Raiding, Lisztzentrum Raiding, Liszt Festival 2019 - Raiding, IOCO Kritik, 25.10.2019
Liszt Festival 2019 - Raiding
Eröffnungskonzert - 11. Oktober 2019
von Renate Publig
Raiding? Kennt man den Ort auch über Österreichs Grenzen? Doch – da war doch was mit Franz Liszt. Richtig, sein Geburtsort. In Liszts Geburtsjahr (1811) hieß Raiding noch Doborján und lag im Königreich Ungarn. seit 1921 gehört das Gebiet zu Burgenland / Österreich.
Franz Liszt, der „genius loci“, ist Namensgeber des in Raiding ansässigen Liszt Festival, seit mittlerweile 2009 geleitet von den Brüdern Eduard und Johannes Kutrowatz. Dreimal im Jahr erklingen sorgfältig zusammengestellte Programme in exquisiter Qualität; genau dafür bürgen die beiden Künstler, nicht nur, wenn sie als Klavierduo auftreten.
Das Programm des Eröffnungskonzerts zum Oktoberzyklus harmoniert mit der Atmosphäre des Festsaals des Lisztzentrums. Der vom Rotterdamer Architektur-Atelier Kempe Thill geplante und ca. 600 Sitzplätze umfassende Saal wurde vom Münchner „Akustikpapst“ Prof. Karlheinz Müller gestaltet – einem der gefragtesten Akustiker der Klassik-Welt. Mit Hilfe ausgeklügelter Technik und einer gezielten Materialauswahl sorgt er so für den perfekten Klang. Das Geheimnis der ganz besonderen Klangerlebnisse liegt nämlich in der Innenverkleidung des Konzertsaals: Diese besteht aus bis zu 350 kg schweren Fichtenholzplatten, die – kaum sichtbar – dreidimensional konvex gekrümmt sind. Aufgrund dieser Tatsache wird der Schall diffus verteilt und verhindert so störende Flatterechos“, kann man auf der Website des Festivals nachlesen. Als Besucher absorbiert man intuitiv die elegante Schlichtheit des Saales, die warmen Töne, für die die Täfelung mit Fichtenholz optisch wie akustisch sorgt.
Einen „Blick in den Himmel“ verspricht der Titel des Programms. Mit „Angelus! Priére aux anges gardiens“ (Gebet zu den Schutzengeln) von Franz Liszt eröffnet das Liszt Festival Orchester unter der einfühlsamen Leitung von Johannes Kutrowatz. 26 Charakterstücke komponierte Liszt für seine Sammlung „Années de pèlerinage“(Pilgerjahre), entstanden zwischen 1848 und 1877, ursprünglich für Klavier, später für Streichorchester bearbeitet. Das „Gebet“ (1877) stammt aus dem dritten Band, der die Entwicklung von Liszts Spätstil perfekt repräsentiert: Virtuosität tritt leicht in den Hintergrund zugunsten eines nach innen gewendeten Komponierens, einer reflektiven Introvertiertheit und macht harmonischen Experimenten Platz. Durch die gelegentlich fast impressionistisch anmutenden Klänge führt Johannes Kutrowatz das Streichorchester mit nuancierter Präzision und spannungsgeladener Phrasierung, verzichtet dabei auf plakative „Geigenseufzer“, sondern versetzt den Saal mithilfe der bestens disponierten Streicher in Euphonie.
„Das Programm ist durchdacht: Im ersten Stück erbaten wir den Segen der Schutzengel, um auf das zweite Werk, Tabula rasa von Arvo Pärt einzustimmen“, stimmt Pianist Eduard Kutrowatz das Publikum auf eben jenes zweiten Stück ein. In diesem Konzert für Violine, Viola, präpariertes Klavier und Streichorchester, 1977 entstanden, setzt der estnische Komponist Arvo Pärt zeitlos-bewegend das menschliche Seelenleben in Noten, in Klängen, in Stimmungen um.
Der erste Teil, „Ludus“ (Spiel), spiegelt wider, wie wir unseren „Tisch“ anhäufen, bis es zu viel wird. Bis es unabdingbar ist, den Tisch zu befreien, zu leeren, Tabula rasa eben. Im zweiten Teil, „Silentium“ (Stille), bringt Pärt diese frei gewordenen Ebene, das einsetzende Schweigen zum Klingen. Ein Paradoxon? Nein, sondern das „längste Pianissimo“, wie Kutrowatz erläutert.
Sehr eindrücklich offenbart sich in diesem Werk Arvo Pärts Kompositionsstil „Tintinnabuli“, den er erstmals 1976 einsetzt: Die zwei Solostimmen – hier Violine und Viola – setzen sich zusammen aus der „Tintinnabuli-Stimme“, die mit zerlegten Dreiklänge die Basis bildet für die zweite, die Melodie-Stimme, die sich in diatonischen Schritten bewegt.
Besonders der zweite Teil stellt eine besondere Herausforderung an alle Interpreten, denn den meditativen Charakter, die akustische Schwerelosigkeit erhält das Werk durch das langsame, fast ostinatoartige Tempo. Eine Aufgabe, die Dirigent Johannes Kutrowatz, das Liszt Festival Orchester sowie die Solisten Christian Scholl (Violine), Mateusz Stasto (Viola) und Eduard Kutrowatz (präpariertes Klavier) in einer Weise meistern, die das Publikum in ihren Bann zieht. Christian Scholl, Mateusz Stasto sowie das Orchester setzen dabei die Spieltechniken der Streichinstrumente ohne jegliche Prätention ein, einfach als Versinnbildlichung jener Töne, die unsere Seelen produzieren. Manchmal satte Samtklänge, dann wieder ein sphärisches sul ponticello, oder ein magisch dichtes Piano. Und die Klänge, die Eduard Kutrowatz dem präparierten Klavier entlockt, verzaubern die Zuhörer und entrücken sie in eine andere Hör-Ebene.
Wie es den Künstlern gelingt, diese enorme Konzentration, die das Interpretieren vor allem des zweiten Teils dieses Werkes erfordert, derart „leicht“ und anmutig zu kanalisieren, verdient besondere Erwähnung. Eine Herausforderung auch für das Publikum, sich diesen Klängen zu „stellen“, einzutauchen in die Atmosphäre, die nicht nur anregt zum Nachdenken, sondern geradezu dazu zwingt. Doch groß ist die Belohnung, wenn man sich einlässt, einhüllen lässt von dieser Klangreise. Freilich, der Komponist entlässt die Zuhörer bewusst in die Stille in Form von vier ausgeschrieben Pausen. Die Pause, die nach einem Werk entsteht, bevor der Applaus einsetzt, kann als Gradmesser für die Qualität einer Aufführung dienen. An diesem Abend es schien wie eine Ewigkeit, bis der frenetische Applaus aufbrandete. Und um beim Titel des Abends zu bleiben: Mit Sicherheit waren die Engel nach diesem emotionsreichen Werk uns Menschen gnädig gestimmt.
Ob die Himmelsboten während des dritten Programmpunktes des Abends im Sinn hatten, in unseren Sphären zu verweilen? Möglich wär’s. Denn die erdig-erdenden Klänge der Serenade in E-Dur op.22 für Streichorchester von Antonin Dvorák muteten mit zeitlos berührender Schönheit an. Das fünfsätzige Werk entstand 1875 und bietet einen Melodienreichtum in geradezu verschwenderischer Fülle. Wobei Johannes Kutrowatz auch hier sein Orchester nicht ins oberflächliche „musikantische“ Element abgleiten lässt, sondern sublimiert und ausbalanciert die Streicher singen, tanzen – und einfach einen reichhaltig-luxuriösen Klang entfalten lässt, voller Wärme und Innigkeit.
Zum Schluss noch ein Wort zum Orchester. Zu Recht sind die Brüder Kutrowatz stolz auf diesen edlen Klangkörper, in dem in den Streichern fünf Stimmführer von internationalen Orchestern sitzen – beispielsweise auch die beiden Streichersolisten des heutigen Abends, Christian Scholl und Mateusz Stasto. Was den Zuhörer besonders einnimmt, ist jedoch nicht „nur“ die technische sowie musikalische Präzision und Perfektion. Nein, vor allem ist es ein Genuss, die Spielfreude der Musiker*innen zu beobachten. Das Orchester wurde im März 2018 gegründet, einem internationalen Ensemble, das sich aus Topmusikern von Lissabon bis Bratislava, aus dem großen Netzwerk von Musikerfreunden der Brüder Kutrowatz zusammensetzt.
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