-Bonzen/Ostalgie-müde geworden und mag nicht mehr in FDJ-Fahnen schwingende „wir hatten es doch eigentlich ganz gut“- und „Weißt du noch?“-Szenerien geschleppt werden. Ich will nach vorn schauen, ich will das neue Theater entstehen sehen, ich will Lösungsansätze für die uns erwartenden und bestehenden Probleme. Ich will eine intellektuelle Herausforderung, keine Bestandsaufnahme von vor über 30 Jahren. Da verliert für mich das Theater als Kondensations- und Projektionsfläche für Ideen, wenn es so rückwärtsgewandt bleibt. Und als Warnung für eine mögliche politische Entwicklung war es mir nicht stringent genug.

Zum anderen sind es die Logikdiskrepanzen, die oftmals bei unachtsamer Adaption eines Themas auftreten. Die Bürokraten des herrschenden Systems (als Ersatz für die Furien) legen Orpheus einen Vertrag vor, den dieser unterschreiben soll. Tut er aber nicht und sie lassen ihn trotzdem weiterziehen. Weil sie wissen, dass er sowieso scheitern wird? Möglich, freilich handeln derart faschistische Systeme nicht so. Orpheus besiegt sie nicht mit Musik, Liebe und Kunst, nicht mit Überzeugung oder einem Bild des besseren Menschen, er wurschtelt sich durch das System mit Hartnäckigkeit. Da hilft es nur bedingt, die deutschen Übertitel an das Gewollte anzupassen in der Hoffnung, das Publikum habe sich nicht mit der Handlung beschäftigt. Dass Orpheus Amors Kontrakt unterschreibt, ist ein klarer Verrat an seiner Frau.

Etwas an Glaubwürdigkeit würde das Stück für mich gewinnen, wenn man bei der Personenführung weniger auf Opernposen, denn auf natürlichere Bewegungsabläufe zumindest bei Orpheus und Euridice setzen würde. Und dagegen etwas mehr Synchronität bei den Chorbewegungen.

 Die Bühne von Christoph Gehre ist zeitlos schlicht bis spartanisch gehalten. Einfache Stahltische und -stühle, Neonlampen. Hin und wieder gleißendes Licht von der Seite oder aus dem Hintergrund. Amor und die Greifer der Staatsmacht (als immer gern gesehene Statisten wieder Hagen Dorn und Marco Geisler) tragen schwarze, lange Lackmäntel. Amor eher gouvernantenhaft. Und wenn die Kombination aus lachsfarbenen Röcken und Hosen zu türkisen Hemden und Blusen darstellen soll, dass sich die Beamten alles gefallen lassen, dann ist zumindest dies eindrucksvoll gelungen. Wirklich kleidsam sind die Kostüme nicht. Vielleicht ist das der Grund für die Protestbewegung?

 ….... aber wie sagt der Ossi so schön? „Es war ja nicht alles schlecht!“

Zuletzt im November 2016 gab es ein Mehrspartenprojekt unter maßgeblicher Beteiligung des Tanzensembles zu Barockmusik mit Händels Messias. Vor einem knappen Jahr stand mit Alcina wieder ein Werk dieser Epoche auf dem Spielplan, wurde jedoch aufgrund einiger Erkrankungen (und womöglich auch mangels Publikums) lediglich wenige Male aufgeführt und nicht in die aktuelle Saison übernommen.

Schon damals leitete Eduardo Browne Salinas die Norddeutsche Philharmonie glänzend durch die knapp dreistündige Partitur. Diesmal übernimmt er eine Doppelrolle als Dirigent und als ein Orpheus-Double mit Geige. Dafür heuer nur knapp zwei Stunden ohne Pause. Er tritt immer dann auf die Bühne, wenn Orpheus innerlich zerrissen eine Entscheidung treffen muss. Das hat nicht bloß eine tief poetische Komponente, es lockert das Werk auf, lässt Platz für Besinnung und Mitgefühl und gibt der Oper eine unerwartete Frische, ohne die Handlung zu zerreißen oder unnötige Pausen entstehen zu lassen. Sein stark auf die Sänger fokussiertes Dirigat lässt keine Wünsche offen. Einmal entwischt ihm der Chor, den er schnell wieder einzufangen vermag. Apropos Chor – eine deutliche Steigerung in musikalischer Synchronität ist möglicherweise dem neuen Chordirektor, Csaba Grünfelder, der aus Stralsund nach Rostock wechselte, zu verdanken.

Die Tanzcompagnie stellt weitere Orpheus / Eurydice-Konstellationen mit immer neuen Wunsch- und Traumszenarien, die am Ende an der Wirklichkeit scheitern. Diese Gesellschaft ist kein Ort für individuelle Entfaltungs-möglichkeiten, so sehr es sich unsere Protagonisten auch wünschen.

Die Solistinnen sorgen erneut für Genuss pur. Wie Ekaterina Aleksandrova sich als Orpheus gleich in der ersten Szene aus dem Klang des klagenden Chores herausschält und unmissverständlich die Führung übernimmt, definiert das erste Highlight des Abends und sie hält die Qualität bis zum letzten Ton. Hier wandelt sich stimmlich Trauer in Entschlossenheit, Liebe in Leidenschaft und sie kann die großen Gefühle über den ganzen Abend auf hohem Niveau tragen. Lena Langenbacher als Eurydice singt mit klarem, schnörkellosem Sopran und zieht das Publikum vom ersten Ton an in ihren Bann – kein Wunder, dass Orpheus sie nicht aufgeben kann. Die beiden waren schon als Hänsel und Gretel ein perfektes Duo, was sie ebenso in diesem Genre eindrucksvoll unterstreichen können. Leila Schütz‘ Amor wirkt – entgegen der eigentlich zynischen Rollenanlage – eine Idee zu lieblich. Lässt man die Regieidee außen vor, passt die Stimme wieder. Die junge, vielversprechende Sopranistin, die erst im letzten Jahr ihr Gesangsstudium abschloss, überzeugte bereits als Tau- und Sandmännchen in Rostock.  

Das Publikum nahm die Premiere mit langanhaltendem Beifall und stehenden Ovationen auf. Viele davon schienen explizit wegen des Einsatzes der TänzerInnen auf der großen Bühne gekommen zu sein, wobei sich der Abend ebenso für kritisches Konzert- und Opernpublikum empfiehlt. Bei der anschließenden Premierenfeier gab es hitzige Diskussionen. Fazit: über die Inszenierung lässt sich trefflich streiten – über die musikalische Qualität muss man das nicht!

Musikalische Leitung und Violine - Eduardo Browne Salinas, Inszenierung - Rainer Holzapfel, Choreografie - Daniel Morales Pérez, Bühne - Christoph Gehre, Kostüme - Franziska Just, Dramaturgie - Stephan Knies, Choreinstudierung - Alexander Einarsson, Csaba Grünfelder

 Besetzung: Orfeo - Ekaterina Aleksandrova, Euridice - Lena Langenbacher, Amor - Leila Schütz, Almog Adler, Norikazu Aoki, Gianmaria Girotto, Alan González Bravo, Corinne Kälin, Ron Estrea Kaslasy, Martina Martín, Flurin Stocker, Statisterie. Hagen Dorn, Marco Geisler

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