Rostock, Hochschule für Musik und Theater, Das Rheingold - Richard Wagner, IOCO Kritik, 05.11.2021
Das Rheingold - Richard Wagner
- HMT Studenten erklimmen Walhall -
von Thomas Kunzmann
Vierzehn Jahre ist es her, dass man in der Hansestadt Rostock eine vollständige Wagner-Oper auf der Bühne erleben konnte. Das einstige „Norddeutsche Bayreuth“, in dessen Chroniken gut doppelt so viele Wagnervorstellungen pro Jahr standen wie im oberfränkischen Mekka der Jünger des Herrn, hat die lange Pause mit einigen in Konzerte integrierte Werke des Meisters überbrückt. Darunter auch auffällige Werke, wie der „Tristan XS“ oder die „Sieben symphonischen Fragmente aus Parsifal“ von Peter Ruzicka.
Und jetzt der Vorabend des „Rings“ – doch halt, es ist nicht das Volkstheater Rostock – es ist die Hochschule für Musik und Theater, Rostock! Eine Musikhochschule, die sich an das umfangreichste, das vielschichtigste Werk des bedeutendsten deutschen Komponisten wagt? Die Opern, für die Begriffe wie „Leitmotiv“ und „Heldentenor“ in der Musiksprache Einlass fanden? Gereifte, ausdrucksstarke, kräftige Stimmen, die mit einem Orchester, nicht selten mit einhundert Musikern besetzt, verschmelzen? Jahre dauert es bei Sängern, dahin zu wachsen. Wie, bitteschön, sollen das Studenten überhaupt bewältigen können? Und welche Hochschule hätte das je gewagt?
Nun ist die HMT Rostock (leider fast nur den Einheimischen) durchaus für ihre ansprechenden Produktionen bekannt: Figaro, Dido and Aeneas, Der Heiratswechsel, Rinaldo, Gianni Schicchi und viele mehr. Vielleicht liegt es aber auch am neuen Rektor, Prof. Dr. Reinhard Schäfertöns, dass man so mutig ein solches Projekt ansteuerte - Rostock tat es jedenfalls. Und das ist nicht unerheblich dem im Programmheft völlig unterschlagenen Dozenten Klaus Häger, Sänger an der Lindenoper, zu verdanken, der quasi als Mastermind im Hintergrund die Fäden zog. Dabei kamen dennoch der Produktion wohl mehrere Faktoren zugute.
Zum einen natürlich, dass die HMT über eine Studentenschaft verfügt, die bereits mit einem sehr hohen sängerischem Niveau das Studium antritt. Und so ist man in der Lage, fast alle Partien doppelt zu besetzen und somit alle zwei Tage spielen zu können. Hinzu kommt Horst Kupich (ehemals Stralsund, IOCO berichtete über seinen Tannhäuser, demnächst wird er in Zwickau agieren) als Regisseur mit einem äußerst detailverliebten Konzept für diese Oper. Zum anderen wird oder wurde pandemiebedingt in letzter Zeit viel mit reduziertem Orchester gespielt – selbst Wiesbaden hat den Laufenberg-Ring in einer Fassung für zwei Klaviere wieder aufgenommen. Andere, wie Essen, begnügten sich statt mit der ganzen Oper lieber mit Loriots Ring an einem Abend. Den „Ring ohne Worte“ gab es allerdings auch schon an der HMT. Selbst die Deutsche Oper Berlin übte den Restart mit einem arg reduziertem Rheingold auf dem Parkdeck. Dann ist das wohl auch für eine Ausbildungsstätte legitim. Und man hat mit Christian Hammer einen unglaublichen Musiker und Komponisten, der binnen kürzester Frist eine eigene Bearbeitung für zwei Klaviere schuf. Kaum ein Theater wäre in der Lage, so eine Idee in sechs Monaten zu stemmen. Die HMT tat es einfach. Allein das schon ist sensationell.
Und weil man eben eine Hochschule ist, weder auf kommerziellen Erfolg noch auf Lobeshymnen der Gazetten angewiesen ist, war man „frei im Wollen, frei im thun“ - frei im Experimentieren. Das tat man hier schon immer und es war bisher auch nur selten schiefgegangen (eine spartenübergreifende Eigenproduktion Das Schloss nach Kafka war ein ziemlicher Dämpfer nach einer Vielzahl guter Produktionen und auch Die Zauberflöte mit Hubschrauber-Invasion schoss deutlich übers Ziel hinaus). Allerdings muss man auch sagen, dass der geneigte Zuschauer woanders oftmals für ein Vielfaches des Eintrittspreises auch nur einen Bruchteil an Qualität geliefert bekommt, kurz: man kann es jederzeit riskieren und die „Nietenquote“ ist überschaubar.
Nun also Das Rheingold – Premiere 14.10.2021: allein die Ankündigung versetzte Rostocker Wagnerianer in Verzücken, oft allerdings auch verbunden mit der Nornen-Zeile „Weißt du, wie das wird?“
Die Bühne für das Vorspiel, die Rheintöchter-Szene und die Götter ist als Leiterplatte eines Rechners gestaltet, im Graben davor sitzen die Pianisten, die in einem Computerspiel gegeneinander antreten mit ihren beiden Figuren: Alberich vs. Loge.Die kämpfen sich von Level zu Level durch die Oper. Vorspiel und Szenenübergänge kommen aus der Konserve, etwas blechern verfremdet, passend zu einer offensichtlich bewusst ruckeligen Animation, die die Szenenwechsel visualisieren. Next Level „auf Bergeshöh’n“, „nach Nibelheim“ etc. Die musikalische Einspielung geht nahtlos ins Klavierspiel über, das so feinfühlig und in den leitmotivischen Takten besonders durchsichtig ist, dass jedes noch so kleine Motiv deutlich herausgearbeitet wird – man meint sich in einem Einführungsvortrag von Stefan Mickisch zu befinden – nur besser bebildert und selbsterklärend. Die Rheintöchter vergnügen sich nicht nur mit Alberich, sondern auch mal mit sich selbst und verplappern sich im Liebesspiel.
Die träge Göttersippe wird jäh aus der selbstgefälligen Träumerpose gerissen, als Fasolt und Fafner ihren ausbedungenen Lohn für die Götterburg einfordern. Wotan mit Billard-Queue statt Speer, das Spiel mit der Macht/Macht als Spiel. Als Loge erscheint und die rettende Idee mitbringt, man könne ja den Dieb Alberich bestehlen und das Gold den Riesen statt Freya anbieten, spielt er mit einem riesigen Wasserball mit Globus-Druck, augenzwinkernde Parallele zu „Der große Diktator“.
Mime hat in Nibelheim den Tarnhelm vollendet, Alberich probiert ihn aus und verschmilzt, Matrix-gleich, mit grünen Zahlen vor schwarzem Hintergrund. Allzu selbstbewusst, seiner neuen Macht vertrauend, präsentiert sich Alberich Wotan und Loge. Die beiden heucheln Angst, lachen sich aber so dermaßen ansteckend ins Fäustchen, dass sich das Schmunzeln bis ins Publikum fortsetzt. Alberichs Versuche, den einen Ring zu schmieden, haben übrigens das gesamte Gold aufgebraucht. Wenn 16 große Ringe – es könnte einer für jede Stunde des Gesamtwerkes sein – um Freya aufgeschichtet werden, mutet es an wie eine Szene aus „Metropolis“. Schön auch die Erklärung, warum Alberich den Ring nicht benutzt, um die Wotans Forderung abzuwehren: Der Göttervater erzeugt auf der Platine Kurzschlüsse, mit denen er Alberich foltert. Erda ist eine Projektion aus der Zukunft. Dass Fafner seinen Bruder erschlägt, ist nicht nur die Folge des Kampfes um den Ring, sondern auch, weil dieser sich offensichtlich an Freya vergangen hat. Keine Reue für den Brudermord. Das Gold geht nicht an die Rheintöchter zurück, Game-over für die drei Nymphen. Und warum Froh schon anfangs mit einem Pinsel herumläuft, erschließt sich am Ende: er wird die Regenbogenbrücke malen, auf der die Götter in Walhall einziehen. Trotz Alberichs Zwischenerfolgen – Loge siegt auf Level 4. Vorerst.
Die beiden Pianisten unter der Leitung von Christian Hammer leisten Unglaubliches. Schon nach wenigen Takten lassen sie die Besorgnis verschwinden, zwei Klaviere könnten eine Oper nicht tragen. Auch in den Publikumsgesprächen danach „… aber mit ganzem Orchester wäre es eigentlich schöner“, wie im Vorfeld öfter gehört, kam darin nicht mehr vor.
Ähnlich ergeht es einem mit den Stimmen. Ja, es sind nicht die dramatischen Soprane, Heldentenöre, die man in einer Wagner-Oper erwartet. Deutlich lyrischer. Und möglicherweise hätte es auch mit Wagner-Sängern nicht so gut funktioniert, weil zwischen Klavieren und Stimmen eine deutlichere Diskrepanz entstanden wäre. Es fühlt sich in nahezu jedem Moment richtig an. Die Rheintöchter der A-Premiere wirken als Ensemble mit sehr sauberer Intonation etwas geschlossener als die B-Besetzung. Wotan ist als Bariton besetzt. Lediglich in „Der Wonne seligen Saal“ wirkt es kurzzeitig befremdlich. In der Inszenierung, in der Wotan zwar glaubt, dass er der Göttervater ist, aber Loge die Fäden (auf dieser Seite) in der Hand hält, passt das mehr Lyrische, weniger Majestetische des Bass-Baritons.
Stimmlich glanzvoll, mit unglaublicher Bühnenpräsenz, gestaltet Kyoungjun Lee den Loge in der B-Besetzung und gibt die der undankbar kleineren Rolle des Froh in der A-Premiere besondere Strahlkraft. Er ist Alberich ein ebenbürtiger Gegenspieler und bringt die Götter, einem Schachspiel gleich, in Position. Als von den Äpfeln Freyas unabhängiger Halbgott und sich seiner Sonderstellung bewusst, kann er sich den Luxus seiner Extravaganzen leisten.
Unbestrittener Höhepunkt der Premiere ist allerdings Alberich: Angst-Herrscher der Nibelungen, sich über den Bruder Mime erhebend. Eine Gegenmacht – völlig unakzeptabel für Wotan, der ihn am liebsten einfach umnieten würde. Nun ist Christian Henneberg zwar kein Student mehr, aber er war es einmal – vor zehn Jahren. An genau dieser Hochschule. Unter anderem bei Klaus Häger. Mit seiner musikalischen wie darstellerischen Leistung zeigt er den Studenten, wohin die Entwicklung gehen kann und empfiehlt sich mit diesem Alberich durchaus für größere Häuser. Volumen, Ausdruck, Textverständlichkeit und Tiefe, dämonischer Machtanspruch bis hin zur Erkenntnis, dass man trotz der gefühlten Macht vorerst zum Verlierer werden kann – all das paart sich in Gestus und Stimme. Zu der großartigen Textverständlichkeit, die den Blick auf die Untertitel obsolet macht, kommt der typische Wagner-Duktus, der im Gegensatz zu den Italienern auf Konsonanten setzt, den Text in seinen Stabreimen wütend spuckt, um dann plötzlich, geradezu konterkarierend in den lyrischen Partien beim Zuhörer Sympathien zu wecken – all das hat dieser Alberich verstanden und verinnerlicht. Sein Verzicht auf die Liebe kommt ihn teuer zu stehen, was er zu gewinnen vermag, gönnt man ihm nicht, aber wenn er es denn tatsächlich nicht bekommt, tut es einem wiederum leid. Dieses Wechselbad der Gefühle dem Publikum glaubhaft zu vermitteln gelingt nur den Wenigen, die diese Figur auch inhaltlich durchdrungen haben. Lino Ackermann übrigens, der B-Alberich, ist ihm dahingehend spürbar auf den Fersen. Mit dem Selbstbewusstsein folgt sicher auch bald der musikalische Ausdruck.
Großartig auch die Riesen. Nachdem sich der eigentliche Fafner schwer verletzte (nicht im Zuge der Produktion), rutschte kurzfristig Georgios Sofialidis von Fasolt zu Fafner auf und Zhiyi Yang als Fasolt nach. Die beiden bestritten nun alle Vorstellungen.
Jeder, wirklich jeder der Beteiligten, kann sich mit dieser Produktion so richtig brüsten. Wer bis dato Angst um die Zukunft der Oper hatte, konnte diese Befürchtung für einen Abend ganz weit nach hinten stellen. So geht „Oper modern“ – ohne am Kern des Werks vorbeizuinszenieren. Ob Mitt-Zwanziger oder arriviertes Opern- und Konzertpublikum - JEDER Besucher verließ glücklich-freudestrahlend diese unglaublich beeindruckende Vorstellung. Ganz großes Kino!
Musikalische Leitung und Konzeption – Christian Hammer, Inszenierung – Horst Kupich, Bühne und Kostüme – Christopher Melching, Klaviere – Taigo Kitamura & Joonhee Lee
Besetzung: Woglinde – Kaho Yamashita, Wellgunde – Martha-Luise Urbanek, Flosshilde – Anna-Maria Kawatzopoulos, Alberich – Christian Henneberg, Mime – Eul Ho Shin, Wotan – Sanghun Lee, Fricka – Kyouko Tomita, Freia – Hyeyoung Kim, Donner – Lewis Barber, Froh – Kyoungjun Lee, Fasolt – Zhiyi Yang, Fafner – Georgios Sofialidis, Erda – Kyouko Tomita
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