Provence, FESTIVAL D’AIX–EN–PROVENCE 2024, SAMSON - Jean-Philippe Rameau, IOCO
PROVENCE - FESTIVAL 2024: Samson im Alten Testament ist eine Heldenfigur mit sagenhaften Kräften. Die Geschichte dieses seltsamen Helden hat ihre Wurzeln im Anbeginn der Zeit. Der Held Samson ist eine Krisen-Figur! Takt, Sensibilität, Urteilsvermögen, Finesse, Feinheit, all das ist ihm fremd ....
THEÂTRE DE L’ARCHEVÊCHE - AIX-EN-PROVENCE: SAMSON - Jean-Philippe Rameau (1683-1764), Originale Schöpfung von Claus Guth, Raphaël Pichon und Eddy Garaudel der verlorenen Oper von Rameau, Libretto von François-Marie Arouet genannt Voltaire (1683-1764) - frei inspiriert nach der Bibel: Das Buch der Richter…
von Peter Michael Peters
SAMSON: DAS VERFLUCHTE KIND VON RAMEAU UND VOLTAIRE…
Je ne suis qu‘un mortel;
Mais le Dieux de la terre,
Qui commande aux rois,
Qui souffle à son choix
Et la mort et la guerre,
Qui vous tient sous ses lois,
Qui lance le tonnere,
Vous parle par ma voix. ( Samson / 1. Akt / 2. Szene / Szene des Samson / Auszug / Voltaire / 1734)
Vom Geist Gottes misshandelt…
Die Bibel, in der die Mythen und Geschichten über den Gott des Volkes Israel erzählt werden, ignoriert tadellose Helden. In der Heiligen Schrift wird Heldentum immer versteckt, es trägt von Anfang an den Samen des Scheitern in sich – dies gilt insbesondere für die Geschichte von Samson im Alten Testament, einer Heldenfigur mit sagenhaften Kräften. Die Geschichte dieses seltsamen Helden hat ihre Wurzeln im Anbeginn der Zeit. Der Held Samson ist eine Krisen-Figur! Takt, Sensibilität, Urteilsvermögen, Finesse, Feinheit, all das ist ihm fremd. Er wird als wütender Verrückter beschrieben, ein unbeugsamer Mann, der weder in seiner Leidenschaft noch in seiner Wut zu bändigen ist. In alten nordischen Sprachen wurden Männer, die wie unter dem Einfluss von Adrenalin kämpften, Berserker genannt – dies ist bei Samson der Fall.
Seine Tragödie spielt sich während des endlosen Krieges an den Grenzen der Gaza-Region und der judäischen Berge ab. Zahlreiche Passagen aus dem Alten oder „Ersten“ Testament zeugen von diesem um die Kontrolle über eine Region mit begrenzten Ressourcen, in der Menschen nebeneinander leben und in der jeder Quadratzentimeter zählt. Das Küstengebiet wurde in der Antike von den Philistern bewohnt, einem Volk von Seefahrern, die sich unaufhörlich militärische Gefechte mit dem israelitischen Stamm Dan lieferten. Dieser Stamm, der die Hügel am Fuße der judäischen Berge bewohnte, wurde von seinen Nachbarn systematisch überfallen.
Die Region um Gaza heißt in seiner ursprünglichen hebräischen Form Peleshet, auf Griechisch Palaistine und auf Deutsch Palästina. Der Name dieser Region bedeutet: „Wo Menschen leben, die eine fremde Religion und deren Bräuche angenommen haben“.
Herakles: Samsons Vorbild…
Die Philister haben ihren Ursprung vermutlich im hellenistischen Kulturraum, von wo sie nicht nur Schiffe und überlegende militärische Ausrüstungen, sondern auch die griechische Mythologie mitbrachten. Die Legenden des antiken Griechenlands sind reich an großen Helden! Wir finden zum Beispiel Herakles oder Herkules, einen Halbgott mit enormer Kraft – er könnte durchaus das literarische Vorbild des biblischen Samson sein. In der griechischen Legende ist Herakles ein Auserwählter, der unter zweifelhaften Umständen gezeugt wurde. Alkmene, seine Mutter zeugte ihn mit dem Göttervater Zeus, der sich ihr nähern konnte, indem er die Gestalt ihres Mannes annahm. Herakles wird erwachsen und setzt seine Kräfte zunächst völlig impulsiv und gedankenlos ein. Er erlebt viele romantische Abenteuer und ist bekannt für seine sexuelle Kraft und seine gewaltigen Zornausbrüche. In Wahnsinnsanfällen tötet er häufig Menschen, darunter auch seine eigene Frau seine Kinder. Um seine Verbrechen zu sühnen, muss er lernen seine Kräfte zu kontrollieren. Die Götter beauftragen Herakles daher, eine Reihe sehr gefährlicher Missionen zu erfüllen: Er muss riesige Monster töten, riesige Müllberge von den Bergketten beseitigen, wilde Tiere zähmen, sich in die Unterwelt begeben und sogar Cerberus, den höllischen Hund mit sechs Beinen fangen und in Ketten legen.
Der Held Samson ist der israelitische Zwilling dieses Herakles! Wie er stellt er sich als ein von einem göttlichen Geist beseeltes Wesen dar, obwohl es schwierig ist, in seinen sinnlosen Handlungen eine übergeordnete Logik zu erkennen, ist es offensichtlich: Dass dieses Kind anders sein wird wie der ganze Rest seines Volkes. Für seine Eltern erscheint Samson wie ein Adler, der aus einem Spatzennest aufsteigt! Der Knabe, den seine Mutter liebevoll „kleine Sonne“ nennt – denn das ist die Bedeutung des Namens Samson -, wird seinen Mitmenschen – auch sich selbst – ein Leben lang ein Fremder bleiben. Er ist mit einem übermenschlichen Geist und unglaublicher Kraft ausgestattet und seine Macht ist grenzenlos. Er zerreißt einen Löwen mit bloßen Händen und tötet Tausende von Philistern. Aber er kann mit dieser rohen Kraft nichts anfangen, er kann nur begehren, verzehren und zerstören. Er hat keine dauerhaften Beziehungen zu Frauen, auch nicht einmal zu anderen Menschen. Er hat keine Kinder oder Freunde! Er ist übermäßig naiv und rachsüchtig! Er wird von allen verraten werden, besonders von den Frauen, mit denen er sein Bett teilt.
Eine außergewöhnliche Geburt…
Schon die Umstände seiner Entstehung sind gelinde gesagt mehr als überraschend: Die Mutter von Samson, heiratet anonym einen unbedeutenden und leidenden Mann namens Manoach: Er ist unfruchtbar! Alles ändert sich, als sie mitten auf dem Feld einem beeindruckenden Mann begegnet, der sich ihr als Engel Gottes präsentiert und die Geburt eines Sohnes ankündigt. Die Frau erzählt ihrem Mann von dieser Begegnung! Er ist zweifellos sehr eifersüchtig, möchte aber diesen „Engel Gottes“ dann doch selbst kennenlernen. Das Treffen findet statt und Samsons zukünftiger Vater ist von der Realität dieser ganz besonderen Schwangerschaft überzeugt. Er fragt den Engel, wie er dieses übernatürliche Kind großziehen soll. Der Sohn muss als Nazir erzogen werden, das heißt als von Gott auserwählt! Ihm wird versprochen, das der Sohn eines Tages ein Träger des Geistes Gottes werden wird. Nazir zu sein bedeutet, dass Samson sein ganzes Leben keinen Tropfen Alkohol trinken oder unreines Essen zu sich nehmen darf und dass er sich niemals die Haare schneiden darf. Denn in seinen langen Haaren verbirgt sich seine gewaltige Stärke. Sein ganzes Leben lang wird Samson diese Regeln respektieren und seine Mutter wird sich ihnen vom Moment der Schwangerschaft an unterwerfen. Das Schicksal von Samson ist, dass der mörderische Geist Gottes ihn immer wie in einer Trunkenheit erfasst. Auch er ist wie Herakles nicht in der Lage, seine Energie zu kontrollieren!
In der Bibel ist die Geschichte von Samson im Buch der Richter verankert. Im Alten Testament bedeutet der Begriff „Richter“ nicht einen professionellen Juristen oder Rechtsgelehrten. Er bezeichnet eine von Gott auserwählte charismatische Persönlichkeit, die in Zeiten der Not die Stämme Israels im Kampf gegen eindringende Feinde, gegen Unterdrückung und Versklavung vereint und sie in den Krieg führt. Die Richter sind sozusagen sowohl Präsidenten als auch Generäle, die Gott dem Volk Israel schickt: Natürlich nur für eine bestimmte Zeit! In den biblischen Berichten über die Könige Israels waren die Philister die Hauptgegner des Volkes Israel. Sie waren den Israeliten militärisch weit überlegen, entwaffneten sie und forderten hohe Tribute von Ihnen. Doch die Revolten und Versuche, sich vom Joch dieses grausamen Besatzers zu befreien, haben nie aufgehört.
Die große Macht, Traum und Albtraum…
In diesem Zusammenhang betritt Samson die Szene – sowohl als Traum als auch als Albtraum: Endlich stark! Endlich vom Geist Gottes beseelt! Wild, überlegen, unsichtbar! Für jedes einzelne Blutverbrechen, das an den Israeliten begangen wird, lässt Samson die Okkupanten dreifach bezahlen: Für jeden getöteten Israeliten werden dreißig Philister hingerichtet!
Unser Held nutzt seine Kraft jedoch meist nur unter dem Einfluss niederer Neigungen und hat keine Kontrolle darüber. Wir sehen weiterhin, dass Samson hauptsächlich für sich selbst kämpft. Er tötet, um dumme Spielschulden zu bezahlen, er zerstört die Felder seine Gegner, indem er mehr als dreihundert Füchse mit angezündeten Schwänzen freilässt: Nur aus purer Rachsucht! Er schlachtet seine Feinde zu Hunderten ab, nur mit einem Kieferknochen eines Esels bewaffnet und er bricht die Tore von Gaza ein, während er hastig aus dem Bett einer Prostituierten flieht. Allerdings – und darin wird sich auch die Geschichte erinnern – agiert Samson stets in der Defensive. Er ist nie der Aggressor, er ist nie der Ursprung von Ungerechtigkeit und Eskalation. Aber wenn er getäuscht oder angegriffen wird, reagiert er hemmungslos zurück.
In dieser kurzen biblischen Geschichte wird Samson als Gegenfigur zur überaus intelligenten Figur des jungen David dargestellt, der später König von Israel wird. Noch als Kind besiegte David den beeindruckenden Philister Goliath, einen überaus schwer gerüsteten und überaus bewaffneten Riesen mit einer gewaltigen Steinschleuder. Samson ist die Gegenfigur: Er ist ein Riese der kämpft, aber er weiß nicht was er mit seiner Kraft anfangen soll, intellektuell grob und ungeschickt, ein äußerst tragischer Held.
Seine Liebhaber und Liebhaberinnen schaffen es jedes Mal relativ leicht, aus diesem naiven und dummen Tölpel seine intimsten Geheimnisse zu entlocken. Ganz gleich, ob sie Opfer von Erpressungen durch ihre Familien oder auch kriminelle Fälle sind, ihr Status innerhalb ihres Stammes ist ihnen viel wichtiger als Samson: Der nur ein unwichtiger Sex-Kompagnon ist! Sexuelle Abstinenz gehört nicht zu den Zwängen, die einem Gottgeweihten auferlegt werden, weshalb Samson in der Bibel auch für den naiven Mann steht, der sich leicht um den Finger wickeln lässt und sich stets in die falsche Person verliebt. Seine spontanen unüberlegten Liebesabenteuer führen Samson schließlich in den Untergang, vor allem weil er seine sexuellen Begleiter immer bei den Philistern , dem feindlichen Volk sucht.
Der erste Selbstmord-Attentäter…
Die Quelle seiner sagenhaften Kraft versiegt am Ende, weil er seiner Geliebten Dalila das Geheimnis seiner übermenschlichen Kräfte offenbart. Und während der Koloss selbstbewusst und vertrauensvoll in den Armen von Dalila eingeschlafen ist, schneidet diese ihm die Haare ab. Samson kann nun von seinen Gegnern leicht gefangen genommen werden und auf äußerste gedemütigt werden. Sie stechen ihm die Augen aus und zwingen ihn dann, wie ein Esel einen großen Mühlstein zu drehen.
Auf dem Höhepunkt seiner Erniedrigungen muss er als ein armer blinder und taumelnder Riese während eines Festes zu Ehren Dagons, der fremden Gottheit, ein Spektakel veranstalten um seine Feinde in ihrem Palast zu unterhalten. Doch das Fest wird ein großes Desaster:
„Jetzt war das Palast voller Männer und Frauen, alle Fürsten der Philister waren da und auf dem Dach saßen etwa dreitausend Männer und Frauen und sahen zu, wie Samson zu ihrer Unterhaltung den dummen Narren spielen musste.
Da rief Samson den Herrn an und sagte: „Herr, gedenke meiner und gib mir die Kraft, nur dieses einzige Mal um mich mit einem Schlag an den Philistern für meine beiden Augen rächen zu können!“
Und Samson ergriff die beiden zentralen Säulen, auf denen das Palast ruhte und die andere in seiner linken Hand und sagte: „Möge ich mit den Philistern sterben!“ Und er beugte sich mit aller Kraft nach vorne. Dann fiel der Palast über Fürsten und über alles Volk, das dort war, so dass es mehr Tote gab, die er durch seinen Tod tötete, als die Toten die er während seines ganzen Lebens getötet hatte.“ (Das Buch der Richter 16, 27-30, aus der Bibel (1534) von Martin Luther (1483-1546)
Mit dieser Tat geht Samson als Urheber des ersten Selbstmordanschlags in die Weltkulturgeschichte ein. Er beendet sein Leben nicht in Schwäche, sondern in blutiger Rache. Während seiner langen Gefangenschaft gelang es ihm zu verbergen, dass nicht nur seine Haare nachgewachsen waren, sondern dass er auch wieder zu seinen gewaltigen Kräften gekommen war und ließ daraufhin den gesamten Palast einstürzen. So starb er zusammen mit Tausenden seiner Feinde…
In dem berühmten Gedicht Das Lied von der Glocke (1798) von Friedrich von Schiller (1759-1805) können wir lesen: „Wo rohe Kräfte sinnlos walten, / Da kann sich kein Gebild gestalten, Wenn sich die Völker selbst befrein, Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.“ Die Saga von Samson erscheint als Erzählung im Hintergrund dieses Gedichts!
Daten-Anhang: Jean-Philippe Rameau (1683-1764) und François-Marie Arouet genannt Voltaire (1694-1778). Die zwei von der damaligen Justiz zensierten Librettos sind 1734 und 1736 erschienen.
SAMSON - Aufführung - Théâtre de l’Archevêché / Aix-en-Provence - 09.07.2024
Der zensierte und dann vergessene Samson von Rameau und Voltaire…
Samson von Rameau mit dem Libretto von Voltaire, oder eher eine Art Samson, erdacht von dem französischen Dirigenten Raphaël Pichon und dem deutschen Regisseur Claus Guth mit der Hilfe des französischen Dramaturgen Eddy Garaudel. Einem Dreamteam, das sich der französisch-libanesische Direktor Pierre Audi des Festival d’Aix-en-Provence ausgedacht hat.
Pichon und Guth kamen zu Rameaus Samson, einer Oper die zwar schon geprobt wurde, aber nie zur Aufführung kam und seine Partitur ist leider verloren gegangen. Voltaires Libretto existiert zwar, allerdings nur in der einen Version, die er spät in seinem Leben schuf, als er nicht mehr so polemisch sein wollte wie in seinen jungen Jahren.
Obwohl die Samson-Geschichte auf der Bibel basiert, hatte Voltaire ein paar geschmacklose Liebesaffären eingebaut und Samsons berühmte Zerstörung des Philister-Tempels in einem Akt wütender Verzweiflung verwandelt, der kaum religiöser Inbrunst entsprach. Die Zensoren dieser Zeit hielten das Libretto für blasphemisch! Wie jeder vernünftige Komponist dieser Zeit hat Rameau viele Stücke aus seinem Samson einfach für spätere Opern wiederverwendet.
Das Dreamteam Pichon/Guth stellt eine Bühnenhandlung vor, die sich völlig unabhängig vom veröffentlichten Libretto Voltaires entfaltet, obwohl sie feststellen, ihr Samson entspreche durchaus dem Geist eines plausiblen Voltaire/Rameau-Samson, wenn auch nicht dem Wortlaut des Originals. Pichon übernahm die musikalische Archäologie, die nötig war um eine nach Samson klingende Partitur zu konstruieren und verwendete dazu passende Bruchstücke aus den etwa 17 anderen Opern und Balletten von Rameau. Diese übernommenen Musikteile ähneln auf geschickte Weise den Klängen und Worten, die eventuelle die Samson-Sänger von 1734/35 gesungen haben könnten. Die Bühnenhandlung, die durch die besonders inspirierte Inszenierung von Guth vorgegeben wurde: Waren nun die heutige Samson-Geschichte!
Das Programmheft informiert uns, dass sich Pichon und Guth gezwungen sahen, eine französische barocke Haut-Contre-Stimme einzubauen, da die ursprünglichen Samson-Schöpfer den kühnen Schritt wagten, den Helden der Oper zu einem Bariton zu machen und nicht wie zu einem üblichen Tenor. So schufen sie die Haute-Contre-Rolle von Elon, Samsons bestem Freund, der schockiert und entsetzt über Samsons impulsive und destruktive Natur war und auch deshalb zu den Philistern übertrat.
Während wohl die Entstehung dieser Oper im Geiste Rameaus faszinierend sein mag, werden wir jedoch mit dem tatsächlichen Erlebnis ihrer Welturaufführung konfrontiert. Wie schon bei seinem 2022 im Festival d’Aix-en-Provence uraufgeführten Oper Il viaggo, Dante von Pascal Dusapin (*1955) hatte Guth auch hier das Bedürfnis eine zusätzliche Rolle oder einen Vorgang hinzuzufügen. Bei Il viaggio, Dante war es ein äußerst schockierender furchteinflößender Autounfall, bei Samson ist es das Hinzufügen einer Sprechrolle für Samsons alte Mutter, die sich an ihre Erinnerungen klammert und in ihren Visionen die einst junge Mutter, den Säugling und den jungen Samson in verschiedenen Altersstufen wiedersieht.
Guth platzierte die Handlung in einem stark verfallenen Gebäude im neoklassizistischen Stil und ließ mitunter drei zeitgenössische Architekten auftreten, um den Wiederaufbau zu planen. Dies wurde durch die blauen Laserlichter motiviert, die von Zeit zu Zeit auf die Struktur einwirkten, um Entfernungen zu messen, die vertikale rote Linie, die manchmal über die Bühne strich und den absteigenden Balken aus intensiven weißem Licht als Szenenabschlüsse markierte. Zu dieser überlagerten außergewöhnlichen Lichtshow von dem französischen Lichtbildner Bertrand Couderc fügte Guth die gewaltigen elektronischen Soundeffekten (verstärkte Perkussion) des deutschen Soundbildners Mathis Nitschke hinzu, wenn er massive zerstörerische Kraft klanglich vermitteln wollte.
Das hyperpräsente pseudo-zeitgenössische Bühnenbild wurde von dem schweizerischen Bühnenbildner Etienne Pluss mit viel extravakanter Atmosphäre entworfen, seine Hauptdarsteller wurden mit viel Sorgfältigkeit in abstrakte biblische Gewänder gekleidet von der österreichischen Kostümbildnerin Ursula Kudrna. Sie reduzierte jedoch die Bekleidung des Chors und der Tänzer auf komplette abstrakte Kleidung, wenn die Philister schwarze Kleidung tragen, so waren die Israeliten völlig in Weiß. Der Chor nahm entweder von der Bühne aus in Kostümen an der Handlung teil oder war im hinteren Teil des Orchestergrabens versteckt und in schwarzer Konzertkleidung. Übrigens die überaus phantastischen Gruppenbilder und Gruppenbewegungen der Choristen und Tänzer wurde wirklich genial von der amerikanischen Choreografin Sommer Ulrickson in Szene gesetzt. Solche und viele andere Theatertricks haben uns während dieser atemberaubenden Darbietung die theatralische Musik von Rameaus Musik sehr betört.
Pichon ist der Dirigent und die künstlerische Kraft hinter dem Chor- und Orchester-Ensemble Pygmalion, das an der Opéra National de Bordeaux beheimatet ist. Für diese Barockoper wurden die Chorstimmen Dessus (Sopran), Haute-Contre (Alt-Tenor), Tailles (Bariton) und General-Bass (Bass) genannt, die Orchestermusiker spielten auf Instrumenten des französischen Barock, obwohl die Instrumente manchmal auch aus der klassischen oder romantischen Epoche stammten. Es ist ein Ensemble von außergewöhnlicher Eleganz und tadelloser Technik!
Rameau ist als großer Symphoniker berühmt. Das Ensemble Pygmalion, das hier aus 33 Streichern, vier Bläsern, einigen Blechbläsern, Continuo und Schlagzeug besteht, war in der Lage, sowohl enorme Kraft, wütende Klänge als auch leidenschaftliche Gefühle in einem riesigen Farbspektrum auszudrücken. Rameau ist ebenso berühmt als Komponist für Kammermusikinstrumente, was die wunderschöne verzierte Intimität seiner durch ein reiches Continuo bereicherten Arioso-Rezitative erklärt, die insbesondere im ersten Teil des Abends auftreten.
Die Sammlung von Rameau-Stücken war ein nahtloses Ganzes, auch wenn der erste Akt weder dramatisch noch musikalisch einheitlich war. Der zweite Teil es Abends mit dem Erscheinen von Dalila, nahm eine unerbittliche Brutalität an, durchsetzt mit ballettartigen Orchesterbewegungen, die als reine Musik erhabene Höhenflüge annahmen und bewiesen, dass Rameau zum Pantheon der großen französischen Komponisten gehört.
Das Festival d’Aix-en-Provence hat für dieses ungewöhnliche Opernereignis eine hervorragende Besetzung zusammengestellt. Mit Sängern, die die Bühne gut einnehmen und beherrschen können! Mit Stimmen, die an die Rollen von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und Gioachino Rossini (1792-1868) auf den großen Bühnen der Welt gewöhnt sind. Die amerikanische Sopranistin Jacquelyn Stucker als Dalila und der amerikanische Bariton Jarret Ott als Samson waren vor einiger Zeit an der Opéra National de Paris / Salle Bastille in der aufsehenerregenden Produktion The Exterminating Angel (2016) von Thomas Adès (*1971) beteiligt. Siehe IOCO.de-Kritik! Auch hier zeigten sie beide eine außergewöhnliche musikalische Intelligenz, die ihre Präsenz noch verstärkten. Samsons Liebesaffären im ersten Akt mit der Philisterin Timna, gesungen von der französisch-italienischen Mezzo-Sopranistin Lea Desandre, die mit ihrer reinen traumhaften Stimme wunderbar mit den Ariosos von Rameau verschmolz. Der argentinische Bass Nahuel di Pierro singt Achisch, den Anführer der Philister. Mit seiner schönen Stimme ist er ein auffälliger Künstler, besonders wenn er mit einem sicheren brutalen Selbstvertrauen diesen so unangenehmen und unsympathischen Philister mehr als grausam verkörpert.
Die Besetzung wurde komplettiert durch die junge französische Sopranistin Julie Roset als geflügelter Engel, die den Prolog singt und der britische Tenor Laurence Kilsby, der die eingefügte Rolle des Abtrünnigen Elon interpretiert. Die bekannte französische Film- Fernsehschauspielerin Andréa Ferréol rezitierte die herzergreifende alte Mutter von Samson. Ein wirklich ereignisreicher Abend mit vielen wunderschönen Überraschungen, auch wenn einige kleine Ungereimtheiten enthalten waren.
Warum nicht! Nobody is perfect! Bravo an alle! - (PMP/24.07.2024)