Rostock, hmt - Hochschule, L´elisir d´amore - Gaetano Donizetti, IOCO Kritik, 15.11.2022
hmt - Hochschule für Musik und Theater Rostock
- L’elisir d‘amore : Junge Talente begeistern mit feinfühligem Belcanto und spritziger Regie -
von Thomas Kunzmann
Auf den Tag genau ein Jahr nach dem fulminanten RHEINGOLD präsentiert sich die Hochschule für Musik und Theater Rostock (HMT) erneut mit ihrer Leistungsfähigkeit dem interessierten Publikum und liefert am 19.10.2022 mit Donizettis Liebestrank nicht nur in jeder Hinsicht feinfühliges Belcanto ab, sie überrascht abermals mit spritziger Regie-Konzeption. Das Besondere an den Hochschulaufführungen in Rostock scheint immer wieder, dass man eben nicht auf Teufel-komm-raus das Rad neu erfinden will, dennoch dem Publikum andere Sichtweisen auf bekannte oder weniger bekannte Werke der Opernliteratur ermöglicht. Es werden Gedanken entwickelt, Ideen ausgelotet, verworfen und wieder neu gedacht – und in all dem, was die HMT tut, scheint sie immer sowohl kreativ-künstlerisch vorangehen zu wollen, aber gleichzeitig auch Publikum zu sein, heißt: Akzeptanz anzubieten, aber dennoch geistige Auseinandersetzung mit dem Werk und der Regie einzufordern, kurz: man muss nicht krampfhaft künstlich spröde sein, aber man will auch nicht einfach nur eine Erwartung bedienen.
Ob Le Nozze di Figaro (2013), Dido und Aeneas / Gianni Schicchi (2014), La Cambiale di Matrimonio (2015), Die Zauberflöte (2016) oder Rinaldo (2018) – Keine Inszenierung, bei der nicht bis heute Bilder und Sänger im Kopf geblieben wären. Neue Maßstäbe jedoch setzte letztjährig das mutige Projekt, unter Corona-Bedingungen Das Rheingold, link Hier zur Rezension, mit aufwändigen Videoprojektionen, Orchestereinspielungen und zwei Klavieren zu inszenieren. Damit war die Erwartungshaltung für dieses Jahr nochmals gestiegen.
Da sitzt man nun in einem sehr gut gefüllten Saal, verblüfft und fasziniert von der Präzision und Dynamik eines Orchesters, das komplett aus noch-nicht-Profis besteht, dem feinsinnig durchsichtigem Klang, der Regiekonzeption, großartigen Stimmen, dem Bühnenbild – und wie immer: von der unbändigen Spielfreude aller Beteiligter und genießt 2½ Stunden abwechslungsreiche und gesanglich hervorragende Unterhaltung.
Nächste Besonderheit in Rostock: alle Rollen sind regelmäßig doppelt besetzt, um möglichst vielen Studenten die Chance zu geben, ihr Können unter Beweis zu stellen, wobei „A- und B-Besetzung“ keinerlei Wertung einschließt. Etwas neidisch schaut man auch deswegen, weil die gleiche Oper am Theater Rostock, der größten Stadt Mecklenburg-Vorpommerns, vor Kurzem lediglich mit Gästen realisiert werden konnte.
Erster Satz im Begleitheft: „Für Nemorino ist die Arbeit im Theater nur noch Nebensache, denn sein Blick wird von der attraktiven Dirigentin Adina gefesselt“ (versus Wikipedia: „Der einfache junge Bauer Nemorino ist in die schöne und reiche Gutsbesitzerin Adina verliebt, die jedoch nichts von ihm wissen will.“). Man verlegt also die Handlung vom Gutshof ins Theater – und fortan funktioniert die Rezeption problemlos, selbst für Musiktheaterneulinge. So abwegig ist die Idee keinesfalls – beinhaltet doch das Libretto verschiedene Hinweise auf Literatur- und Musikgeschichte, wie das „Urteil des Paris“ oder Isoldes Liebestrank. Und Belcore ist hier der Star der Oper, er wird nicht in die Krieg abberufen, sondern erhält ein Engagement an der MET. So oder so: “Opera is when a tenor and soprano want to make love, but are prevented from doing so by a baritone” (George Bernard Shaw)
Nicola Panzers Neuverortung des Geschehens in den Mikrokosmos eines Theaters mit seinen bekannten Zwistigkeiten, wechselnden Allianzen, Liebschaften und Intrigen lässt alle Figuren plastischer werden, aus Rollen werden Charaktere – mit all ihren Stärken, Schwächen und wechselnden Gefühlen.
Dulcamaras „Udite, udite o rustici“ gerät frech, frisch, selbstbewusst und in jeder Hinsicht sauber ausartikuliert. Das prahlerische Geplapper wird fantastisch vom leidenschaftlich homogen wirkenden Chor aufgenommen und potenziert. Adinas „Prendi, per me sei libero“ als introvertierte Selbstreflektion meistert Deulrim Jo mit bravouröser Sicherheit in allen Verzierungen, die sie souverän auslotet. Nemorino präsentiert das Bravourstück für Tenöre „Una furtiva lagrima“ mit zart introvertiertem Schmelz ohne Kitsch, samtenem Volumen in der Tiefe und so traumhafter Leichtigkeit in der Höhe, dass ihm genügend Platz bleibt, die Szene zusätzlich mit glaubhafter Ausstrahlung zu füllen. Hier empfehlen sich gleich drei Studenten. Mitunter sind sie dann am Volkstheater zu erleben, das sich in letzter Zeit immer wieder als Sprungbrett für junge Talente erwies. (Vollständige Besetzung dieser Produktion - siehe unten)
Das Bühnenbild dominieren Stellwände und übergroße X’e: Die Handlung könnte also zwischen einem „x-beliebigen“, gerade zu probenden Theaterstück stattfinden, dann sind wir in unseren Handlungen autark, denn wir befinden uns in unserem Mikrokosmos. Aber ist der Mikrokosmos so geschlossen? Oder ist er über die Bühne nach vorn offen? Lebt denn nicht auch das Theater von den Reaktionen aus dem Publikum? Oder sind wir gar bei „X-Factor“? Wie stark wird das, was wir tun, wofür wir einstehen, worum wir kämpfen, was wir wünschen, erreichen wollen, von der öffentlichen Wahrnehmung beeinflusst? Sind wir noch, was wir einmal sein wollten oder wollen wir das sein, was andere an uns bewundern könnten?
Mitunter laufen Theater heutzutage ihrer Bedeutung hinterher, beklagen Publikumsschwund und versuchen sich im Zeitalter der neuen Medien zu behaupten. Sie verbreiten keine Nachrichten mehr, wie im Mittelalter der Lautenspieler tat. Dafür haben wir N-TV und Twitter. Es ist im Kommentieren des Zeitgeschehens zu langsam, dafür haben wir die Feuilletons, die heute-Show und den Postillon. Aber: Es kann die wichtigen philosophischen Fragen stellen, es kann den Bezug herstellen zu den identischen Fragen, die schon vor 200 Jahren kaum anders lauteten. Es kann dabei unglaublich ästhetisch sein, abstrakt oder komisch, es kann uns charmant einwickeln und gleichzeitig mutwillig die Füße wegziehen, um uns zu den Grundfragen unseres moralischen Handelns zu zwingen – und das schafft in all dieser Komplexität kein Zauberkünstler, kein Comedian und kein Instagram-Kurzfilm. Das schafft auch diesmal die HMT und gibt damit Hoffnung für die Zukunft des Genres „Oper“.
Und so freut man sich schon heute auf Mitte Oktober 2023 – und wie an der hmt Rostock das alles nochmals überboten werden könnte.
- Musikalische Leitung – Florian Erdl
- Inszenierung – Nicola Panzer
- Bühne und Kostüme – Ingrid Wachsmann
- Chor – Matthias Mensching
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- Adina – Deulrim Jo
- Nemorino – In Hyeok Park
- Belcore – Georgios Sofialidis
- Dulcamara – Zhiyi Yang
- Gianetta – Melly Cheng
- Notar – Martha Luise Urbanek
- Diener – Oliver Hirte
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