Provence, FESTIVAL D’AIX–EN–PROVENCE 2024, LES IPHIGÉNIE(S) - Chr. W. Gluck, IOCO
AIX-EN-PROVENCE - FESTIVAL - GLUCK: Christoph Willibald Ritter von Gluck (1714-1787) gilt in der Geschichte der Oper zu Recht als der größte Reformator dieser Gattung. Bei der Auflistung und Bewertung aller dieser formalen Errungenschaften
von Peter Michael Peters
IPHIGÉNIE EN AULIDE (1774) - Christoph Willibald von Gluck, tragische Oper in drei Akten. Libretto von Marie François-Louis Gand Le Bland genannt Bailly, nach den Tragödien Iphigénie à Aulis von Euripides und Iphigénie von Jean Racine.
IPHIGÉNIE EN TAURIDE (1779) - Christoph Willibald von Gluck, Musik-Tragödie in vier Akten. Libretto von Nicolas-François Guillard, nach den Tragödien Iphigénie en Tauride von Euripides und von Claude Guimond de la Touche.
SUCHE MIT ALLER KRAFT DEINE SEELE…
Rien n’en peut prolonger le cours:
Les Dieux les ont marqués
Du sceau de leur colère;
Fuyez, laissez aux Grecs
Servir leur cruauté.
Ah! Si jamais je vous fus chère,
Partez, et n’allez point
Dans un camp révolté,
Pour m’arracher des mains
D’un peuple sanguinaire,
Exposer votre rang
Et votre dignité. (Iphigénie en Aulide: Rezitativ der Iphigénie, 3. Akt, Szene 4)
Musik und Psychologie der Charaktere bei Gluck…
Christophe Willibald Ritter von Gluck (1714-1787) gilt in der Geschichte der Oper zu Recht als der größte Reformator dieser Gattung. Bei der Auflistung und Bewertung aller dieser formalen Errungenschaften vergisst man jedoch oft, dass diese Neuerungen auch mit neuen inhaltlichen Anforderungen verbunden sind. Nicht umsonst widmete sich der Komponist, der sich nicht eindeutig der italienischen, französischen oder deutschen Oper zuordnen lässt, vor allem Themen aus der klassischen Mythologie: Diese passten besonders gut zu der Ernsthaftigkeit, die er seinen Opern verleihen wollte. Um tiefer in seine Themen einzutauchen, verzichtete er auf das barocke Dekorum, das so viele Werke seiner Zeit prägte.
Iphigénie, die älteste Tochter von Klytämnestra und Agamemnon, ist weder in den Opern von Gluck Iphigénie en Aulide mit einem Libretto von Marie-Louis Gand Le Bland Du Roullet genannt Bailli (1716-1786) nach den Tragödien Iphigénie à Aulis von Euripides (um 480-406 v. J.C.) und Iphigénie von Jean Racine (1639-1699) noch in Iphigénie en Tauride mit einem Libretto von Nicolas-François Guillard (1752-1814) nach den Tragödien Iphigénie en Tauride von Euripides und Claude Guimond de la Touche (1723-1760) zu Hause. Sie wurde von ihrem Vater nach Aulis geschickt, um dort der Göttin Diana geopfert zu werden, in der Hoffnung das diese, sobald ihr Zorn besänftigt war, günstige Winde für die griechische Flotte senden würde und die Griechen endlich in der Lage sein würden, gegen die Trojaner in den Krieg zu ziehen. Sie wurde durch eine List derselben Göttin nach Tauris gebracht, die erkannte dass das junge Geschöpf nicht so jung sterben sollte. Doch anstatt ein neues Leben allein mit ihrem Geliebten Achilles zu verbringen, muss Iphigénie nun ihren Lebensunterhalt in Tauris verdienen, wo sie für die Durchführung des Opfer-Rituals verantwortlich ist, von dem sie selbst glücklicherweise entkommen war: Männer und Frauen zu töten, um sie der Göttin zu opfern. Was kann man von diesem Leben erwarten, das ihr die Göttin wieder gab, wenn sie es nicht in vollen Zügen genießen kann? Allerdings war ihr Verlobter zum Opfer prädestiniert, sein Leben während des Krieges von Troja zu verlieren – genau diesem Krieg, an dem die griechischen Armeen, angeführt von Agamemnon von Aulis aus, zunächst nicht teilnehmen konnten und der nur mit der Opferung von Iphigénie beginnen konnte, um das Wohlwollen der beleidigten Göttin zu erhalten. Agamemnon, der Anführer der griechischen Heere, scheint schon hilflos zu sein, bevor er in den Krieg ziehen kann, ein machtloser Potentat, der auf die Naturgewalten und die Hilfe der Götter angewiesen ist, um endlich seine militärische Funktion ausüben zu können. Zu Beginn seiner zweiten Oper, die auch Iphigénie gewidmet ist, entfesselt Gluck ironischerweise einen heftigen Sturm, der jedoch eher den Zorn und die innere Wut der Titelfigur verkörpert als die von Dianas Priesterinnen gefürchtete Rache der Götter. Wir können sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Wut Iphigénies Herz nicht verlässt, wenn sich der „musikalische“ Sturm tatsächlich beruhigt. Eine Idee, die die Romantik vorwegnimmt!
In Aulis war Iphigénie noch ein junges Mädchen, das nicht wusste, was eine „Seele“ ist und das wahrscheinlich aufgrund von Heimweh einen kleinen Herzschmerz verspürte. Allerdings war sie nicht in der Lage, die wahre Bedeutung des Wortes Heimat zu verstehen. Im Libretto von Du Roullet folgt sie jedoch einem echten Gefühls- und Verhaltungskodex, der stark von ihrem militärischen Umfeld beeinflusst ist. Ehre und Ruhm sind die Hauptbegriffe ihres Vater! Sie möchte ihm durch ihr eigenes Opfer bei seiner Suche nach Ruhm und Ehre helfen. Das Ideal des Vaters ist für sie unantastbar! Darin ist sie nicht ohne Ähnlichkeit mit ihrer Schwester Elektra, die viele Jahre später von Richard Strauss (1864-1949) und Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) in ihrer Oper Elektra (1903) dargestellt wurde. Sie ist daher bereit, für ihn zu sterben, um eine militärische Rolle zu spielen und dies bis zum bitteren Ende.
Gluck beendet seine Iphigénie mit einem schönen lieto fin: Iphigénie wird in Tauris nicht getötet und an ihrer Stelle wird ein Tier geopfert. Diana bringt sie sogar selbst zu ihrem Verlobten und die Hochzeit kann gefeiert werden. Dem Innovator Gluck kann vielleicht vorgeworfen werden, dass er zu sehr die gesellschaftlichen Konventionen dieser Zeit nachgegeben hat. Aber vielleicht sollten wir das auch mit Vorsicht genießen: Gluck selbst schien damit nicht zufrieden zu sein, wie zahlreiche Modifikationen und Variationen bezeugen. Auch in den Schriften der alten Griechen finden wir mehrere Versionen dieser Passage. Während Iphigénie in der Orestie (458 v.J.C.) des Aischylos (525-456 v.J.C.) tatsächlich geopfert wird, musste sich Euripides ein anderes Ereignis für seine Iphigénie à Tauride (414/412 v.J.C.) vorstellen: Er hatte schon seine Version von der Episode der Iphigénie à Aulis (405 v.J.C.) fertiggestellt und der Tod von Iphigénie wäre folglich nicht sehr logisch. Vielleicht sollten wir in der Hochzeit nur eine Blindheit sehen: Ein Nichts, das der Titelperson weder das erhoffte eheliche Glück noch den Tod bietet.
Ungefähr fünfzehn Jahre später in Tauris, steht Iphigénie, nachdem sie erwachsen geworden ist, fast vor dem gleichen Dilemma wie zuvor ihr Vater Agamemnon: Sollte sie einen Griechen, einen Mitbürger ihres Heimatlandes töten, weil die Göttin, der sie dient und der sie ihr Leben verdankt, es ihr befiehlt? Ihr tiefstes Selbst, vielleicht ihre Seele, drängt sie das Opfer auf sich zu nehmen, bis ihre Intuition ihr flüstert: „Er ist ein Landsmann, ein Mitglied deiner Familie, dein Bruder. Wir müssen jetzt dem Morden ein Ende setzen!“
Von dem ersten Monolog seiner Version des Themas Tauris lässt Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) seine Iphigenie auf Tauris (1779), „die mit ganzer Seele das Land der Griechen sucht“, ihre Nostalgie zum Ausdruck bringen: Die als Heimatlose in ihren jungen Jahren aus Argos entführt wurde, unter dem Vorwand einer Hochzeit, die aber in Wahrheit für eine befohlenen Opferung vorgesehen war. Die aber jetzt verzweifelt versucht ihrer Seele eine neue Richtung zu geben, ohne wirklich zu wissen: Welche? Das Verständnis für das alte Dilemma ihres Vaters stärkt ihre tiefe Bindung zu ihm und der Mann, den sie in Tauris trifft, der „Barbar“ Thoas, der ein Opfer fordert, wird so zum eigenartigen Vaterersatz. Zugleich tritt Thoas durch seine fast integristische Haltung gegenüber der Opferdurchführung auch in die Stellung eines Gegenstücks zu Calchas in Iphigénie en Aulide: Als Anhänger einer konservativ-militanten Haltung versucht der Hohepriester, Agamemnon zum Opfer seiner Tochter Iphigénie zu zwingen. Ein Wahrsager, der nur das sieht, was er sehen muss und sehen will! Für ihn galten nur die alten Regeln und nur die Göttin selbst konnte es entscheiden. Bei ihm ist kein Platz für Emotionen!
Dieser starren Haltung steht in beiden Opern eine äußerst tiefe Freundschaft gegenüber, jeweils seltsamerweise zwischen zwei Männern, die trotz des gesellschaftspolitischen Kontexts – um einen modernen Ausdruck zu verwenden – keinen Zweifel an ihrer tiefen Neigung zueinander lassen. Wenn diese Beziehung in Iphigénie en Aulide zwischen Achilles und Patroklos nur nebenbei auftritt, gibt Gluck den beiden Charakteren nicht wirklich den nötigen Spielraum, um sie in Musik zum Ausdruck zu bringen. Dagegen beispielsweise in einem Duett, dasjenige das Orestes und Pylades vereint, präsentieren sich im Gegenteil eindeutig homosexuelle Züge. Es wird im dritten Akt in einem Trio mit Iphigénie: „Je pourrais du tyran“ eher wie ein Duo konzipiert, bei dem die beiden jungen Männer immer gemeinsam, fast im Einklang, auf Iphigénies Worte reagieren. In der nächsten Szene erklären sie allein gelassen, dass sie lieber jeder für den anderen sterben würden. Man ist fast versucht, darin eine Vorwegnahme des drei Jahre später von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) für das Singspiel Die Entführung aus dem Serail, K. 384 (1782) komponierte Duett zwischen Konstanze und Belmonte „Mit dem Geliebten sterben ist seliges Entzücken“ zu sehen. Die Enttäuschung, nicht gemeinsam sterben zu können, sondern jeder für sich alleine, weckt neue Ängste, aber vielleicht auch neue Kräfte und erinnert an die Situation, die Iphigénie selbst erlebte, als sie zum Ruhm ihres Vaters und damit auch für das griechische Volk bereit war auf dem Opferaltar der Göttin Diana in Iphigénie en Aulide zu sterben. Aber der gemeinsame Tod von Orestes und Pylades hätte die Beziehung zwischen Iphigénie und ihrem Bruder nicht offenbart.
Der Einzige, der bei Gluck stirbt, ist Thoas in Iphigénie en Tauride. Sein Tod gehört jedoch immer noch zu einer Zeit des „Kalten Krieges“, in der es darum ging, die sogenannte Barbarei auszurotten. Heute würden wir vielleicht die Tat von Pylades als legitime Verteidigung bezeichnen, der Thoas in dem Moment tötet, in dem dieser sich anschickte, das Urteil zu vollstrecken, da Iphigénie nicht in der Lage war, den eigenen Bruder zu opfern, den sie gerade erkannt hatte. Iphigénie hatte Diana kurz zuvor erneut angefleht, sie mit der nötigen Grausamkeit auszustatten, um den unglücklichen Mann zu ermorden – eine freie Lizenz zur Barbarei, ein Ersatz für die Rechtfertigung, die sie für ihre Anwesenheit in Tauride nicht finden konnte. Während Thoas in Glucks Oper stirbt, geht Goethe in seinem Drama noch einen Schritt weiter: Iphigénie gesteht Thoas, dass das Opfer kein anderer als ihr Bruder ist. Er muss die Statue von Diana nicht länger stehlen, um „die von Apollon gewünschte Schwester“ in sein Land zurückzubringen: Iphigénie ist diese Schwester! Thoas vergibt und lässt die Griechen in ihre Heimat zurückzukehren. Damit setzt der Barbar der Barbarei und dem sozialen Problem einer wiederkehrenden Gewalt für immer ein Ende! Goethes Drama, das im selben Jahr wie Glucks Oper erschien, weist noch deutlichere Merkmale von der Aufklärung auf, die insofern es den vermeintlichen abscheulichsten Charakteren doch noch die Möglichkeit gibt, menschliches Verhalten anzunehmen. Wir erblicken damit erneut eine Verwandtschaftsbeziehung zu Die Entführung aus dem Serail von Mozart, wo sich der vermeintlich ungehobelte Bassa Selim durch die Befreiung der Europäer als viel menschlicher erweist, als es seine Gegner gewesen waren.
Aber die Götter sind jetzt müde! Von nun an müssen sich die Menschen Iphigénie und Orestes selbst helfen, denn außermenschliche Hilfe gibt es nicht mehr. In Iphigénie en Aulide hatte Agamemnon bereits erkannt, dass die Götter die wahren Verbrecher sind „Die Götter haben mein Verbrechen begangen!“ Aber er hatte nicht die Mittel, sich davon zu befreien! Im Gegenteil, sie erlaubten ihm, den Krieg zu rechtfertigen. Doch am Ende von Iphigénie en Tauride scheint sich der Fluch der Atriden aufzulösen, da die göttlichen Gebote überflüssig geworden sind. Der deutsch-ungarische Soziologe und Kunstkritiker Arnold Hauser (1892-1978) glaubt, dass die Neigung der Kunst und damit auch der Oper, sich unbegrenzt mythologischen Themen zu widmen, ein Vorwand ist um die aktuellsten philosophischen Fragen und die unmittelbarsten Probleme des bürgerlichen Lebens anzugehen.
Schon das Thema des Mythos von Iphigénie zeigt sehr deutlich, dass gegenseitiges Verständnis und das der Umgang mit Gewalt überflüssig sein kann – ebenso wie die Götter, die Opfer zu fordern scheinen und daher zur Gewalt aufrufen. Das zeigt Euripides noch einmal deutlich in seiner Tragödie Orest (408 v.J.C.), in dem er Apollon schließlich zu einem machtlosen und erschöpften Gott macht. Der Orest sicherlich einst befohlen hatte, Klytämnestra zu ermorden, der aber keine andere Lösung findet, als für Helena, die ebenfalls von Orest getötet wurde, einen Platz am Firmament zu schaffen, als wollte er sagen: „Seht, sie ist immer noch eine von uns!“ – ein äußerst künstliches Finale, dem der Komponist Gluck und seine Librettisten aus tiefsten Wunsch viel mehr Menschlichkeit hineinbringen wollten. Gluck zeigt uns Charaktere, die im 18. Jahrhundert entstanden sind, in der Antike verankert sind und uns aber noch auf fast unverständliche Weise berühren. Goethe hätte sagen können, dass er für Iphigénie eine Seele gab und dass er sie eine Seele finden ließ: Diese Seele ist die Musik!
Ô toi qui prolongeas mes jours,
Reprends un bien que je déteste,
Diana ! Je t’implore, arrétes-en le cours,
Rejoins Iphigénie au malheureux Oreste.
Hélas ! Tout m’en fait une loi !
La mort me devient nécessaire ;
J’ai vu s’élever contre moi
Les Dieux, ma patrie et mon père.
(Iphigénie en Tauride: Arie der Iphigénie, 1. Akt, Szene 1, Auszug)
LES IPHIGÉNIE(S) - Aufführung - Grand Théâtre de Provence / Aix-en-Provence - 08.07.2024
Iphigénie: Vor und nach dem entsetzlichen Trojanischen Krieges…
Wer hat Angst vor einer Doppel-Opernvorstellung? In jedem Herzen ist wohl Platz für eine schon mythische Kombination von La Voix humaine (1959) von Francis Poulenc (1899-1963) und Herzog Blaubarts Burg (1918) von Béla Bartók (1881-1945) in der äußerst mitreißenden Inszenierung des berühmten polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski (*1962). Dennoch war es eine große Herausforderung, Glucks Iphigénie(s) zusammen aufzuführen. Die beiden Opern, jeweils mit etwa einer Dauer von zwei Stunden, sind problemlos für sich allein stehend und – obwohl sie eine gemeinsame Protagonistin haben – scheinen sie dramatisch und musikalisch in unterschiedlichen Sphären zu spielen. Der revisionistische russische Regisseur Dmitri Tschernjakow machte sie zu zwei unterschiedlichen Seiten der selben Medaille: Eine Reflexion über Krieg und Opfer und vielleicht auch ein Opernmarathon für einige ausgewählte Zuschauer.
Schon beim Betreten des Hauses war es sehr klar, dass die fünf Stunden und dreißig Minuten dauernde Gluck-Saga die Opernliebhaber nicht unbedingt wie erwartet überzeugte. Die Galerien des sonst voll besetzten Grand Théâtre de Provence waren fast leer. Das Parterre war alles andere als voll – eine unwillkommene Überraschung nach meinem Erlebnis im selben Saal im Jahre 2023. Aber ein abnehmendes Publikum sagt nicht unbedingt etwas über die Qualität der Produktion aus.
Tchernjakow, der für seine drastischen Interpretationen von Opern bekannt ist, präsentierte eine intime, familiäre Darstellung, die selten nur gegen den Strich des Librettos ging. Obwohl die Charaktere „modernisiert“ wurden, zerstreuen nur wenige Momente den Eindruck, dass wir eine ungleichmäßige Produktion oder vielleicht einen einfallslosen Moment des Regisseurs vor uns haben. Die Opern wurden jeweils ohne Pause aufgeführt, aber mit einer langen Pause dazwischen, damit das Publikum hinausgehen und eventuell etwas essen konnte. Manche kamen zurück! Manche nicht! Iphigénie en Aulide wurde auf der in einem Haus voller halbtransparenter Wände aufgeführt, in denen wir die bekannte Tragödie als ein fast häusliches bürgerliches Familiendrama erlebten. Tchernjakows Szenographie in diesem Teil ist äußerst klaustrophobisch: Sowohl visuell als auch musikalisch! Der durchscheinende Stoff und die schweren Metallrahmen betonen die Illusion einer Invasion des Hauses. Leider wurden die Stimmen der Sänger teilweise beeinträchtigt und sogar einige der klangvollsten sehr gedämpft. Wir würden sagen, dass dieses an sich effektvolle Dekor nicht gerade Ideal für die menschliche Stimme war!
Iphigénie befindet sich hier in einer unmöglichen Familiensituation, in der alle anderen Charaktere darauf aus sind, ihren Tod mehr metaphorisch zu sehen. Während Agamemnon am meisten an ihrem Tod interessiert zu sein scheint, da er ihr Opfer braucht, um die Götter zu besänftigen, wird dies hier vielleicht als eine widersprüchliche Entscheidung eines ehrgeizigen Politikers dargestellt. Tchernjakow setzt auch die Investition von Clytemnestre und Achille in die Hochzeit der jungen Frau mit diesem Helden gleich mit dem sogenannten Akt des Sterbens. Wenn Iphigénie im zweiten Akt die Anwesenheit ihres Vaters bei der Hochzeit verlangt, erscheint dies vielleicht logischer. Angesichts einer narzisstischen Mutter und eines krankhaft erbärmlichen Verlobten ist es besser, dem Vater zu vertrauen, der einen lediglich töten [sic]will. Der bemerkenswerteste szenische Moment der Oper ist sicherlich ihr Ende: Es ist unklar, ob Iphigénie ihre Selbstverbrennung tatsächlich überlebt. Einerseits erscheint sie singend vor dem klaustrophobischen Haus und sieht der Familie gewissermaßen ins Gesicht, die sie tot sehen wollten. Auf der anderen Seite liegt eine Leiche auf dem Wohnzimmertisch, Iphigénies Doppelgängerin. Alle machen voller Freude Fotos von und mit der Leiche! Sie ist schließlich eine Brücke zur anderen Welt… zur mythologischen Welt…
Die zweite Oper: Iphigénie en Tauride, wird in den Ruinen desselben Hauses aufgeführt. Die dämpfenden Stoffe sind verschwunden und durch Lichtsäulen ersetzt, die den Blick des Publikum fesselnd lenken. Das Drama entfaltet sich als traurige Würdigung der Nachwirkungen des Krieges. Tatsächlich überflutet die Dunkelheit die Bühne und vermittelt das Gefühl, wir sind in eine Phantasmagorie eingedrungen. Während die Präsenz von Oreste und Pylade äußerst real wirkt, voller rauer körperlicher Interaktionen zwischen den beiden Männern, ist aber Iphigénie extrem gealtert und gespenstisch geworden: Vielleicht hat sie eigenes Opfer in der ersten Oper nicht überlebt?
Über die Diskussionen darüber hinaus, wer in der Oper am Leben war und wer nicht? Eine endlose Unterhaltung, die höchstwahrscheinlich zu keinem endgültigen Ergebnis führen kann! Doch funktioniert das gespenstige Element in Iphigénie en Tauride sehr gut als Erinnerung daran, wie der Krieg die Charaktere in Schatten ihrer selbst verwandelt. Das Trauma und die Skepsis werden greifbar! Als Orest Iphigénie am Ende einlädt, ihm als Königen zur Seite zu stehen, bleibt ihre Antwort leer! Sie setzt sich selbst an den Tisch und trinkt mit den anderen Opfern des Konflikts… des kalten Krieges… des zehnjährigen Trojanischen Krieges: Sie ist mittlerweile zu einer hoffnungslosen alten Jungfrau geworden!
Lohnt es sich, die beiden Opern an einem Abend zusammen zu sehen? Vielleicht nicht! Dramaturgisch dient Iphigénie en Aulide lediglich dazu, Iphigénie en Tauride noch besser zu machen! Letztere ist ein Meisterwerk, Erstere wird – in dieser Inszenierung – bestenfalls zu einem sympathischen Vorspiel. Ausserdem stellt sich die Frage: Wäre es eine Inszenierung eines romantischen Epos gewesen, dann käme das Publikum sicherlich in großen Scharen? Wir persönlich sind davon überzeugt, dass eine didaktische Inszenierung nicht umsonst ist, denn es ist wichtig ein gewisses Publikum aufzurütteln und ihnen die Welt zu zeigen: Wie sie leider ist!
Dennoch hatte der Abend sehr eindrucksvolle Momente. Vor allem mit der französischen Dirigentin Emmanuelle Haïm und ihrem exzellenten Ensemble und Chor Le Concert d’Astrée. Die Musikerin gehört zu den wenigen Dirigenten, die die besondere Fähigkeit haben, voll und ganz in eine Inszenierung einzutauchen und somit gewissermaßen eine durchdachte musikalischen Inszenierung zu enthüllen. Eine unersetzliche Hilfe für jeden Regisseur, der sich voll und ganz auf die Stimmen und die Inszenierung konzentriert.
Die Primadonna des Abends, die amerikanische Sopranistin Corinne Winters in der Rolle der Iphigénie, wurde vom Publikum mit herzlich empfangen und auch sehr gefeiert. Um ehrlich zu sein, schaffen es nur wenige Menschen, an einem Abend zwei Rollen mit unterschiedlichen stimmlichen Anforderungen zu singen. Ihre stimmliche Ausdauer ist mehr sehr lobenswert. Auch ihr szenisches Engagement war beeindruckend – besonders in Iphigénie en Tauride. Das Publikum schien ihre Ausdauer und ihr schauspielerisches Können sehr zu loben. Obwohl ihre Leistung äußerst gut war, aber es war doch nicht immer überragend und überzeugend! Ihre feste Stimme mit ihrem lyrischen Ton harmonierte in einigen Momenten wunderbar mit dem Orchester. Auch alle Arien waren genauestens interpretiert und wurden wunderschön gesungen – einige Momente in „Malheureuse Iphigénie“ waren besonders bemerkenswert – aber inmitten dieser großartigen Darstellerkollegen wurde Winters vielleicht ein wenig in den Schatten gestellt. Wir wollen uns nicht falsch verstehen, Winters hat ein wunderschönes Instrument, aber ihre Phrasierung hat etwas zu sicher geklungen: Vielleicht eine Art Selbstschonung für den langen Abend!
Eine erleuchtende Besetzung…
In dem französischen Bariton Florian Sempey finden wir einen überzeugenden und psychisch sehr geschädigten Oreste. Sempeys Gesang mit seiner kraftvollen Stimme beeindruckte alle mit der Fähigkeit, einen Blick auf seine ehemalige Kindlichkeit zu erhaschen, als ob sein eigenes inneres Ich für immer verwundet wäre. In „le calme rentre dans mon coeur“, als er von den Furien gequält wurde, ist sein Ton fast leer und infantil, was auch die große Schrecklichkeit seines Schicksals widerspiegelte.
Noch viel charismatischer war einwandfrei der französische Tenor Stanislas de Barbeyrac in der Rolle des Pylade. Die Stimme des Tenor klang nie besser! Seine baritonartige Stimme harmonisierte gut mit Sempey und ließ ihre Männerfreundschaft eher brüderlich als homoerotisch wirken. Seine Arie „Unis dès la plus tendre enfance“ wurde ohne jeglichen Anflug von Formalismus gesungen – äußerst flüssig und versöhnlich.
Der französische Bass-Bariton Alexandre Duhamel sang einen qualvollen Thoas. Seine Stimme verbarg nicht nur die unheimliche Angst der Figur. In seiner Arie war Dudamels Stimme rau und zitternd und er spiegelte die schreckliche Angst dieser Person wieder.
Die französische Sopranistin Véronique Gens in der Rolle der Clytemnestre war vielleicht die beste Sänger-Schauspielerin und das besonders beim Übergang zwischen Iphigénie en Aulide und Iphigénie en Tauride auf der Bühne. Gens, die als eine Mischung aus Katherine Hepburn (1907-2003) in Suddenly, Last Summer (1959) von Joseph Leo Mankiewicz (1909-1993) und auch die Hauptfigur in der Tele-Serie Cuna de Lobos (1986-2019) dargestellt wird, verlor nie ihre Fassung und szenische Würde. Clytemnestra ist nur in Iphigénie in Aulide eine aktive singende Figur, ihre Auftritte in Iphigénie in Tauris waren rein schauspielerisch und derart gespenstisch und stumm, aber dennoch bemerkenswert absurd. Stimmlich gesehen ist Gens weitgehend unübertroffen! Ihre Aufmerksamkeit für die Sprache ist extrem, nur wenige Opernsänger haben einen so kristallklaren Umgang mit der Sprache – keinerlei Untertitel ist erforderlich. Ihre letzte Arie war so dramatisch aufgeladen, wie man es sich nur selten vorstellen kann.
Dem kanadische Bariton Russel Braun gelingt es, einen vielleicht sympathischeren Agamemnon zu singen als vielleicht erwartet. Deutlich weniger narzisstisch als seine Frau und sein zukünftiger Schwiegersohn, weist sein erster Auftritt eine imaginäre psychologische Komplexität auf, die sich von den anderen Figuren in der Oper unterscheidet. Es gab einige Probleme mit der Stimmprojektion, insbesondere in einem für die Sänger sehr unfreundlichen Szenario, die ihn möglicherweise teuer zu stehen gekommen wären, insbesondere in Bezug auf die Feinheiten der Dynamik.
Der australische Tenor Alasdair Kent macht Achilles so widerwärtig wie möglich. Die Figur ist egozentrisch, ruhmsüchtig, begierig nach der Aufmerksamkeit der Leute für seine Person und wie das bei solchen Figuren immer der Fall ist, nicht sehr charmant, wie man sich vorstellen kann. Kent scheint ein Spezialist für die Darstellung dieser oberflächlichen, eitlen Männern zu sein – ein Talent zur Selbstironie, das bei einem Tenor vielleicht selten ist. Dennoch klingt seine helle Stimme mit ihren angenehmen hohen Tönen zart und manchmal sogar zerbrechlich, angesichts einer Figur, die einen Held und Krieger darstellen soll.
Die griechische Sopranisten Soula Parassidis singt mit viel Nüchternheit eine sehr traurige Diana.
Abschließende Gedanken…
Nachdem wir die Opern gesehen haben, sind wir uns noch immer nicht sicher, ob es eine würdige künstlerische Übung ist, die beiden Iphigénie(s) hintereinander aufzuführen. Für uns hat die Präsenz von Iphigénie in Aulide die musikalischen Qualitäten von Iphigénie in Tauride nur verstärkt, aber wir können nicht sagen, dass wir die erste Oper besser genossen haben als vorher. Dennoch ermöglichte vielleicht die Gegenüberstellung der beiden Iphigénie(s) in diesem teuflischen Labyrinth verpasster Verbindungen einer eventuellen Diskussion, die nicht nur über Krieg an sich, sondern auch über den Mythos als solchen erzählt. Wie flexibel können Mythen sein, wenn es darum geht, jede Geschichte zu erzählen, wie wir wollen? Wie flexibel ist Glucks Theater heute? (PMP/ 20.07.2024)