Rostock, Volkstheater, LA BOHÈME - Giacomo Puccini, IOCO Kritik
LA BOHÈME - Rostock: Eine längere Kurzkritik - ....Das Publikum – davon einige, wie ich, nicht zum ersten Mal in der Inszenierung, ist außer sich und feiert den Nachmittag völlig zu Recht frenetisch.
Oper in vier Bildern von Giacomo Puccini / Libretto Giuseppe Giacosa und Luigi Illica / Nach Szenen aus Henri Murgers Roman "Vie de Bohème" - In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
von Thomas Kunzmann
Eine längere Kurzkritik - vorletzte Vorstellung am 21.01.2024, Premiere 01.10.2022
Retrospektive - kein Anspruch auf Vollständigkeit, verbunden mit einer Entschuldigung an Marcello (Grzegorz Sobczak - gewohnt tolle Leistung, eigentlich deutlich über dem Erwarteten!), Jaehwan Shim als Schaunard, überzeugend! Colline aka Jussi Juola – den ich jetzt schon vermisse, obwohl er noch bis zum Ende der Spielzeit bleibt und an Benoî/Zöllner Olaf Lemme, jetzt im Chor mit Soloverpflichtung, damals die baritonale Allzweckwaffe des Volkstheaters: keiner kann SOOO ein Kostüm so stilvoll tragen und dennoch überzeugend singen – ich wette, er sagt sich dabei „Hey, vor 10 Jahren war ich Schaunard – und ich war richtig gut!“
War er auch auch, aber der Dirigent war es nicht.
Aus der Premiere dieser Produktion vor über einem Jahr (selten laufen Inszenierungen in Rostock so lange wie diese Bohème) ging ich mit sehr gemischten Gefühlen. Das Dirigat empfand ich als eher durchschnittlich, gesanglich stachen für mich lediglich Musetta, Colline und Marcello hervor und die Regie empfand ich als ideenlos bis unlogisch: Dass Mimí vorm Klopfen an Rodolfos Türe die Kerze ausbläst, ist als Regie-Idee so ausgeleiert, dass ich schon vor der Premiere witzelte, es würde dann „vier zu vier“ stehen über alle Inszenierungen, die ich gesehen habe. Lediglich Schwerin blieb da mit ihrer letztjährigen Produktion außen vor: Mimí ließ sich Feuer für ihre Zigarette geben.
Mimí und Rodolfo schauen in Rostock nach oben, als sie auf der Treppe mit den anderen Bohemiennes sprechen – leben die in einer Kellerwohnung? Und woher kam dann Mimí? Zweites Untergeschoss? Der vierte Aufzug spielt im Freien – sind die Freunde letztlich doch aus der Wohnung geflogen? Und – was mich am meisten stört, liegt bereits im Libretto: wer je einen geliebten Menschen auf seinem letzten Weg begleitet hat, der weiß, dass man nicht von dessen Seite weicht. Man schaut ihn vielleicht nicht jede Sekunde an, aber man lässt seine Hand nicht los oder stellt sich irgendwo in eine Ecke. Das kann man sich nur ausdenken, wenn man es noch nicht erlebt hat. PUNKT. Und eine Regie, eine Dramaturgie, die das unhinterfragt übernimmt, hat sich auch keine Gedanken drüber gemacht. Dennoch bleibt La Bohème auch in Rostock so etwas wie die letzte Bastion wider das Regie-Theater und die Geschichte wird auch hier nicht neu erfunden.
Normalerweise sitze ich gern im Rang, weiß der Kuckuck, was mich geritten hat, diesmal in der vordersten Reihe rechts Platz zu nehmen. Aber die Entscheidung war absolut richtig! Manchmal hört man zu nahe an der Bühne in Rostock jede einzelne Geige, der Klang mischt sich nicht. Doch diesmal war alles anders! Am Pult Eduardo Browne Salinas. Ich berichtete bereits bei IOCO über seine Carmen (September), und Hänsel und Gretel (November 2023). Etwa zeitgleich extrahierte er die einzelnen Stimmen aus einer Partitur des rumänischen Komponisten Paul Constantinescu für das 4. Philharmonische Konzert, das unter Marcus Bosch im Dezember erklang, und er selbst saß dann mit seiner Geige – ganz bescheiden, aber voller Spielfreude – als Aushilfe am zweiten Pult.
Ein großer Abend, von ihm geschaffen, war ihm dann mit der zweiten Wiederaufnahmevorstellung der Bohème gelungen. Und das war sicher kein leichter Job: Lena Langenbacher, die Musetta aus dem Ensemble, musste krankheitsbedingt an Karola Schmid übergeben, die allerdings früher auch schon mal eingesprungen war. Auf der Liste der Abendbesetzung war sie noch gar nicht aufgeführt, obwohl die Umbesetzung schon weit mehr als 24 Stunden feststand. Leute! Datenbank aktualisieren, Druckerknöpfchen drücken. Es gibt Theaterbesucher, die gucken auf die Besetzungsliste! Erspart DRAMAtischen Auftritt des Abendspielleiters. Oh, das war ja sogar der leitende DRAMAturg?!
Und mit dem aus Lübeck kommenden Rodolfo-Autodidakten Gustavo Eda in seinem Rollendebut gab es nur zwei Proben, obwohl dessen Einsatz schon drei Monate feststand. Sein erster Auftritt mit dem Maler Marcello und folgend mit Colline und Schaunard wirkte auch eher verhalten. Doch dann, wirklich positiv überraschend, drehte er im Duett mit Mimí auf und entfaltete das volle Potenzial seiner Stimme: lyrisch gefühlvoll, mit traumwandlerischer Sicherheit in den Höhen ohne zu forcieren, und hält die Qualität über die gesamte Oper. Lediglich seinen „Mimí“-Schrei am Ende hätte ich mir etwas intensiv-verzweifelter gewünscht. Karola Schmid vertritt Langenbacher würdig, bringt Geschmeidigkeit und Klangfülle mit, auch wenn sie an die expressionistische Spielfreude Langenbachers in der pikant-witzigen Hass-Liebe zu Marcello nicht ganz heranreicht, was einem allerdings nur im direkten Vergleich auffällt.
Browne Salinas, von meiner Position aus besonders schön zu erleben, dirigiert nicht das Orchester. Von der Norddeutschen Philharmonie weiß er, dass sie ihm folgt – sein Blick ist weder auf die Musiker, noch die Partitur gerichtet. Er singt, tonlos, jede Note mit den Protagonisten mit, was jede Souflage obsolet macht. Er konzentriert sich vollends auf die „Problemzonen“: neue Sänger und Chor, und schafft, indem er sie kontrolliert, die Klangeinheit und -reinheit, wie man sie sich nur wünschen kann, erzeugt Gänsehautmomente am laufenden Band genau so, wie man sie sich von einer - nein! Vielleicht DER - Puccini-Oper erhofft.
WAS FÜR EIN GRANDIOSER NACHMITTAG!
Vergessen sind die „Ungereimtheiten“, VIVA LA MUSICA! Das Publikum – davon einige, wie ich, nicht zum ersten Mal in der Inszenierung, ist außer sich und feiert den Nachmittag völlig zu Recht frenetisch. Leider gibt es nur noch eine Chance und ich wünsche JEDEM, dass er einen ebenso erfüllenden, leidenschaftlichen und energetischen Abend erlebt, wie er mir widerfuhr.
Musikalische Leitung | Eduardo Browne Salinas
Inszenierung | Cusch Jung
Dramaturgie und Leitung der Wiederaufnahme | Stephan Knies
Bühne und Kostüme | Karin Fritz
Dramaturgie | Jens Ponath
Choreinstudierung | Alexander Einarsson
Mimí | Natalija Cantrak
Rodolfo | Gustavo Eda
Marcello | Grzegorz Sobczak
Musetta |Karola Sophia Schmid
Schaunard | Jaehwan Shim
Colline | Jussi Juola
Benoî / Zöllner | Olaf Lemme
Alcindoro | Nils Pille
Parpignol | Edwin Cotton
Sergeant | José Galissa
Kinderchor der Rostocker Singakademie e.V., Mitglieder des Jugendchores der Rostocker Singakademie e.V., Statisterie, Norddeutsche Philharmonie Rostock