Rostock, HMT, DER WEG NACH WESTEN - UA - Yuejia Chen, IOCO
HMT Rostock: Die Uraufführung eines Auftragswerkes der HMT, die Oper „Die Reise nach Westen“ von Yuejia Chen, einer ehemaligen, mittlerweile wieder in China arbeitenden Kompositions-Studentin der Hochschule (Prof. Peter Manfred Wolf).....
Uraufführung von Yuejia Chens Oper „Der Weg nach Westen“ an Rostocks Hochschule für Musik und Theater (HMT) - Spannende 75 Minuten, heftiger Beifall und viel Nachhaltigkeitspotenzial
von Ekkehard Ochs
Rostocks Hochschule für Musik und Theater (HMT) feiert in diesem Jahr ihr 30jähriges Bestehen. Nach langwierigen Vorbereitungen 1994, also in schwierigen Zeiten gegründet, war sie damit Fortsetzung einer seit 1947 bestehenden Hochschule für Musik, Theater und Tanz unter Rudolf Wagner-Régeny (bis 1950) sowie deren sie dann ablösenden Folgeeinrichtung eines im Status zurückgestuften Konservatoriums (Fachschule und Zweigstelle der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin). Seitdem kann sie auf eine bis auf den heutigen Tag beeindruckende Erfolgsgeschichte blicken. „Großer Bahnhof“ deshalb im Rahmen einer Festwoche (20. bis 29. Juni 2024), dem nun noch ein Höhepunkt besonderer Art folgte: die Uraufführung eines Auftragswerkes der HMT, der Oper „Die Reise nach Westen“ von Yuejia Chen, einer ehemaligen, mittlerweile wieder in China arbeitenden Kompositions-Studentin der Hochschule (Prof. Peter Manfred Wolf).
Im Plan: sechs Aufführungen (18. bis 26. Oktober 2024), darunter zwei Premieren mit wechselnder Besetzung. Und natürlich sind alle auf der Bühne und im Orchestergraben Beteiligten Studierende der HMT!
Stofflich basiert die Oper auf dem Reisebericht eines chinesischen Mönchs (namens Xuanzang), der im 7. Jahrhundert nach Indien reiste, um von dort buddhistische Schriften nach China zu holen. 17 Jahre soll er sich dort aufgehalten haben, um dann tatsächlich mit mehr as 600 buddhistischen Texten nach Hause zurückzukehren. Sein Bericht wurde Grundlage vieler weiterer, dann meist ausgeschmückter und erweiterter Fassungen, bis im 16. Jahrhundert jener in China bis heute geradezu kultisch geschätzte Roman (von Wu Cheng´en?) entstand, auf den sich die Oper bezieht; allerdings in einer erst 2016 erstellten deutschsprachigen Fassung. Die enthält 100 Kapitel, von denen die Komponistin für ihr Werk das 27. auswählte.
Zur Handlung in Kurzform: In einer Welt voller nicht wirklich in Frieden und Eintracht lebender Dämonen, Geister, Götter und Menschen wird der Mönch Tang Sanzang (genannt der Meister) vom Kaiser Taizong nach Indien geschickt, um buddhistische Schriften nach China zu holen. Zum Schutz vor allerlei Gefahren wird er, der sich von seiner Natur her nicht selbst verteidigen kann, von Schülern begleitet: dem Affenkönig Sun Wukong, dem Eber Zhu Bajie und dem Sandmönch Sha Wuying. Viel Vertrauen setzt der Meister in den Affenkönig, der sehr stark, aber auch widerspenstig ist. Um ihn zu kontrollieren, wird ihm mit Hilfe der Göttin Guanyin ein goldener Reif um den Kopf gelegt, der sich durch Zauberspruch verengen lässt und damit dem Träger einige (disziplinierende, bestrafende) Pein verursacht. Dreimal muss er diese erleiden. Denn die Gegenfigur des Mönchs, die „Weiße Knochenfrau“, ein Dämon, Foto unten, ist wild entschlossen, eben jenen Meister zu entführen und ihn, da sein Blut verjüngen und sein Fleisch unsterblich machen soll, der Mutter zum anstehenden Geburtstag zu präsentieren. Dreimal, als junge Frau, als alter Mann und als alte Frau verkleidet, nähert sie sich den Reisenden, wird aber jedesmal vom Affenkönig, und nur von ihm!, als Dämon mit bösen Absichten erkannt und von ihm getötet. Seine Mitreisenden, der Meister eingeschlossen, erkennen die gefährliche Lage nicht und halten das Handeln des Affenkönigs für gemeine, zu bestrafende Morde. Er wird bestraft (Ring!) und muss nach dem dritten Vorfall die Gruppe verlassen. Die Pilger ziehen weiter, während die offensichtlich unsterbliche Weiße Knochenfrau erkennt, dass ihr Plan gescheitert ist.
Das klingt nach Reisebericht, letztlich gar nach Abenteuern. Und das ist sowohl zutreffend als auch ergänzungsbedürftig. Denn dem deutschen, in fernöstlicher Literatur und Philosophie meist nicht sonderlich gut bewanderten Rezipienten enthüllt sich auch bei konzentriertestem Hinhören und Hinsehen erst nach Studium eines fast 50seitigen, umfassend informativen und im Rahmen eines studentischen (!) Seminars erarbeiteten Programmheftes, dass es hier um mehr geht: um Haltungen und Tugenden, um charakterliche Eigenschaften, wie sie der Daoismus, der Konfuzionismus und der Buddhismus lehren. Die Leitlinie: „Die Beschreibung der Taten, wie auch die Dialoge, werden symbolisch ausgedeutet, sodass der Roman“ - wir ergänzen: damit auch die Oper - „keineswegs nur eine Abenteuerreise sehr verschiedener Gefährten ist, sondern spirituelle Dimensionen hat.“ Man erfährt also – aus dem Bühnengeschehen kaum abzuleiten - dass diese (oben genannten) Gefährten, also die vier Pilger, nur im Falle des Meisters erdgebundenen Ursprungs sind. Der Affenkönig ist „aus einem Stein geboren“, in den ihn Buddha verwandelt hat. Der Eber, halb Mensch halb Schwein, war einst himmlischer Marschall, wurde zur Strafe auf die Erde verbannt und gilt als verfressen, lüstern und tölpelhaft. Der Sandmönch, einst General im Himmel, wurde ebenfalls einer Verfehlung wegen auf die Erde verbannt und konvertierte dort zum Buddhismus. Ansonsten dominieren diverse Dämonen, solistisch wie im „Chor“, deren herausragendste die „Weiße Knochenfrau“ ist: ein Dämon mit durchweg zerstörerischen Ambitionen, der hier allerdings am Widerstand des mit Kraft, Listigkeit und Durchblick begabten Affenkönigs scheitert. Der wird damit zur eigentlichen Hauptperson des Geschehens, zur Triebkraft der Entwicklungen.
Befragt, was sie gerade am 27. Kapitel des Romans interessiert habe, antwortet die Komponistin: Weisheit und Mut des Affenkönigs, die Barmherzigkeit und Güte des (leider nicht sehr urteilsfähigen) Meisters, die verschiedenen Beziehungen der Schüler zu ihrem Meister, Hinterlist und Wandelbarkeit der Dämonin (Weiße Knochenfrau), die aus Ursache und Wirkung abzuleitenden und einen festen Glauben voraussetzenden Lehren der buddhistischen Ideen sowie, und das ganz sicher nicht zuletzt, die Gestaltungsmöglichkeiten einer spannenden Handlung samt musikalischer Präsentation vielschichtiger Charaktere. Weitgehend immaterielle Werte also. (Und wie setzt man diese in Töne?)
Wenn man dies alles zur Kenntnis genommen hat, aber wohl auch nur dann, erschließen sich Absichten und Sinn eines Handlungs- und Bühnengeschehen, das im großen Katharinensaal der HMT Rostock zu bildkräftiger Präsentation geriet. Die Inszenierung Jürgen R. Webers lebt von ständiger Bewegung, von einem großén Arsenal auch sehr spezieller (chinesischer) gestischer Ausdrucksvarianten, die vor allem in mehreren instrumentalen (teils sehr ausführlichen) Zwischenspielen fantasievolle Ausprägungen im Solistischen wie in Ensembles (Chöre der Dämonen) erfuhren. Diesbezüglich prägnant herausgearbeitet, bilden die Protagonisten des Geschehens markante Fixpunkte in Abläufen, die sonst schwerer verständlich blieben. Das Ganze geschieht auf einer Bühne, die Musikerin und Videokünstlerin Gretchen fan [jawohl] Weber zwar sparsam, aber praktisch ausgestattet hat. Stapelbare Würfel (Podeste) und eine transportable, zwei „Gesichter“ (vorn, hinten, gut, böse) zeigende chinesische Hütte genügen, um Handlungen zu strukturieren und Geschehensorte gleichzeitig inhaltlich zu charakterisieren. Permanente bildliche Hintergrundeinspielungen (Videos) – vom visuell gelegentlich leicht überforderten Betrachter nicht immer zu entschlüsseln und einzuordnen – begleiten eine Aufführung, die zudem mit überaus charakteristischen, bestens zur Gesamtathmosphäre passenden Kostümen (auch Gretchen fan Weber) und perfekter Maske (Katharina Bergmann) punkten kann. Zum bisherigen Ganzen passt die Feststellung, dass alles handelnde (studentische!!) „Personal“ den von Anfang an gesicherten Eindruck vermittelt, in und mit dieser Aufführung geradezu Professionelles zu präsentieren. Und das mit spürbarer Leidenschaftlichkeit, in perfekt ablaufenden Bewegungen, auch mit sichtlichem Verständnis für das, was da an Ungewohntem zu realisieren ist, mit Glaubwürdigkeit also. Es sind dies übrigens Parameter, die in gleicher Weise für die Musik zutreffen.
„Ich mag es, verschiedene Elemente zu kombinieren. Ich schätze Vielfalt und wechselnde Stile“. Soweit ein O-Ton der KomponistinYuejia Chen. Und genau das ist auch zu hören. Eine Kombination fernöstlichen musikalischen Denkens, stilistischen Sich-Ausdrückens und europäischer Traditionen, vor allem auch zeitgenössischer. Das klangliche Ergebnis nimmt sehr für sich ein. Die Garantie: Es handelt sich nicht um irgend einen stilistischen „Mischmasch“, nicht um Beliebigkeit, sondern um eine bemerkenswert prägnant und kompositorisch sicher artikulierte Musiksprache von gerade hier angemessen zielgerichteter dramatischer Gestik. Im Übrigen ist Musik in diesem Stück sehr direkt und meist auch sehr opulent präsent (was dann das notwendige Textverständnis schon mal einschränkt); andererseits kennt die (sinfonisch) besetzte, sehr „farbige“, rhythmisch variable, pulsierende und immer wie unter Hochdruck stehende Partitur vor allem in den mit besonders vielem und sehr differenziertem Schlagwerk arbeitenden Passagen feinste, hinsichtlich dynamischer Abstufungen schon im Mikrobereich angesiedelte Klangschattierungen. Der Gesamteindruck: gelegentlich in Form und Klang durchaus Vertrautes, geschickt und unaufdringlich eingebaute (hier aber nicht im Detail zu benennende) chinesische vokale und instrumentale Traditionen, ansonsten aber ein stringenter, tonal völlig freier, stets auch sehr expressiver Umgang mit den wichtigsten Mitteln Neuer, aber nicht avantgardistisch orientierter Musik. Die Komponistin schafft es nahezu mühelos, mit musikalischer Überzeugungskraft zum Zuhören zu animieren, ja zu zwingen. Und das ist nicht wenig!
Ein Glücksfall für sie und den Besucher: Die HMT Rostock verfügt über jene künstlerischen Kräfte, die genau das garantieren. Da ist das bravourös agierende vokale Solistenensemble (Einstudierung Csaba Grünfelder), das mit Maxine Moesta (Sopran, Affenkönig; Zweitbesetzung: Seeun Moon), Josefine Holzhausen (Weiße Knochenfrau; Linda Ahlers), Sina Puffay (Meister, Sopran; Elisabeth Schmeißer), Martin Deckelmann (Schüler Eber; Oliver Buck) und Alexander Nielsen (Schüler Sandmönch; Minsung Kil), das Ganze ebenso trägt wie das Ensemble von einem Dutzend Dämonen (Chor: Matthias Mensching). Und dann ist da noch das mit ebenfalls spezifischen Anforderungen nicht wenig geforderte Orchester der Hochschule, das ein enorm erfahrener und inspirierender Wolfgang Walter Kluge als Chef am Pult zu einer beeindruckenden, packenden, ja (be)zwingenden Glanzleistung animierte.
Spannende 75 Minuten, heftiger Beifall. Eine Uraufführung mit Nachhaltigkeits-potenzial Und ein Projekt, das der HMT und ihrer seit 2021 die Opern-produktionen des Hauses leitenden Chefin und Gesangsprofessorin Martina Rüping alle Ehre macht!