Prag, Statni Opera, Zyklus MUSICA NON GRATA - SUSANNA - FLORENTINISCHE TRAGÖDIE, IOCO
STATNI OPERA PRAG: Das phantastische Ende eines großen kulturellen Abenteuers… So endet nach mehr als vier Jahren mit dieser konzertanten Aufführung der ZYKLUS MUSICA NON GRATA in Prag - produziert von der Staatsoper Prag ........ mit der Unterstützung u.a. der Deutschen Botschaft aber auch ......
IM RAHMEN DES ZYKLUS MUSICA NON GRATA - Konzertant - SANCTA SUSANNA, Op. 21 (1922), Oper in einem Akt von Paul Hindemith, mit einem Libretto von August Stramm
EINE FLORENTINISCHE TRAGÖDIE (1917), Oper in einem Akt von Alexander von Zemlinsky, mit einem Libretto von Max Meyerfeld, nach einer Erzählung von Oscar Wilde.
von Peter Michael Peters
SKANDALÖSE EROTIK ZWISCHEN GLAUBEN UND HOFFNUNG…
Ich… Ich… Ich sprach es nie!
(KLEMENTINA hält ihr das Kreuz entgegen. SUSANNA reißt das Lendentuch von dem großen Kruzifix in einem Riss herunter)
So helfe mir mein Heiland gegen den euren!
(SUSANNA sinkt in die Knie und schaut zu ihm auf. Die Spinne fällt hinter
dem Kreuzesarm herunter in ihr Haar. SUSANNA schreit gellend auf
und schlägt mit der Stirn auf den Altar. Die Spinne kriecht über den Altar
und verschwindet dahinter. Die Horenglocke läutet grell durch die
Gewölbe, dazwischen schallt dumpf der Glockenschlag der zwölften
Stunde.)
(SUSANNA stört auf, fährt mit den Händen wild und wirr durchs Haar und
kriecht auf allen Vieren die Stufen des Altars herunter, in Entsetzen vor
sich selber fliehend. Mit dem letzten Stundenschlag verstummt die
Horenglocke.)
(Szene der Susanna aus Sancta Susanna / Text August Schramm)
Ein mutiger junger Mann…
Der Wunsch des jungen Komponisten, am Anfang der 1920er Jahre in das Opern-Genre einzusteigen, wurde wahrscheinlich durch seine direkte Erfahrung an der Frankfurter Oper geweckt. Wo Paul Hindemith (1895-1963) ab 1916 als Konzertmeister fungierte und damit zum jüngsten in der Geschichte dieses Opernhauses wurde. In diesem Zeitpunkt hatte er sein Studium am Musik-Konversatorium Frankfurt abgeschlossen und verfügte schon über fast ein Jahr Erfahrung im Ersten Weltkrieg, die er glücklicherweise größtenteils hinter der Front verbrachte. Ein Eintrag aus seinem Tagebuch vom 27. Mai 1918 bezeugt deutlich, dass er der Konfrontation mit den Schrecken des Kriegs-Wahnsinns nicht ganz entgangen ist: „Gegend Abend wurden in der Nähe der Stadt 8 Bomben abgeworfen. Eine traf den Munitionskonvoi, der 10 Minuten von uns entfernt biwakierte. […] Ein so schrecklicher Anblick! Blut, durchlöcherte Körper, Gehirne, ein abgerissener Pferdekopf, zersplitterte Knochen. Schrecklich! Unmenschlich! Wie gemein und gleichgültig man wird. Ich glaube nicht, dass ich vorher nach so einem Anblick in Ruhe hätte essen oder arbeiten können – und jetzt sitz man wieder zu Hause, zappelt, plaudert, ist gut gelaunt – kein Gedanke daran, wie bald die Glocke auch für uns wieder läuten könnte“.
Das Triptychon, nach dem Vorbild der bizarren Horror-Aufführungen des Pariser Grand-Guignol-Théâtre, bestehend aus den Einaktern Mörder, Hoffnung der Frauen (1919) nach dem Stück von Oskar Kokoschka (1886-1980), Das Nusch-Nuschi (1920) mit einem Libretto von Franz Blei (1871-1942) und Sancta Susanna (1921) mit einem Text von August Stramm (1874-1915), entstand zwischen 1919 und 1921. In allen Teilen gibt es absolut verrückte krankhafte Handlungsstränge: Mörder, Hoffnung der Frauen erzählt die Geschichte einer Frau, die bei Einbruch der Nacht die Kraft gewinnt, einen Mann zu besiegen. Er befreit sich jedoch mit dem ersten Hahnenschrei und tötet die Frau. Das Nusch-Nuschi, mit dem Untertitel Ein Stück für burmesische Marionetten erzählt die Geschichte des Dieners Tum Tum, der versucht, aus dem Harem des Kaisers Mung Tha Bya eine bestimmte Frau für seinen Herrn zu gewinnen und gerät in eine Situation, in der ein betrunkener General stürzt und Nusch-Nuschi „halb Ratte, halb Kaiman“ mit seinem Gewicht zerquetscht wird: Was eine Reihe weiterer verrückter Situationen auslöst!
Der Teil des Triptychons Sancta Susanna wurde vom 25-jährigen Hindemith in nur zwei Wochen an der Wende vom Januar zum Februar 1921 geschrieben. Die Oper ist ein Aufeinandertreffen von religiöser Hingabe und sexuellen Verlangen, eine Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber Gott und der instinktive „Durst“ der menschlichen Seele. Die Klosterwelt wird durch eine monotone Dynamik und Anklänge an mittelalterliche Choräle dargestellt, vor deren Hintergrund sich durch große raumgreifende Melodien-Linien und provokante Klangfärbungen die erwachende Sinnlichkeit der Nonne Susanna entwickelt. Durch die Wahl musikalischer Mittel, die oft die Grenzen der Tonalität überschreiten, setzt sich Hindemith mit dem Expressionismus auseinander. Formal behält die Oper jedoch unverkennbar die für die Neue Sachlichkeit typische klare Struktur. Bemerkenswert ist beispielsweise die meisterhafte Arbeit mit dem Hauptthema, das gleich zu Beginn von einer Soloflöte gespielt wird und später im Verlauf von 25 Minuten der Oper in Variationen weiterentwickelt wird. „Meiner Meinung nach wollte er in dieser Oper dissonante und konsonante Akkorde ausgleichen […]. Dissonanz stellt für ihn nicht unbedingt etwas dar, das aufgelöst werden muss, ganz im Gegenteil. Er liebt es sehr, Tonalität und Atonalität zu verbinden, wodurch außergewöhnlich Schönes entsteht: Eben außergewöhnliche Farben!“ sagte uns der deutsche Dirigent Karsten Januschke (*1980) über die Klangwelt von Sancta Susanna.
Die Partitur spiegelt auch die tiefe Erfahrung des Komponisten mit Kammermusik und eine fantastische Kenntnis nicht nur der Stimmlagen, sondern auch der Klangfähigkeiten einzelner Instrumente wider. Er konnte fast alle Instrumente eines Symphonie-Orchester selbst spielen.
Der Postbote August Stramm…
Die musikalische Struktur des Werkes wurde durch die Auswahl des Librettos vorgegeben, das auf kurzen, fragmentarischen Phrasen und ausdrucksstarker Wortfärbung aufbaute. Als junger Mann war Hindemith von den Werken expressionistischer Dichter wie Else Lasker-Schüler (1869-1945), Georg Trakl (1887-1914), Christian Morgenstern (1871-1914) und Rainer Maria Rilke (1875-1926) fasziniert. Viele der Texte, die er damals vertonte, stammten aus der offiziell erschienenen Reihe expressionistischer Literatur mit dem Titel Der jüngste Tag. Der Dichter August Stramm (1874-1915) gehörte zu den bedeutendsten Vertretern des Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts, obwohl er während dieser Zeit unter mangelnder Anerkennung litt und die Veröffentlichung der meisten seiner Werke waren leider nicht mehr zu seinen Lebzeiten. Stramm studierte berufsbegleitend Verwaltungsrecht, Volkswirtschaft, Finanzwesen und Kommunikations-Technik an der Post- und Telegraphen-Schule Berlin und setzte sein Studium von 1905 bis 1909 an den Universitäten in Berlin und Halle fort, wo er 1909 promovierte. Seine Dissertation befasste sich mit einer historischen, kritischen und kameralistischen Untersuchung der Brief-Porto-Tarife des Weltpostvereins und ihrer Grundlagen. Zwischen 1897 und 1902 hielt er sich als Mitarbeiter der Auslands-Abteilung der Deutschen Post häufig in New York auf. Wie der Literatur-Historiker Henry Marx (1882-1954) vermutet, deuten Stramms Briefe aus dieser Zeit darauf hin, dass er hier mit den Werken der sogenannten New Thought Writers wie Ralph Waldo Trine (1866-1958) und Prentice Mulford (1834-1891) bekannt wurde. Er begann sich 1902 ernsthaft dem Theaterstück zu widmen und vollendete 1905 sein erstes Drama Die Bauern, das erst nach seinem Tod im Jahr 1929 aufgeführt wurde. Sancta Susanna entstand um 1912 und gehört zu Stramms ersten wirklich ausgereiften Bühnenwerk.
Stramm nimmt die Welt als einen Ort wahr, der nicht aus statischen Objekten, sondern aus dynamischen Energien besteht. Damit führte er einen neuen, überraschenden Stil in die deutsche Vorkriegs- und Kriegs-Literatur ein, der sich durch seine Strenge und sprachlichen Experimente deutlich von den von der Neo-Romantik und dem Symbolismus beeinflussten Früh-Expressionisten unterschied. Seine gnadenlosen Texte, die die furchtbare große Spannung und Aggression der Vorkriegs- und Kriegszeit in sich trugen, ebneten den Weg für die Moderne. Laut dem Literatur-Historiker Ralf Schnell (*1943) fanden die schrecklichen Erlebnisse des Ersten Weltkriegs – innerhalb der Gesamtheit der deutsch-sprachigen Lyrik – ihren stärksten Ausdruck in der Lyrik von Stramm. „Wir selbst sind Dämonen und lachen über alles andere. So fühlt sich der Soldat auf dem Feld… Er tritt gegen die Erde und schießt den Himmel / Himmel zu Tode. Und das Grauen ist in ihm und um ihn herum, er selbst ist das Grauen,“ so schrieb Stramm 1914 in einem Frontbrief an seinen Freund Herwarth Walden (1878-1941), den Gründer der Avantgarde-Zeitschrift Der Sturm… Der Dichter fiel am 1. September 1915 während seines Dienstes in den Reihen der preußischen Armee bei einem Gegen-Angriff in der Stadt Haradok bei den naheliegenden Marschen im heutigen Weißrussland.
Eine skandalöse Premiere…
Die Uraufführung von Sancta Susanna in Frankfurt am Main am 26. März 1922 war ein riesengroßer Skandal. Viele Frankfurter Institutionen wie z. B. der Katholische Frauenbund protestierte energisch gegen die Aufführungen und forderte deren Absage. Die Oper wurde von Hindemiths zukünftigen Schwiegervater Ludwig Rottenburg (1864-1932) dirigiert, da Fritz Busch (1890-1951), der im Jahr zuvor Mörder, Hoffnung der Frauen und Das Nusch-Nuschi uraufgeführt hatte, sich weigerte das Werk wegen seines blasphemischen Charakters zu dirigieren. Trotzdem galt Sancta Susanna zu dieser Zeit als der stärkste Teil des Triptychons. Der renommierte Kritiker Theodor W. Adorno (1903-1969) kommentierte es im Jahr 1922: „Bemerkenswert ist, wie Hindemith hier in den sicher reifsten seiner Bühnenwerke gleichzeitig das thematische Aufwallen des Orchesters, dazu mit weiten geschwungenen Gesangs-Melodien, die die nasse Feuchtigkeit der Frühlingsnacht und die katastrophale Kraft aus dieser einzigen Grundkraft zu generieren vermag in einer verfestigten, sinnlichen und plastischen betonartigen Form, die nur in seinen Händen in ein Symbol tierischer Instinkte verwandelt werden kann.“ Prag hatte die Gelegenheit, alle drei Opern – Mörder, Hoffnung der Frauen, Das Nusch-Nuschi und Sancta Susanna – an einem einzigen Abend am 3. März 1923 im Neuen Deutschen Theater unter der Leitung von Alexander von Zemlinsky (1871-1942) und der Regie von Louis Laber (1889-1929) zu sehen. In der jüngeren tschechischen Geschichte wurde Sancta Susanna nur einmal aufgeführt und zwar 1994 in einer von Bruno Bayen (1950-2016) inszenierten Version und der musikalischen Leitung des amerikanischen Dirigenten Anthony Newman (*1941) im Rahmen der Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)-Stiftungs-Akademie auf der Burg Dobris. Die Rolle der Schwester Klementina wurde von der damals noch sehr jungen und der Welt noch unbekannten tschechischen Mezzo-Sopranistin Magdalena Kozena gesungen, Susanna wurde von der kanadischen Sopranistin Nathalie Paulin verkörpert. Dieses außer-gewöhnliche Werk kehr nach 101 Jahren wieder auf die Bühne der Staatsoper Prag zurück.
Ein Drama, das nie begonnen hatte…
Wer spricht vom Tod? Vom Tod soll keiner sprechen!
Was sucht der Tod in so vergnügtem Haus, wo nur ein Weib, ein Gatte, ein Freund ihn grüßen? Lass den Tod dort Einkehr halten, wo man die Ehe bricht, wo keusche Frauen, die ihrer edlen Männer überdrüssig, den Vorhang ihres Ehebettes lüften und in besudelten, entehrten Kissen der unerlaubten Wollust frönen! Ja, es ist seltsam und doch so! Du kennst die Welt nicht. Du bist zu unverdorben, zu ehrbar. Ich kenne sie. Und wollt‘, es wär nicht so. Doch Weisheit kommt mit Wintern, grau wird‘ ich, und längst floh Jugend meinen Leib. (Szene des Simone aus Eine florentinische Tragödie)
Zemlinsky komponierte die einaktige Oper Eine florentinische Tragödie mit einem Libretto von Max Meyerfeld (1875-1940) auf der Grundlage eines literarischen Werks von Oscar Wilde (1854-1900), während er in seiner sechsten Spielzeit als Musik-Direktor der Oper am Neuen Deutschen Theater Prag arbeitete. Von der Saison 1911/12 wurde er von Heinrich Teweles (1856-1927), dem Nachfolger von Angelo Neumann (1838-1910) verpflichtet. Zemlinskys sechzehnjährige Amtszeit in Prag von 1911 bis 1927 hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck im Musikleben der Stadt. Er brachte nicht nur die neuesten europäischen Opern in das ständige Repertoire wie Arnold Schönberg (1874-1951), Ernst Krenek (1900-1991), Kurt Weill (1900-1950), Erich Wolfgang Korngold (1897-1957), Hindemith und Franz Schreker (1878-1934), sondern stellte ein Jahr später auch erstmals tschechische Komponisten wie Bedrich Smetana (1824-1884) mit Der Kuss (1876), Die verkaufte Braut (1866) vor und Leos Janaceks (1854-1928) Jenufa (1904) zum Repertoire des Neuen Deutschen Theater Prag, allerdings in deutschen Übersetzungen. Im Neuen Deutschen Theater bereitete er über sechzig Operntitel vor und dirigierte fast neunzig Konzerte. Er wurde außerdem zweimal zum Rektor der Deutschen Akademie für Musik und darstellende Kunst gewählt, wo er Dirigieren und Komposition lehrte und 1922 wurde er Mitbegründer und Vorsitzender des neu gegründeten Verein für musikalische Privat-Aufführungen. Auf Einladung von Vaclav Talich (1883-1961) arbeitete er mit Tschechischen Philharmonie zusammen und dirigierte sie im Laufe seines Lebens insgesamt dreiunddreißig Mal. Er beendete seinen Aufenthalt in Prag im Jahr 1927, als er an die Kroll-Oper (heutige Deutsche Oper Berlin) nach Berlin ging.
Der Dramatiker, Romanautor, Dichter und Essayist irischer Herkunft Wilde, übrigens Autor des von Richard Strauss (1864-1949) vertonten Theaterstück Salome (1905), begann 1893 mit dem Schreiben seines Dramas Eine florentinische Tragödie. Die Wortwahl „begann zu schreiben“ ist hier durchaus bewusst, denn von dem geplanten abendfüllenden Theaterstück ist nur ein einziger Akt erhalten geblieben, beginnend mit der zweiten und nicht mit der ersten Szene. Damit beendete Wilde „ein Drama, das er nie begonnen hatte“, wie der Autor, Musik-Wissenschaftler und Dirigent Beaumont in der kritischen Ausgabe von Eine florentinische Tragödie witzig bemerkte. Die Fertigstellung des Dramas wurde durch eine zweijährige Haftstrafe mit Zwangsarbeit behindert, zu denen Wilde wegen seiner Affäre mit Lord Alfred „Bosie“ Douglas (1870-1945) verurteilt wurde.
Das literarische Rätsel, das Wilde hinterlässt, muss also jeder Regisseur lösen! „Als Max Reinhardt (1873-1943) die Weltpremiere von Eine florentinische Tragödie in Berlin inszenierte, ließ er hinter der Bühne einfach jemanden ein Ständchen singen, um eine Art erotische Atmosphäre zu schaffen. Und als das Stück zum ersten Mal in England aufgeführt wurde, gab Robert Baldwin Ross (1869-1918) bei einem anderen Autor eine Eröffnungsszene in Auftrag, die jedoch offenbar „gestorben“ war und nie in die gedruckten Ausgaben aufgenommen wurde. Und so blieb Zemlinsky mit dieser offenen Einladung an einen Komponisten zurück, eine erotische Szene nur für das Orchester zu schreiben. Es ähnelt stark dem Beginn des 1. Akts von Strauss‘ Der Rosenkavalier (1911), den Zemlinsky kannte und auch oft dirigierte. Der Anfang ist sehr heftig und brutal, voller maskuliner Gesten, sagen wir mal und dann versinkt alles wieder in träge Erschöpfung. Als sich der Vorhang hebt, kehrt Simone von seiner Reise zurück. Ich glaube, dass Guido zu diesem Zeitpunkt bereits seine andere Bekleidung wieder angezogen hat und irgendwo in der Ecke sitzt und Wein trinkt. Das ist also auch die Lösung von Zemlinsky, die meiner Meinung nach sehr, sehr überzeugend ist“, sagt Beaumont. „Was das Ende der Oper angeht, war Zemlinsky damit nicht zufrieden, ebenso Ferruccio Busoni (1866-1924), der es einen Witz nannte, es aber für die erste Aufführungs-Serie in Stuttgart, Prag und Wien stehen ließ. Doch dann dirigierte ein Freund von ihm die Oper in Graz und sie müssen wohl dieses Problem diskutiert haben. Also komponierte Zemlinsky ein oder zwei Seiten mit zusätzlicher Musik und zusätzlichem Text, den er einfügen konnte, bevor Bianca sagt: „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du so stark bist?“ Leider ist diese Passage verloren gegangen, aber wir wissen, dass sie existierte, weil Zemlinsky sie in einem Brief an Schönberg und an die Herausgeber erwähnte“, sagt uns Beaumont. Das literarische Fragment von Eine florentinische Tragödie lockte mehrere große Komponisten seiner Zeit an, darunter auch Giacomo Puccini (1858-1924), den bereits erwähnten Busoni oder Sergei Sergejewitsch Prokofjew (1891-1953), dessen Librettistin Magda Gustavovna Lieven-Orlov (1885-1943), die unter dem Pseudonym Baron Lieven schrieb, sie adaptierte das Thema von Eine florentinische Tragödie in das Stück Maddalena, das Prokofjew 1911 vertonte.
Der Text von Wilde inspirierte Zemlinsky zu nervös wechselnden harmonischen Texturen und schillernden Klangfarben, in denen an der Oberfläche bezaubernde Arabesken erblühen, während sich in der Tiefe erschreckend dunkle Abgründe auftun. Das im 16. Jahrhundert in Florenz angesiedelte sechzigminütige Fresko bezieht sich auf die „femme fatale“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Alma Mahler (1879-1964), mit der Zemlinsky am Anfang des Jahrhunderts eine jahrelange leidenschaftliche Liebesbeziehung erlebte. Der Komponist deutete gewissermaßen auf Almas außerehelichen Beziehungen mit dem Architekten Walter Gropius (1883-1969) hin, mit dem sie Gustav Mahler (1860-1911) betrog. In einem Brief an Alma, der das Werk nicht gefiel, versuchte Zemlinsky auf anklagende Weise, sich mit der großen emotionalen Verfassung seiner Figuren und dem Beziehungs-Konflikt von Alma zu identifizieren. „Zwei Menschen, beide von edler Natur, gehen im Leben durch einen Trick des Schicksals immer wieder aneinander vorbei. Er vernachlässigt die Schönheit der lebensdurstigen Frau neben ihm. Sie verbringt ihre Jahre an der Seite ihres Mannes und wartet darauf, endlich zu leben, fühlt sich ihrer Jugend und Schönheit beraubt, wird grausam und Elend, scheinbar voller Hass. Es bedarf einer großen Katastrophe, bis beide aufwachen […]! Aber ausgerechnet Sie haben den ganzen Sinn der Geschichte nicht verstanden?“ Aber die Oper ist noch mit anderen verborgenen Bedeutungen gefüllt! „Es gibt so viele Phobien in Eine florentinische Tragödie! Simone ist der hässliche Jude, keine Frage. Guido ist ein junger gutaussehender Christ. Und Bianca? Heutzutage könnte man im amerikanischen Sprach-Gebrauch sagen, dass sie eine „Schlampe“ ist. Zemlinsky drückte auch sein tiefes Mitgefühl für die Arbeiterklasse aus. Bianca ist eine einfache arme Frau, die nähen muss, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Als Simone zu ihr sagt, „dass dich jeder Tag an deinem Spinnrocken finden wird“, ist die begleitende Musik überhaupt nicht glücklich! Andererseits ist es auch sehr traurig und schleppend schwer“, sagt Beaumont.
Ein großer Opern-Schatz…
Mit Eine florentinische Tragödie hinterließ Zemlinsky ein Werk, das aus vielen Gründen als eine der bemerkenswertesten Opern-Schöpfungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten kann, wie auch seine Uraufführung in Stuttgart im Januar 1917 nahelegt: „Seit es Wildes Fragment gibt – insbesondere von dem Moment an, als Reinhardt es auf die deutschen Bühnen brachte und Josef Kainz (1858-1910), der die männliche Hauptrolle verkörperte, damit um die halbe Welt tourte, gilt Eine florentinische Tragödie als ein brillantes Thema für Musik-Dramen. Viele haben es begriffen, aber ebenso viele haben es letztendlich beiseitegelassen. Die Aufgabe ist ebenso tückisch wie verlockend und es bedarf eines Künstlers von gleicher Statur, um das Rätsel zu lösen. Es war zu erwarten, dass Zemlinsky eine Lösung finden würde. Ausgestattet mit dem Arsenal eines modernen Musikers, der alles beherrscht von Kopf bis Fuß ein Original, bei aller künstlerischer Raffinesse echte Leidenschaft besitzt, ein Vollkünstler durch und durch, hatte er lange auf eine Inspirations-Quelle für eine „große Tat“ gewartet. Ein Künstler seines Niveaus musste eine Leidenschaft für dieses Material haben und nur ein solcher Künstler konnte es auch beherrschen. Die mit der Ankündigung des neuen Werkes verbundenen Erwartungen wurden von Zemlinsky nicht enttäuscht. Seine Oper Eine florentinische Tragödie ist ein stimmiges Werk aus einem Guss. In seiner musikalischen Interpretation wurde Wildes Drama wiedergeboren, so wie einst Salome in Strauss‘ Interpretation wiedergeboren wurde“, schrieb das Neue Wiener Journal über die Premiere in Stuttgart am 3. Februar 1917. Über den Erfolg der Stuttgarter Premiere berichtete auch das Prager Tagblatt am 31. Januar 1917: „Die Premiere fand gestern im Beisein des Königspaares und bulgarischer Künstler und Schriftsteller, die sich derzeit in Stuttgart aufhalten, statt und es war ein eindeutiger Triumpf für Zemlinsky […]. Wildes Thema mit seinem unerwarteten Ausgang hatte das Publikum offenbar so überrascht, dass es eine zurückhaltende Haltung gegenüber dem Drama einnahm. Dennoch machte Zemlinskys Musik einen so großen Eindruck, dass der Komponist am Ende noch zweimal auf die Bühne gerufen wurde“. Interessant ist, dass die Rolle des Guido Bardi bei der Weltpremiere von dem Tenor Rudolf Ritter (1878-1966) gesungen wurde, der aus der nordböhmischen Stadt Most stammte. Simone wurde von dem deutschen Bariton Felix Fleischer-Janczak (1886-1964) dargestellt und seine Frau Bianca von der berühmten Wagner-Heldin, der österreichischen Sopranisten Helene Wildbrunn (1882-1972).
SUSANNA - FLORENTINISCHE TRAGÖDIE - Konzertant Staatsoper Prag - 6. April 2024
Religion, Sex und außereheliche Beziehungen…
Diese beiden einaktigen Opern zeigen sich äußerst Ideal als Zwillingspaar an einem Abend, denn beide haben gewissermaßen die gleiche Thematik: Verbotene Liebe (im Sinne von konventionellen gesellschaftlichen Werten!)! In der Rolle der Susanna beweist die tschechische Sopranistin Tamara Morozova ein sehr starkes sinnliches Engagement, indem sie diese fast gehäutete Schwester verkörpert: Sowohl durch ihr Verlangen als auch durch das Verbot, unter dem sie sehr zu leiden scheint. Die tschechische Mezzo-Sopranistin Lucie Hilscherova ist ebenso dramatisch wie die Rolle der verängstigten Klementina. Ihr großzügiges und tiefes Timbre ist angenehm, aber die Projektionen ihrer Stimme scheint durch die Tiefe der Vertonungen beeinträchtigt zu sein. Dies gilt auch für die tschechische Altistin Milena Strycevic in der Rolle der Alten Nonne, die dennoch einen intensiven Ton hat, den sie sehr ausdrucksstark zu gestalten weiß, in perfekter Harmonie mit ihrer Rolle, die sie verkörpert. Wir würden die präzise und sehr engagierte Arbeit des Orchesters der Staatsoper Prag, deren Zusammenhalt und Aufmerksamkeit für die beiden Werke bemerkenswert sind. Die zunächst zurückhaltende Orchester-Leitung des deutschen Dirigenten Karsten Januschke blüht allmählich auf. Aber wenn man die Sänger zu stark betont, wird es manchmal schwierig, die Details der Instrumental-Variationen und die Brüche in der Partitur zu hören, insbesondere in Eine florentinische Tragödie. Das Orchester der Staatsoper Prag stimmte zweifellos besser mit Januschkes Vorschlag für Sancta Susanna überein und der Dirigent schien den dramatischen Verlauf von Hindemiths Werk aufmerksamer zu verfolgen als den von Zemlinsky.
Offensichtlich ist das Orchester hier König und das Orchester der Staatsoper Prag erweist sich als besonders fesselnd und verschwenderisch in den üppigsten Klängen. Der Zuhörer gerät ungewollt in den von Januschke organisierten Strudel, von dem wir nur bedauern, dass die beiden Werke nur einem Abend gespielt werden.
Der deutsche Bariton-Bass Joachim Goltz als Simone ist einfach überwältigend. Ein großer Wotan ist für eine solche schwierige Rolle das Allerwenigste: Simone ist fast ständig auf der Bühne, er monopolisiert die Rede auf die Gefahr hin, die beiden anderen Charaktere zu bloßen Kumpels zu machen. Sicherlich beklagt er seine grauen Haare und den Verlust seiner Jugend, aber Zemlinskys gnadenlose Partitur erfordert einen Interpreten, der im vollen Besitz seiner Fähigkeiten ist. Mit Goltz hat der Schauspieler-Sänger seine Figur perfekt im Griff, die keine Geheimnisse mehr für sich hat, das Timbre ist üppig geblieben, nur die hohen Töne wirken leider mitunter ein wenig müde. Angesichts einer solchen Inkarnation hat der tschechische Tenor Josef Moravec in der Rolle des Guido Bardi sehr viel Mühe: So zu verführen wie er sollte! Alle Töne stecken in seiner Stimme, was schon viel ist, aber es mangelt ihm an Begeisterung und Sensualität. Die Rolle der Bianca wird von der deutschen Mezzo-Sopranistin Corinna Scheurle interpretiert, da aber ihre Rolle nicht allzu viel zu singen hat: Können und wollen wir leider nicht ein Urteil über ihre Gesangskapazität abliefern!
Noch einmal zusammen gefasst: Diese musikalischen Zwillinge sind eine einmalige Köstlichkeit für den aufgeweckten modernen Musikliebhaber. Wir persönlich haben diese sinnliche schwüle und dekadente Musik überaus genossen, ganz zu schweigen von dem scharfen kantigen ja fast krankhaften Text beider Werke. Wir sind sicher das diese Musik… dieser Text… auch heute noch neue Skandale provoziert: Natürlich besonders in katholischen Gebieten und bürgerlichen Kreisen!
Das phantastische Ende eines großen kulturellen Abenteuers…
Somit endet nach mehr als vier Jahren mit dieser konzertanten Aufführung dieser einmalige ZYKLUS MUSICA NON GRATA in Prag. Der Zyklus wurde koproduziert von der Staatsoper Prag, dem National Theater Prag, dem Rudolfinum Prag mit der Unterstützung der Tschechischen Republik, der Deutschen Botschaft, aber auch vieler anderer wichtiger europäischer Institutionen: Hindemith-Stiftung, Alexander-von-Zemlinsky-Fonds, Goethe-Institut, Arnold Schönberg-Zentrum, Ghetto-Museum Theresienstadt, Polnisches Kulturzentrum Prag, u.v.a.
Von August 2020 bis April 2024 ermöglichte es die Entdeckung bzw. Wiederentdeckung einer großen Vielzahl lyrischer, aber auch symphonischer Werke aus der Feder dieser vom NS-Regime als „entartet“ bezeichneten Musiker. Größtenteils jüdisch, aber nicht ausschließlich, da alles was mit einer modernistischen, rebellischen, erfinderischen, subversiven Ästhetik im Zusammenhang mit dem Jazz zu tun hatte, in den Rang dieser MUSICA NON GRATA verbannt wurde, die dem Prager Zyklus seinen Titel gibt. Die Werke der in diesen vier Jahren programmierten Komponisten wurden aus den Theatern und Konzertsälen der unter deutschen Herrschaft stehenden Länder verbannt. Viele von ihnen wurden vor allem nach Theresienstadt deportiert und dann in Auschwitz ermordet. Einige von ihnen konnten rechtzeitig fliehen und erlebten ein weniger schlimmes Schicksal, indem sie in USA auswanderten: Um eine andere Karriere zu verfolgen!
Die Musik all dieser Ausnahmekünstler wirkt heute wie ein faszinierender Schmelztiegel, als Quelle von Entdeckungen, als Quelle kreativer Ideen und extravaganter Errungenschaften. Denn wenn das Schicksal dieser Komponisten fast immer tragisch war, bilden ihre Werke ein sehr breites Spektrum an musikalischen Ideen…
Folgende Aufführungen des ZYKLUS MUSICA NON GRATA hat IOCO für sie gesehen:
12.06.2022 Erwin Schulhoff: FLAMMEN (1932), link HIER
06.10.2022 Paul Abraham: BALL IM SAVOY (1932), link HIER!
09.10.2022 Jaromir Weinberger: SCHWANDA, DER DUDELSACKPFEIFER (1927/1933), link HIER
23.02.2023 Victor Ullmann: DER ZERBROCHENE KRUG (1942)
DER KAISER VON ATLANTIS (1943)
06.04.2024 Paul Hindemith: SANCTA SUSANNA (1922)
Alexander von Zemlinsky: EINE FLORENTINISCHE TRAGÖDIE (1917)
07.04.2024 Alexander von Zemlinsky: KLEIDER MACHEN LEUTE (1910/1922) (PMP/10.05.2024)