Prag, STATNI OPERA - Staatsoper, FLAMMEN - Oper von Erwin Schulhoff, IOCO Kritik, 25.06.2022
FLAMMEN - Oper von Erwin Schulhoff / 1932
MUSICA NON GRATA -THE INTERNATIONAL MUSICAL AND CULTURAL PROJECT - PRAG
von Peter Michael Peters
FLAMMEN DER LIEBE UND DES TODES…..
DON JUAN
- Vergeblich, Erlösung von einem Fluch zu suchen.
- Für immer verlockt von der lustvollen Woge der Körper,
- doch einmal in meinem Leben würde ich Liebe finden,
- lerne die Liebe kennen und vergehe, vergehe, vergehe…!
- K.J. Benes: Mitternachtsmesse, aus dem autographischen Klavierauszug von FLAMMEN
Flammen ist eine von Erwin Schulhoff (1894-1942) komponierte Oper in zwei Akten und zehn Szenen, es ist sein einziges Lyrisches Werk. Das ursprüngliche Libretto in tschechischer Sprache wurde von Karel Josef Benes (1896-1969) geschrieben. Die Oper wurde am 27. Januar 1932 in Brno (Brünn), Tschechien, im Landestheater (Zemske Divadlo), dem heutigen National-Theater in der Original-Version unter dem Titel Plameny uraufgeführt. Sie wurde erst Mitte der 1990er Jahre wieder gehört und zwar in der deutschen Übersetzung von Max Brod (1884-1968) unter dem Titel Flammen. Der Inhalt der Oper ist eine surrealistische Nacherzählung der Legende von Don Miguel Manara Vincentelo de Leca, oder Don Juan (1627-1679) mit Elementen der Geschichte vom ewig irrenden Juden Ahasverus und stark beeinflusst von Sigmund Freuds (1856-1939) Psychologie. Anders als der Don Giovanni (1787) in der Oper von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791), die auf derselben Legende basiert, wird Don Juan nicht in die Hölle verbannt, sondern zum ewigen ruhelosen Leben verdammt.
Kontext und Geschichte
Kurz nachdem Schulhoff im Jahre 1923 nach Prag zurückgekehrt war, traf er sich mit Brod, einem Freund und Biografen von Leos Janacek (1854-1928) und diskutierte mit ihm die Möglichkeit, eine Oper basierend auf die Legende des Don Juan zu schreiben. Brod schlug vor, dass ein neues Versstück des tschechischen Schriftstellers Benes eine geeignete Grundlage für das Libretto bilden könnte. Benes war über die Idee sehr begeistert und so begannen die beiden Künstler mit der Arbeit an der Oper, während Brod den Text ins Deutsche übersetzte. Schulhoff vollendete die Komposition der Oper im Jahre 1929. Die detaillierten Bühnenanweisungen des Komponisten forderten Bühnenbilder mit „durchdringender Dunkelheit, unterbrochen von verräterischem Licht- und Farbanschlägen“. Die Szenografie erinnert an einen Schattenchor, dessen Kommentar häufig verbale Bilder von Farbe und Licht verwendet. Die Premiere war ein großer Misserfolg und die Oper wurde nie in das Repertoire der Tschechoslowakei aufgenommen. Der Aufstieg der NSDAP und der Nazis in Deutschland und ihre Kampagne gegen die Entartete Musik, wie sie es nannten, verhinderten die geplante deutsche Erstaufführung in Berlin unter der Leitung von Erich Kleiber (1890-1956). Der Verlag von Schulhoff, Universal Edition, nahm die Partitur nicht zur Veröffentlichung an und die Oper wurde nicht mehr zu Lebzeiten des Komponisten gespielt. Er verstarb 1942 an Tuberkulose in einem Internierungslager in der Nähe von Würzburg.
FLAMMEN - Oper von Erwin Schulhoff - Premiere 12.6.2022 youtube Opera ND a SO [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Biografisches und Künstlerisches
Der Autor der Oper FLAMMEN ist auch der Schöpfer des Ballettmysterium Ogelala Op. 53 (1922) (wahrscheinlich sein beeindruckendstes Werk wegen seiner großen Verwegenheit und Wildheit!), mehrerer Sinfonien, verschiedener Kammermusikwerke und des Oratorium: Das Kommunistische Manifest Op. 82 (1932) gewidmet an Karl Marx (1818-1883). Seine Affinität zur Dada-Bewegung wurde 1919 bestätigt. Er komponierte Fünf Pittoresken für Klavier, Op. 31 (1919) gewidmet an Georg Grosz (1893-1959). Vier von ihnen entlehnen ihren Titel der Jazzmusik. Die dritte mit dem Titel In Futurum besteht ausschließlich aus Stille, von der Pause bis zum Sechzehntel eines Seufzers. Sie nahm John Cages (1912-1992) Stück 4’33‘‘ (1952) um mehr als dreißig Jahre vorweg. Im Jahre 1919 erschien auch seine sehr kurze Symphonia Germanica für Bariton und Klavier, Op. 33, die die deutsche Hymne verdrehte und entstellte, während sie gleichzeitig eine verzerrte elementare Version von La Marseillaise bildete. Es folgte die Sonata Erotika für Frauenstimme und Klavier, Op. 29 (1919 / In dem eine Sopranistin mehrere Minuten damit verbringt, einen sorgfältig notierten Orgasmus vorzutäuschen) und die Sonate Die Wolkenpumpe für Bariton und Instrumental-Ensemble, Op. 40 (1922).
Ogelala enthält eine der ersten Passagen nur für Schlagzeug, die von einem westlichen Musiker komponiert wurde. Schulhoffs Komposition Der Schädeltanz aus seinem Ballett Ogelala war gewissermaßen das Vorbild für die Schlagzeugmusik in der Oper Die Nase, Op. 15 (1930) von Dimitri Schostakowitsch (1906-1975) und für Ionisation (1933) von Edgar Varèse (1883-1965).
Als Jude, Homosexueller, Kommunist und Avantgardist war Schulhoff ein geeignetes Opfer für die Nazis, die ihn aufspürten und fanden, bevor es ihm gelang in die Sowjetunion zu fliehen. Sein Einwanderungsvisum erhielt er im Juni 1941, kurz vor dem Einmarsch in die Sowjetunion und dem Zusammenbruch des deutsch-sowjetischen Paktes. In Prag von den Deutschen festgenommen, wurde er als sowjetischer Staatsbürger in das Kriegsgefangenenlager Würzburg deportiert, wodurch er dem den Juden vorbehaltenen Schicksal entgehen konnte. Im Lager komponiert er weiter, Werke für Klavier, aber auch und vor allem seine Sinfonie Nr. 8 (unvollendet, Partitur nur für Klavier / 1941/42) die er als Hommage an massakrierte Mitgefangene zu schreiben unternimmt. Er starb am 18. August 1942, ohne sie beendet zu haben. Sie wurde von dem italienischen Musikwissenschaftler Francesco Lotoro (*1964) gefunden und editiert, der sich besonders für die in Lagern geschriebenen Musikwerke interessiert hat.
Entartete Musik
Entartete Musik ist sprichwörtlich „Musik, die von ihrer Art abweicht“! Der aus der Biologie abgeleitete Begriff entartet wurde vom Naziregime angewandt, um bestimmte Musikformen zu bezeichnen, die als schädlich oder dekadent galten: Insbesondere moderne Musik, Jazz und Musik, die von jüdischen oder kommunistischen Komponisten geschrieben wurde. Die Beschäftigung des NS-Regimes mit entarteter Musik war Teil einer größeren Kampagne gegen Entartete Kunst. In beiden Fällen versuchte die Nazi-Regierung die Werke zu isolieren, zu diskreditieren, zu entmutigen oder zu verbieten. Ihre Ideen haben jahrzehntelange antisemitische Schriften zur Musik und Kunst hervorgebracht.
Rassismus und Diskriminierung
Die verstorbenen jüdischen Komponisten wie Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) und Gustav Mahler (1860-1911) oder auch Giacomo Meyerbeer (1791-1864) wurden von den Nazis verschmäht und ihre Partituren verschwanden aus den Bibliotheken. In Leipzig wurde eine Bronzestatue von Mendelssohn entfernt und durch die von Anton Bruckner (1824-1896) ersetzt. Das Regime erlässt einen Kompositionsauftrag, um die Begleitmusik von Ein Sommernachtstraum (1826) von Mendelssohn zu ersetzen.
Nach der Machtergreifung durch die Nazis und insbesondere nach der Gründung der Reichsmusik-Kammer durch Joseph Goebbels (1897-1945) werden viele jüdische Komponisten, Modernisten oder bekannt für ihr antinazistisches politisches Engagement, auf schwarze Listen gesetzt oder von ihren Ämtern entlassen und erlebten immer mehr Schwierigkeiten ihre Musik spielen zu lassen. Viele gingen ins Exil, insbesondere Arnold Schönberg (1874-1951), Kurt Weill (1900-1950), Paul Hindemith (1895-1963), Berthold Goldschmidt (1903-1993), bestimmte nichtjüdische Komponisten, die aber als zu Modern galten wie Karl Amadeus Hartmann (1905-1963) und Boris Blacher (1903-1975) ziehen sich ins stille interne Exil zurück. Jedoch andere werden in Konzentrationslager oder in Tötungsanstalten wie Schulhoff, Viktor Ullmann (1898-1944) oder Hans Krasa (1899-1944) deportiert.
Die Ausstellung „Entartete Musik“ in Düsseldorf 1938
Die Ausstellung kuratiert von Hans Severus Ziegler (1893-1978), damaliger Direktor des Deutschen National Theater Weimar und dem Rassenideologen Alfred Rosenberg (1893-1946) sehr nahestehend. Ursprünglich hatte Ziegler diese Ausstellung als Fortsetzung der großen Ausstellung Entartete Kunst gedacht, die er 1937 in München besucht hatte, in der er auch Literatur einbeziehen wollte. Die Veranstaltung sollte bereits 1937 in Weimar stattfinden. Sie wurde schließlich als Kontrapunkt zum Reichsmusiktag organisiert, einer Initiative des Propaganda-Ministeriums von Goebbels, der die vom Naziregime geförderte Musik vorstellen wollte. Auf Grund der Rivalität zwischen Rosenberg und Goebbels hatte die Ausstellung nicht den erwarteten Erfolg und litt sogar unter dem Boykott des Präsidenten der Reichsmusik-Kammer, Peter Raabe (1872-1945). In seiner Eröffnungsrede, die im Katalog der Ausstellung abgedruckt war, erklärte Ziegler: „Atonalität als Ergebnis der Zerstörung der Tonalität ist ein Beispiel für künstlerische Entartung und Bolschewismus. Da außerdem Atonalität seine Grundlage in den Harmonielehren des Juden Schönberg findet, halte ich es für das Produkt des jüdischen Geistes“.
Der Öffentlichkeit stehen Hörkabinen zur Verfügung, in denen Aufnahmen von Musik gehört werden können, die bald verschwinden werden. Ausgestellt werden Fotografien oder Karikaturen von Komponisten, Auszüge aus theoretischen oder musikwissenschaftlichen Arbeiten zur modernen Musik. Aber auch Skizzen oder Fotografien von Operndekorationen und Auszüge aus Partituren wie z. B. der Oper Johnny spielt auf (1927) von Ernst Krenek (1900-1991).
FLAMMEN - Premiere 12. Juni 2022 - Statni Opera (Staatsoper), Prag:
Don Juan, ein philosophischer Skeptiker
Nachdem Schulhoff im 1. Weltkrieg furchtbare Gräueltaten miterlebt hatte, bezweifelte er, dass er jemals wieder zur Liebe fähig sein würde. Im Dezember 1918 schrieb er in sein Tagebuch: „Ich habe das ewig ruhelose Leben von Ahasverus begonnen.“ Und er erwähnt Ahasverus auch in seinem Prolog zur Oper und verweist damit auf die psychoanalytischen Theorien, die er kannte und an die er auch glaubte. „Nun, meine Damen und Herren, heute werden Sie den Charakter von Don Juan sehen, der sich nicht allzu sehr von dem seines klassischen Vorgängers, Lorenzo da Pontes (1749-1838) Don Giovanni, unterscheidet! Auch hier „Leidet, wer böses tut“ (Zitat von Mozart), allerdings im Sinne unseres weit fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts. Der literarischen Tradition gemäß ist unser Don Juan kein Draufgänger, sondern ein philosophierender Möchtegern. Die erschütternden Komplexe, die unseren Helden begleiten, ist seine Verworfenheit, die ihn sogar vom christlichen Altar verjagen wird! Er ist ein verzweifelter unerlöster Mann, der vor sich selbst flieht und weder irdische noch himmlische Liebe finden kann. Der wie Ahasverus zum ewigen Leben verflucht ist!“ (Prolog-Ausschnitt aus der Oper Flammen).
Mit den Worten des Komponisten sind wir schon mitten in das hektische ruhelose Leben von Don Juan eingetreten. Der spanische Regisseur Calixto Bieito hat mit viel Großzügigkeit und einer überaus glücklichen Hand eine außerordentliche tiefschürfende Inszenierung geliefert, die den Geist der beiden Schöpfer und die Sprache unserer Zeit hemmungslos übersetzt hat. Das Werk von Schulhoff und Benes scheint ihm perfekt unter die Haut zugehen! Es gibt wenig Sinn für eine lineare Erzählung, die durch 11 Szenen (Nacht, Lied des Feuers, Mitternachtsmesse, Chimäre, Galerie, Dialog, Sturm, Gespräch mit dem Meer, Karnevalsnacht, Bankett und Nacht) läuft der von vier seiner Opfer verfolgte Don Juan, der die ewige verdammte Figur darstellt. Während der Weibliche Tod - La Morte, die einzige Frau ist, die Don Juan nicht verführen kann, sondern ist seine allgegenwärtige Nemesis begleitet von sechs weiblichen Schatten, die als griechischer Chor fungieren. Don Juan ist der Verführer, der wie eine Art verlorenes Individuum sich inmitten seiner alten verstorbenen Eroberungen bewegt und auch diejenigen, die er gerne noch verführen möchte. Er wird während der gesamten Oper von diesen Toten verfolgt, es ist die Charakterisierung seines großen Verfolgungswahns. Für Don Juan ist keine Erlösung möglich, selbst der Komtur verweigert ihm den befreienden Tod, der Held ist dazu verdammt, durch seine Fantasien und Begierden zu wandern.
Die erzählerische Struktur des Werks entspricht in keiner Weise einer klassischen Oper. Diese dramatische Erfahrung orientiert sich eher am surrealistischen Film! Der damals avantgardistischen Malern nahestehende Komponist stellte eine geschickte Verbindung zwischen Farbe und Musik. Bieito verweist mehrfach auf das Theater der 1920er Jahre: Rampenbeleuchtung, Frontalspiel, Chor androgyner Frauen – Die Schatten – in schwarz gekleidet mit langen Regenmänteln und Melonenhüten, außerdem ein Ballett nackter Frauen mit bemalten Brüsten und Genitalien. Der Regisseur platziert die Handlung in einem abstrakten und dunklen Raum. Große gespannte schwarze Plastikplanen verschließen den Bühnenraum, so dass die Sänger die Plane aufreißen und durchqueren müssen, um die Bühne zu betreten. Aus Plastikfetzen tauchen Rauch, Lichter und ein Wald von Armen, Händen und Körpern auf. Man denkt unweigerlich an Jean Cocteau (1889-1963), an Luis Bunuel (1900-1983)! Bieito versucht eine persönliche Lektüre und Originalbilder, erfindet eine Galerie aus etwas verschwommenen Charakteren mit nicht leicht identifizierbaren Silhouetten: Ein verrückter junger Mann alias Harlekin, der eine tote schwarze Katze am Ende einer Kette schleppt und ständig allerlei Messungen vornimmt. Eine Frau mit einem farbigen Lutscher und schwarzen Luftballons, die sie am Ende eines Faden hält. Eine andere in einem lila Bademantel als Wassermelonen-schwangere Maria, die unbefleckte Jungfrau alias Donna Anna, die mit einem goldenen Madonnen-Kopfschmuck ihre „Wassermelone“ auf Don Juans Gesicht und Körper zerquetschte. Ein alter Mann mit gebeugtem Rücken. Ein Bärenjäger in Spalierhose alias Pantalone mit nacktem behaarten Oberkörper und einem Tierkopf versehen. Ein Leichenbestatter im dunklen Anzug. Eine blonde Frau alias der Weibliche Tod - La Morte im weißen Business-Anzug auf hohen Absätzen. Sie raucht unerlässlich ihre elektronische Zigarette und spuckt Rauchschwaden auf ihre Opfer. Ein schöner travestierter junger Mann mit Bart und Hippie-Frisur alias Pulcinella in langem Goldlamellenkleid mit Federboa und hochhackigen Stöckelschuhen.
Die nicht nur traumhaften Bilder: Ein Leichenwagen mit eingeschaltetem Scheinwerfer stürzt von oben durch die Plastikplane und bleibt in der Mitte der Bühne hängen. Der Held Don Juan wird mit verbundenen Augen wie in einer Kreuzigungsszene vom La Morte an den Leichenwagen gefesselt. Die Symbole (toter Hirsch, Widderkopf) und all diese faszinierenden, aber teilweise unklaren Figuren bilden eine Einheit, das die Fantasie anregt, aber leider mitunter etwas zu unklar ist. Die Frauen, einschließlich einer Nonne, werfen sich alle mit großer Begierde und Lust wie Prostituierte in Don Juans Arme und kreischen hysterische Zeilen wie: „Küsse, sauge, zerreiße mich, mein ganzer Körper gehört Dir“. Er reagiert mit wilder Wonne, behandelt sie sadistisch und wirft sie dann angeekelt beiseite, während er jedoch jämmerlich sein Schicksal beklagt. Sogar die noch nicht verführte Margarete ohne Faust verfällt in die Lustschlingen des geilen Verführers.
Die Partitur, in einer sehr verträumten und friedlichen Sprache, hat viele Referenzen wiederverwendet: Richard Wagners (1813-1883) Tristan und Isolde (1865), Schönberg, Alban Berg (1885-1935), Anton Webern (1883-1945), aber auch Claude Debussy (1862-1918) und viel Jazz-Musik. Der Einsatz von Gesellschaftstänzen wie den Foxtrott schafft manchmal einen faszinierenden Kontrast zwischen Handlung und Musik. Man ist auch unweigerlich an Werke wie Das Berliner Requiem (1928) oder auch Die Dreigroschenoper (1928) von Weill erinnert. Obwohl die Dramaturgie manchmal knarrt, ist die Bandbreite von Schulhoffs Partitur faszinierend. Seine Musik ist ausgesprochen eklektisch, mit dem Expressionismus von Berg (einige Passagen erinnern an Wozzeck, andere nehmen Lulu vorweg) neben klobigeren Momenten des Neoklassizismus im Stil von Hindemith.
Und trotz des aufdringlichen Bühnenlärms war es die lebendige Orchestermusik, die bei dieser Darbietung unter dem jungen talentierten tschechischen Dirigenten Jiri Rozen am besten zur Geltung kam. Unter seiner sensationellen Leitung spielte das Orchester der Staatsoper Prag hinreißend und göttlich. Mit viel Leidenschaft umarmte er dieses außerordentliche reichhaltige, wahnsinnige, kontrastreiche musikalische Schreiben. Wir genießen das Solo einer sinnlichen Flöte, das bezaubernde Spiel der Harfe, das der feierlichen Orgel, des virtuosen Klaviers. Jeder trägt zur symphonischen Ekstase, zum Klanggenuss bei! Offensichtlich ist Schulhoff nie auf eine Musiksprache gestoßen, die ihm nicht gefiel und fast jede von ihnen taucht in einer Partitur auf, die sich buchstäblich von Minute zu Minute ändert und von neoklassischer, sakraler, atonaler und Filmmusik durchzogen mit Unterhaltungsmusik und Jazz. Rozen bewältigte die schwindelerregenden Veränderungen mit Präzision und Ausgewogenheit und wechselte nahtlos von beruhigenden Harfen- und Glockenspielpassagen zu vollem orchestralem Tumult. Noch beeindruckender war er in den langen musikalischen Zwischenspielen, die die meisten Szenen voneinander trennten, wobei impressionistische Texturen den Ton und die Stimmung betonten. Flammen ist von Richard Strauss’ (1864-1949) Postromantik durchdrungen. Die klangliche Großzügigkeit, die sinnliche und schillernde Tonsprache erinnert an Franz Schreker (1878-1934) und Alexander von Zemlinsky (1871-1942). Hinzu kommen exotische Farben, hemmungslose moderne Klänge (Knarzen, Dissonanzen…), der perkussive und infernalische Stil und auch sogar einige Tango-Rhythmen.
Schulhoff besuchte Kabaretts und liebte das Tanzen. „Ich mag modische Tänze und manchmal tanze ich ganze Nächte mit einer Animierdame, nur um den Rhythmus und den sinnlichen Rausch zu genießen, der mein Unterbewusstsein erfasst. Dadurch erlange ich in meiner Arbeit eine phänomenale Inspirationsquelle“, sagte er in einem Brief an Berg. Zusammen mit einem laufenden Thema ungezügelter Lust bietet es Partnerwechsel, Blasphemie, Mord, Selbstmord, viel Blut, Sex mit Wassermelonen, Intimität mit einem toten Tier und eine Figur, die auf einem Auto gekreuzigt wird. Ganz zu schweigen von einer der innovativsten und kühnsten Opernpartituren des 20. Jahrhunderts – oder vielleicht überhaupt?
In Flammen gibt es zwei Hauptfiguren: Don Juan und der Weibliche Tod – La Mort, eine neu erfundene Figur, die in der Legende von Don Juan nicht vorkommt. Frauen können ihm nicht widerstehen und er kann nicht aufhören. Sogar der Weibliche Tod jagd ihn durch die Oper… Don Juan und La Morte stellen Leben und Tod in einem unaufhörlichen erotischen Kampf dar, dem keine Befriedigung gewährt wird. Gegenseitige Anziehung und Abstoßung für immer, wie im menschlichen Leben und wie in der Natur selbst. Der dritte Protagonist, dessen Gesangspart ebenso herausfordernd ist wie der von Don Juan, ist eine Gruppe von Sechs Schatten, die die Funktion eines griechischen Chors übernehmen. Die anderen Rollen (Donna Anna, Margarete, Frau, Nonne, Komtur, Harlekin, Pulcinella und Pantalone) sind Objekte von Don Juans Begierden, die an die Legende sowie an die Commedia Dell ‘Arte erinnern.
Nicht weniger schwierig ist die Partitur für die Sänger, denen nie eine Melodie vorgegeben wird. Typischerweise singen sie in einer anderen Tonart und einem anderen Tempo als das Orchester, das selbst oft in zwei verschiedene Richtungen gleichzeitig geht. Und die technischen Anforderungen der Gesangspartien sind sehr groß, besonders für Don Juan, der den größten Teil des Abends damit verbringt, vor Angst und Schmerz zu schreien. Der ukrainische Tenor Denys Pivnickij interpretiert einen entmythisierten Don Juan, einen gewöhnlichen Mann in Jeans und Hemd. Scharfes Lächeln, zurückgekämmtes Haar, der Verführer richtet weiterhin Chaos an. Er sucht mehr nach Seele als nach Fleisch! Unermüdlich und entfesselt gelingt dem Sänger eine anspruchsvolle und enorme Gesangs- und Bühnengestaltung. Auf der Motorhaube des schwarzen Leichenautos gekreuzigt, bietet ihm La Morte einen gierigen Kuss an, gibt ihn aber nicht frei. Die norwegische Mezzosopranistin Tone Kummervold war eine nahezu konstante gespenstische Präsenz auf der Bühne, musste aber bis zur letzten Szene auf ein substanzielles Solo warten, das sie mit ihrem üppigen dunklen Timbre in Klarheit und Autorität lieferte. Und in der Dreifachrolle der Ermordeten Geliebten, der Nonne und Donna Anna wurde die ukrainische Sopranistin Victoria Korosunova mehr körperlich misshandelt als es jemandem auf der Bühne gebührte. Sie sang und litt wunderbar! Die vielgeliebte Margarete wurde von der tschechischen Sopranistin Tamara Morozova mit einem jugendlichen hellem Timbre ausgezeichnet interpretiert. Mit einer wunderschönen tiefen Stimme sang der tschechische Bariton Jan Hnyk den ermordeten Komtur. Die Commedia dell’Arte-Figuren wurden rund und saftig mit viel ernstem Humor und ausgezeichneten Stimmen interpretiert: Der tschechische Bass Michal Marhold als Harlekin, der tschechische Tenor Vit Santora als Pulcinella, der tschechische Bass Jaroslav Patocka als Pantalone. Die wichtigen Schatten wurden mit viel Bravour und Können zwischen griechischen Unheils-Chören und Berliner Kabarettsongs mit einem Anklang von Orgeltönen und Heilsarmee-Melodien im Stil von Weill und Bertolt Brecht (1898-1956) mit drei Sopranen und drei Mezzo-Sopranen interpretiert: Magdalena Hebousse, Yukiko Kinjo, Tamara Morozova, Veronika Hajnova, Katerina Jalovcova und Stanislava Jirku. Der ausgezeichnete Staatsopernchor wurde von dem tschechischen Chordirektor Adolf Melichar einstudiert. Die Tänzer vom Staatsopernballett zeigten, das sie auch anders können, indem sie Foxtrott und Tango mit viel überschäumender Erotik und schelmischer Freude tanzten. Choreografie: Jiriho Hejny.
Trotz all dieser Verdorbenheit waren die beunruhigendsten Momente für das Publikum die zwei Punkte an der vierten Wand, die gebrochen waren. Man schließt die Oper ab! Nachdem wir über das Leiden der dunklen Ewigkeit gesungen haben. La Morte fordert das Publikum auf, sich ihr anzuschließen. Früher ist es Don Juan, der nach vorne auf die Bühne tritt, nachdem er sich seinem dunklen inneren Selbst gestellt hat, einen anklagenden Finger auf das Publikum zeigt und singt: „Ihr seid alle wie ich, alle Don Juans!“ Es ist fast automatisch, dass wir zurückzuschrecken und zu denken beginnen! Nein! Wir sind nicht wie er! Oder sind wir?
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MUSICA NON GRATA - musicanongrata.cz - Ein Opern- und Konzertzyklus des Nationaltheater Prag, der der Musik von Komponisten gewidmet ist, die von totalitären Regimen verfolgt wurden. Im Jahre 2022 werden Werke von folgenden Komponisten aufgeführt und gespielt: Hans Krasa, Franz Schreker, Mieczyslaw Weinberg (1919-1996), Erwin Schulhoff, Paul Abraham (1892-1960), Jaromir Weinberger (1896-1967) und eine Akademie über Musiker in Terezin.
(PMP/22.06.2022)
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