Retz, Erlebniskeller Retz, SHERLOCK HOLMES: Das zweite Gesicht, IOCO Kritik, 20.05.2023
Sherlock Holmes: Das zweite Gesicht
- Abenteuer im Erlebniskeller Retz -
von Marcus Haimerl
Der Retzer Erlebniskeller ist ein weit verzweigtes, bis zu drei Geschosse tief in Meeressand gegrabenes, historisches Labyrinth unterhalb von Retz im Bezirk Hollabrunn in Niederösterreich, nahe der tschechischen Grenze, besteht aus Röhren und Stollen mit einer Gesamtlänge von 20 km und ist dichter und weiter ausgebaut als das oberirdische Straßenverkehrsnetz. In dieser Kelleranlage, die mit einem Kellerführer besichtigt werden kann, finden seit 2013 Theateraufführungen in Form eines Stationentheaters statt. 2018 stand diese noch junge Tradition vor dem Aus. Ursula Leitner und Nikolaus Stich ergriffen die Initiative und gründeten den Verein „handikapped unicorns Niederösterreich“ mit dem Ziel Kunst- und Kulturprojekte im Retzer Land im Allgemeinen und im Erlebniskeller im Speziellen zu veranstalten.
Mit großem Erfolg wurde 2018 und 2019 Der Hexer von Edgar Wallace (IOCO berichtete: https://www.ioco.de/2018/05/12/retz-niederoesterreich-der-hexer-im-erlebniskeller-retz-ioco-kritik-12-05-2018/) aufgeführt. Für 2020 musste die bereits ausverkaufte Produktion Sherlock Holmes pandemiebedingt abgesagt werden. 2021 wurde dann eine hervorragende Corona-konforme knapp einstündige Adaption von Lewis Carrolls Alice im Wunderland gespielt, die auch 2022 erfolgreich wiederaufgenommen werden konnte.
Im November 2021 wurde diese hochwertige Theaterarbeit mit der Ernennung zum Kulturpreisträger des Landes Niederösterreich in der Kategorie darstellende Kunst belohnt.
Mit ihrem eigens für Retz neugeschriebenen Stück Sherlock Holmes: Das zweite Gesicht versprechen Ursula Leitner, Nikolaus Stich und Valentin Werner eine Mischung aus einer spannenden Sherlock Holmes-Geschichte, basierend auf Der Hund von Baskerville vermischt mit einer Portion Grusel à la „American Horror Story“ (Staffel 4 „Freak Show“), einer amerikanischen Fernsehserie, die seit 2011 bei ihren Zusehern für eine gehörige Portion Schrecken sorgt.
Das Stück beginnt bereits am Hauptplatz von Retz. Dr. Watson möchte Sherlock Holmes zu einer Halloween-Vorstellung des Zirkus Baskerville mitnehmen. Doch geht hier nicht alles mit rechten Dingen zu. Beide werden Zeugen eines mysteriösen Attentats. Jemand hat es hier auf die neue Zirkusdirektorin Harriet Baskerville abgesehen. Mit einem mysteriösen Brief („Wenn Sie Wert auf ihr Leben und Verstand legen, spielen sie an Halloween keine Vorstellung. Packen sie ihre Sachen und verschwinden sie für immer.“) will man sie warnen. Oder ist es doch eine Drohung? In jedem Fall spielt es auf eine alte Zirkuslegende an, nach der der Geist von Edward Mordrake mit seinem teuflischen zweiten Gesicht all jene, die es wagen, an Halloween eine Vorstellung zu spielen, mit sich in die Hölle reißt. Das weckt das Interesse von Sherlock Holmes und Dr. Watson, die mit ihren Ermittlungen im Zirkus beginnen. Und so begibt sich das Publikum mit den beiden Ermittlern auf eine Reise durch das Zirkusgelände und muss sogar eine Geisterbahn durchqueren, um das Rätsel eines Anschlags, eines mysteriösen Todes, eines Mordes und eines geheimnisvollen Geistes zu lösen.
Durch kluge Personenführung und punktgenaue Einsätze zeichnet sich die großartige Regiearbeit von Ursula Leitner und Nikolaus Stich aus. Für die passenden Bühnenbilder und die fantastischen Kostüme sorgt Petra Teufelsbacher. Mit Lana Del Rays Hit Gods & Monsters oder aber direkt nach der Pause mit You & Me von Flume in der Version von Meute, an dem auch alle Darsteller beteiligt sind, wird das Publikum auf die Handlung ideal eingestimmt.
Auch die herausragenden Darsteller machen das Stück absolut sehenswert. Klemens Dellacher ist der ideale Sherlock Holmes und überzeugt mit britisch trockenem Humor, ebenso wie sein kongenialer Partner J-D Schwarzmann als Dr. John Watson. Kerstin Zinober kann als Direktorin Harriet Baskerville ebenso überzeugen wie Sophie Benedikte Stocker als skurrile „Bearded Beauty“ Eliza Barrymore.
Lara Fabienne Karasek begeistert als Joanna „The Snake“ Barrymore sowohl darstellerisch als auch durch die von der Rolle geforderten artistischen Biegsamkeit. Regisseur und Autor Nikolaus Stich übernimmt mit viel Leidenschaft die Rolle des zaubernden Buchhalters „Magic James“ Mortimer. Als Clown Jack „The Joker“ Stapleton sorgt Samuel Schwarzmann für Humor und da seine Rolle zu einer Hälfte einer Clown-Dynastie und zur anderen Hälfte einer Trinker-Dynastie entstammt auch für ausreichend Jack Daniel’s Whiskey. Julia Sailer beweist als Messerwerferin Beryl „The Blitz“ Stapleton viel Schneid. Als starker Mann des Zirkus Baskerville überzeugt Thomas Marchart und verleiht seiner Rolle Selden „The Strong“ ausreichend Tiefgang. Michelle Hofbauer gefällt als Pantomimin „Silent Zibi Bip“ ebenso wie Lisa Hochrainer als „Hilarious Hannah Houlah“. Als Zirkuskapelle: Daniela Graf, Fabian Hauser, Verena Karsaek, Clemens Schirrer und Klaus Wiklicky.
Das Publikum dankte den herausragenden Schauspielern am Ende einer rund zweistündigen Wanderung durch den Erlebniskeller Retz mit entsprechend intensivem Applaus.
Wer wissen will wie Zirkusdirektor Charles Baskerville gestorben ist, warum seine Tochter Harriet Baskerville sterben soll, wer Frankie Miller, der Mörder von Nottinghill eigentlich ist und ob es den Geist von Edward Mordrake wirklich gibt, sollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und das Labyrinth der Erlebniskeller Retz aufsuchen. Das Kellertheater Retz mit dem Verein „handikapped unicorns Niederösterreich“ zählt in jedem Fall zu den größten Bereicherungen der Theaterlandschaft Österreichs.