Paris, Théâtre Des Champs Élysées, SEMELE - G.F. Händel

PARIS: Semele und der Schlaf… Der Schlaf ist vielleicht der merkwürdigste aller menschlichen Zustände. Beinahe ein Drittel unserer Lebenszeit ist ihm geweiht, aber im Verhältnis dazu machen wir nur sehr wenig Aufhebens über diese lange Periode in unserem Dasein. Dabei

Paris, Théâtre Des Champs Élysées, SEMELE - G.F. Händel
Théâtre des Champs-Élysées, Paris © wikimedia commons

von Peter Michael Peters

 11.02.2025 . George Friedrich Händel: SEMELE (1744) - Opera after the manner of an Oratorio, HWV 58 - Libretto von William Congreve nach den Metamorphosen von Ovid, wahrscheinlich adaptiert von Newburgh Hamilton (*)

GEORG FRIEDRICH HÄNDEL, London c. IOCO

METAMORPHOSEN EINES SANFTEN GOTTES…

Conjure him by his oath

Not to approach your bed

In likeness of a mortal,

But like himself, the mighty thunderer,

In pomp of majesty.

And heav’nly attire;

As when he proud Saturnia charms,

And with ineffable delights

Fills her encircling arms,

And pays the nuptial rites.

You shall partake then of immortality,

And thenceforth leave this mortal state

To reign above

Ador’d by Jove,

In spite of jealous Juno’s hate. (Rezitativ der Juno / 3. Akt / 3. Szene /Auszug)

 

Semele und der Schlaf…

Der Schlaf ist vielleicht der merkwürdigste aller menschlichen Zustände. Beinahe ein Drittel unserer Lebenszeit ist ihm geweiht, aber im Verhältnis dazu machen wir nur sehr wenig Aufhebens über diese lange Periode in unserem Dasein. Dabei ist der Schlaf nicht nur ein angenehmer  Zustand, der uns für einige Zeit von den Sorgen und Ängsten des Alltagslebens entbindet, uns vom Kampf ums Überleben befreit – er ist überhaupt lebensnotwendig. Wem der Schlaf auf Dauer entzogen wird, der erleidet erst Wahnvorstellungen und muss schließlich sterben. Wie erquickend der Schlaf auch immer sein mag, so ist er doch letztlich ein unheimliches Phänomen, eine irrationale Insel in einer vom Verstand geregelten Welt. Vor allem aber erinnert er uns an den Tod! Kein Wunder, dass der Schlaf trotz seiner Allgegenwart nicht nur im realen Leben, sondern auch in einem Kunstwerk wie von William Congreves (1670-1729) und Georg Friedrich Händels (1685-1759) Semele gleichsam eine Hauptfigur in einer Nebenrolle ist.

Haendel, Semele | Pretty Yende | Endless Pleasure, Endless Love © Théâtre des Champs-Elysées & Youtube

Als der Dichter Congreve den Semele-Stoff um 1706 in (opern)dramatische Form brachte, hätte er gänzlich darauf verzichten können, den Schlaf in sein Drama einzuführen. Ovid, in Latein Publius Ovidius Naso (43 v. Chr.-18 n. Chr.), der die Sage von Semele in seinen Metamorphosen (1. Jahrhundert)  erzählt, erwähnt die Somnus-Episode mit keinem einzigen Wort. Bei ihm ist Semeles Palast nicht von tausendäugigen schlaflosen Drachen bewacht: Ohne Somnus‘ Hilfe dringt die eifersüchtige Junon zu ihrer Rivalin Semele vor und auch der Göttervater bedarf keines aufreizenden Traumes, um seiner sterblichen Geliebten voreilig die Erfüllung jeden Wunsches zu versprechen. Was interessierte Congreve, Händel und ihre Zeitgenossen dann aber so sehr am Schlaf, dass man ihn auf der Opernbühne sehen und im Oratorium von ihm hören wollte? Was wussten sie überhaupt über ihn? Ein nüchterner Blick in ein Lexikon der Zeit gibt uns nähere Auskunft! Schlagen wir beispielsweise den entsprechenden Artikel in Johann Heinrich Zedlers (1706-1751) Universal-Lexikon (1731) auf, der zwei Jahre vor der Uraufführung von Händels Semele erschien, dann sehen wir, dass das Thema Schlaf die Zeitgenossen durchaus beschäftigt hat. Es ist die Zeit der beginnenden Aufklärung! Mit wachem naturwissenschaftlichem Interesse rückt man dem Thema zu Leibe, aber ohne sich ganz von den Theorien der Antike oder den Vorstellungen aus Religion und Aberglaube befreien zu können. Der Schlaf, so meinten die Wissenschaftler, diene dem Regenerieren der Nerven- und Nahrungssäfte, die Träume seien ungeordnete Vorstellungen der vom Leib befreiten Seele. Übernatürliche Träume allerdings – auch die waren noch denkbar – müsse man als Eingebungen von Gott bzw. von bösen Geistern und Dämonen ansehen. Heiß diskutierte man die Frage, wieviel Schlaf der Mensch überhaupt am Tage brauche – die Antworten reichten von kategorischen sieben Stunden bis zu individuellen Dosen je nach Temperament und Tätigkeit – wobei die weisen Gelehrten aufgrund ihrer besonders kräftezehrenden Arbeit gerne ein paar Stunden mehr für sich erlaubt sehen wollten. Fest stand jedenfalls, was schon Plato (428-347 v. Chr.) gelehrt hatte: Der Schlaf war auf das nötigste zu reduzieren – hielt er doch den Menschen von der Arbeit und damit vom tätigen Einsatz für die Gesellschaft ab.

 Wir mögen heute genauer über die physiologischen und psychologischen Grundlagen des Schlafes und der Träume Bescheid wissen. Was aber die mythologische Darstellung dieser Phänomene bei den Griechen und Römern anbelangt, da war uns der durchschnittliche Besucher einer Aufführung eines Oratoriums von Händel um einiges voraus. Er hätte uns vermutlich erklären können, dass der Schlaf im Altertum als Gott verehrt wurde: Hypnus hieß er bei den Griechen, Somnus nannten ihn die Römer. Somnus, so hätte man uns weiter erzählt, war einer der Söhne der Nacht und der Zwillingsbruder des Todes. Auch zwischen dem Schlaf und den Träumen gab es verwandtschaftliche Beziehungen – Träume galten als Söhne des Somnus. Von ihnen war Morpheus, dessen Name sich von dem griechischen Wort für „Gestalt“ herleitet, für diejenigen Träume zuständig , in denen menschliche Wesen auftraten. Wer Ovid gelesen hatte, kannte vielleicht auch die Stelle aus der Sage von Cëyx und Haleyone, wo die Wohnung des Schlafes genauestens beschrieben wird: In einer Höhle, die das Sonnenlicht nicht erreicht, ruht er auf einem Bett von Ebenholz, umgeben von schlafbringenden Nebeln und den Träumen, eingelullt durch das Geräusch des Unterweltsflusses Lethe. Hatte man beim Erwerb seiner klassischen Bildung auch noch Homers (8. Jahrhundert v. Chr. ?) Ilias (8. Jahrhundert v. Chr.) studiert, dann erinnerte man sich möglicherweise auch noch an die Szene, in welcher der Schlaf von Zeus (d. i. Jupiters) Gattin überredet wird, den Göttervater selbst einzuschläfern und zum Dank die Grazie Pasithea zur Gemahlin erhält. Und wer sowohl Ovid als auch Homer gelesen hatte, der wusste, aus welchen Quellen Congreve die Schlaf-Episode in Semele geschöpft hatte.

SEMELE - hier Ben Bliss (Jupiter) und Pretty Yende (Semele) © Vincent Pontet

 Doch auch abgesehen von der Gestalt des Somnus war der Schlaf dem Publikum des 18. Jahrhunderts als literarisches wie musikalisches Motiv auf der Bühne geläufig. Gerade auf dem Theater bot das Thema eine Reihe dramaturgisch interessanter Möglichkeiten. Eine schlafende Figur konnte ihre Gedanken im Traum preisgeben und von einer anderen Person belauscht werden. Sie konnte im Traum Erscheinungen haben, sie sich gleichzeitig leibhaftig auf der Bühne zeigen ließen – Kunstgriffe, mit denen der Dichter dieser Epoche die Regeln der Wahrscheinlichkeit wahrte, wenn er die Gedanken und Seelenzustände seiner Figuren nach Belieben ausbreiten wollte.

Andere Effekte ergaben sich aus dem Spiel mit der Ähnlichkeit von Schlaf und Tod. Denn eine schlafende und eine tote Person sind vom Zuschauer auf der Bühne nicht zu unterscheiden. Wenn eine Person schlafend gezeigt wurde, konnte dies beispielweise symbolisch für ihren später in der Handlung erfolgenden Tod stehen. Mit dem Schlaf ließ sich auch die Gefährdung einer Figur deutlich machen: Der Schläfer ist den Nachstellungen der Feinde schutzlos ausgesetzt! Umgekehrt war es aber auch möglich, dass eine schlafende Schöne zur Herausforderung für die moralische Standhaftigkeit eines Helden wurde.

Eigentlich gestattete man den Schlaf auf der Barockbühne nur Standespersonen. Schläfer aus dem einfachen Volk führte man dagegen mit Vorliebe als satirische Exempel für lächerliche Faulpelze vor – der komische Diener Elviro in Händels Oper Serse (1738) machte da keine Ausnahme. Aufgrund ihrer vielseitigen Verwendbarkeit fanden Schlafszenen schnell Eingang in die konventionellen  Szenentypen der venezianischen und später der französischen Barockoper. Wenn man die Schlafszenen nicht dazu benötigte, um dem Plot aufzuhelfen, dann setzte man sie doch wenigsten ein, um die Szenenfolge durch ein weiteres Versatzstück noch bunter und abwechslungsreicher zu gestalten.

SEMELE - Pretty Yende (Semele), Niamh O'Sullivan (Ino), Alice Coote (Junon) © Vincent Pontet

Zurück zu Congreves Operntext und Händels imaginärer Oratorienbühne. Natürlich ließe sich argwöhnen, dass der kurze Auftritt von Somnus nur ein dürftiger Vorwand für Congreve gewesen sei, um den so beliebten Schlaftopos auch in diesem Libretto  zu bedienen. Denn auch der originale Semele-Mythos kam ja ohne das Eingreifen von Somnus aus. In Semele ist der Schlaf jedoch nicht allein für die kurze  Schlafszene von Bedeutung: Er ist handelnde Figur und literarisches Motiv zugleich. Nun ist Semele natürlich kein Drama über den Schlaf! Semeles Eitelkeit steht im Mittelpunkt des Interesses! Sie repräsentiert gleichzeitig  die Vermessenheit der Menschen, die vermeinen, ihre Sterblichkeit überwinden zu können, und den Göttern gleich zu werden. Dass sich Semele ihrer Sterblichkeit  aber erst bewusst wird, daran hat der Schlaf einen großen Anteil. Und so wird die sonst so tröstende Vorstellung vom Schlaf als dem Bruder des Todes für Semele, die einen Gott liebt, zur Qual.

 

Congreve entwickelt dieses Motiv, lange bevor er den Schlaf als Person einführt. Im zweiten Akt, kurz bevor Semele und Jupiter zum ersten Mal in dem Oratorium aufeinandertreffen, erblicken wir Semele auf ihrer Lagerstatt, umgeben von Zephiren und Liebesgöttern. Noch trauert sie dem Schlaf nach, doch nur, weil er ihr im Traum ihren Geliebten zeigte. Jupiter mag beteuern, dass er und die Liebe eins seien! Dass der Schlaf die Liebenden trennt, kann er allerdings nicht leugnen: „You are mortal, and require / Time to rest and to repose…“

Damit hat er aber das Stichwort zu Semeles Unzufriedenheit geliefert, und da nützt es auch nichts, dass Jupiter die Ruhe seiner Geliebten mit noch mehr guten Geistern versüßen will, dass er ihre Schwester Ino herbeischafft und die Szenerie in ein zweites Arkadien verwandelt. Noch während der gleichen Szene wird Jupiters Feststellung in Semeles Mund zu einem Vorwurf: „Ah no, I still am mortal, / Nor am I sensible / Of any change, or new perfection.“

An keinem Beispiel kann der Textdichter Semeles Situation besser festmachen, als am Bild des Schlafes. Als Semele im dritten Akt ein weiteres Mal auftritt, erklärt sie gleich demonstrativ in einer Arie, dass sie Schlaf nicht mehr erquicken kann: „My racking thoughts by no kind slumbers freed, / But painful nights do joyful days succed.“

Und wohl nicht aus Zufall befindet sich Semele in ruhender Stellung, als sie das nächste und letzte Mal auf der Bühne erscheint. Dem Erkennen ihrer Sterblichkeit und dem Erwachen und Äußern ihres Wunsches folgt – zu spät – die Reue. Möglicherweise war es Congreve mit dieser Szene um einen durchaus feinsinnigen Effekt dramatischer Ironie zu tun. Seine ebenso spärliche wie detailgenaue Szenenangabe lautet „under a canopy“ d. h. Semele liegt unter dem Baldachin  eines Himmelbettes. Viel deutlicher musste man im Barocktheater nicht werden, um dem Publikum eine klare Vorstellung von den sinnlichen Vergnügungen zu machen, auf die sich Semele vorbereitet hat. Das zum göttlichen Beischlaf bereitete Lager wird jedoch zu ihrem Sterbebett, auf dem sie nun noch ein letztes Mal in ihrem Leben „entschläft“: Erst dann verschlingt Jupiters Donner den Palast!

SEMELE - Chor Le Concert d'Astree (© Vincent Pontet

Das Thema Schlaf in derartig vielen Facetten in einer Komposition zu behandeln, war sicherlich auch für einen versierten Tonsetzer eine Herausforderung. Als Händel Semele komponierte, lagen gute vierzig Opernkompositionen hinter ihm – er hatte sich also bereits mehr als drei Dutzend Male mit dem Typus „Schlafarie“ befassen müssen. In einem derartig von Konventionen geprägten Genre wie dem barocken Opernlibretto - um das es sich bei Semele ja ursprünglich auch handelte - hieß das, sich vor der Gefahr des Schematismus zu hüten. Denn die Mittel, welche die Traditionen der musikalischen Schlafschilderung bereithielten, waren beschränkt und schon lange bekannt. Für die Form der Schlafarie bot sich die dreiteilige Anlage  der Dacapo-Arie an, wobei man die singende Person eben vor dem erwarteten abschließenden Dacapo einschlafen ließ. Wiegende Rhythmen und Phrasierungen erinnerten an den Archetypus der Schlafarie, das Wiegenlied. Wer sonst auf Abwechslung und Vielfalt der musikalischen Gestalt zu achten hatte, konnte in der Schlafarie auch einmal die Singstimme mit langen Noten unbeweglich deklamieren, immer gleiche Melodie- oder Bassfiguren ostinat-einschläfernd kreisen lassen und die Stimmen des Satzes monoton nach unten führen. Um die Trübung des Bewußtseins durch die Benommenheit des Einschlafenden oder Aufwachenden darzustellen und das Irrationale der Traumgesichte zu symbolisieren, würzte man den Tonsatz mit chromatischen Fortschreitungen. Und man durfte dabei auch einmal aus der Logik strenger harmonischer Modelle ausbrechen, um unerwartete Tonarten anzusteuern. Aber auch mit diesem Repertoire an Formeln, zumeist bekannt seit den Anfängen der venezianischen  Oper und erprobt in gut hundert Jahren Operngeschichte, gelang es Händel, das jeweils Typische der Schlafsituation originell zu erfassen.

Hören wir einmal genauer hin, beispielsweise bei den für die Schlafthematik so interessanten zwei Arien Semeles aus dem zweiten und dritten Akt. Situation Nummer 1: Semele wacht aus angenehmen, erquickenden Schlaf auf, wobei sie sich aber auch zugleich der Abwesenheit des Geliebten bewusst wird „Endless pleasure, endless love“. Händel schreibt Largo vor und greift zu einer Ausnahmetonart: E-Dur. Diese klingt nun in der zeitgenössischen Stimmung leicht getrübt bzw. „verstimmt“ – und kennzeichnet gerade dadurch wohl am besten die noch benommene unzufriedene Protagonistin. Es fehlt nicht das wiederkehrende, wiegende Motiv im Bass! Semele setzt darüber auf einer langen Note ein, als könne sie sich weder zum Wachen noch zum Singen entschließen. Doch dann ist von Semeles „wandring love“ die Rede, der wiegende instrumentale Begleitbass beginnt festeren Tritt zu fassen, während die Singstimme bewegt und in lockeren Koloraturen das Wandeln des fernen Liebhaber nachahmt. Die musikalische Idee des Schlafes und die Allegorie des Wanderers verschmelzen zwanglos.

Situation Nummer 2: Semele möchte schlafen, kann es aber nicht, da sie der Schlaf von Jupiter entfernt hat „O sleep, why dost thou leave me…“. Wieder ist die Arie ein Largo und abermals hören wir ein wiederkehrendes Motiv im Begleitbass, das diesmal allerdings kein sanftes Ruhekissen für die Singstimme ist – denn es enthält den scharfen Akzent eines punktierten Rhythmus und ist von Pausen durchsetzt. Die Tonart dazu ist ein reines, ungetrübtes F-Dur, und wenn die Singstimme dann auch noch mit gleich vier größeren Melodiesprüngen hintereinander einsetzt, ist an Schlaf gar nicht mehr zu denken.

Kompositorische Subtilität? Sicherlich – aber Subtilität eines professionellen Komponisten, der zielsicher dem Jubiläum seiner 50. Schlafarie zustrebte.

Vergleichsweise wenig subtil beschreiben Congreve und Händel den Schlaf allerdings dort, wo er leibhaftig als Somnus auftritt – gemessen jedenfalls an den tragischen Auswirkungen, die sein Handeln für Semeles Schicksal hat. Es sind verschiedene Traditionen literarischer und musikalischer Personengestaltung, die sich dabei in der Figur des Schlafgottes treffen. In der antiken bildenden Kunst wurden Schlaf und Tod als geflügelte Jünglinge dargestellt. Somnus zeigte man dabei, wie er mit seinen Flügeln oder seinem Stab aus Blei die Schläfer berührt, oder sein mit Mohn gefülltes Horn über sie ausgießt. In metaphorischen Darstellungen stellte man ihn selbst als Schläfer dar! Nun deutet in Händels Oratorium wenig darauf hin, dass es sich bei seinem Somnus um einen anmutig daher schwebenden Jüngling handelt. Schon die Stimmlage, Bass, lässt bei den geltenden Konventionen des barocken Musiktheaters eher auf ein reiferes Alter schließen. Die gleiche Stimmlage bevorzugte man überdies für die Darstellung von Magiern und Zauberern, mit denen der Schlaf sowohl die dunkle Wohnstatt als auch seine übernatürliche Wirkung auf die Menschen verbindet.

SEMELE - Alice Coote (Junon), Brindly Sherrat (Somnus), Marianna Hovanisyan (Iris). (© Vincent Pontet

Um den Schlaf einzuführen, benutzt Händel dann auch zunächst musikalische Vokabeln des Dunkels und der Tiefe, vor allem durch die in der Partitur, in diesem instrumentalen Einleitungsstück zur Somnus-Szene  vorgeschriebenen obligaten zwei Fagotte. Nachdem das h-Moll Stück in der Tiefe und dazu noch in einer ganz unpassenden Tonart g-Moll verebbt ist, folgt Junons Weckruf von Händel  mit der ganzen Liebe gestaltet, die ein wahrer Künstler  des Barock für Konstrastwirkungen hegte. Erst dann bequemt sich Somnus, uns den Typus der Schlafarie par excellence zu präsentieren „Leave me, loathsome light“ Die eigentliche Überraschung der Somnus-Episode bringt dann allerdings seine Reaktion auf Junons Angebot, ihm für seine Dienste Pasithea - als eine der Grazien buchstäblich die Anmut selbst - zur Frau zu geben: Der schläfrige Gott wird mit einem Mal zu einem eitlen Gecken, wie wir ihn sonst eher aus der Opéra buffa kennen. Heftig in Liebe entbrannt, aber kaum in der Lage, seine Liebesbeteuerungen durch mehr als immer wiederholte primitive Wort- und Melodiefloskeln herauszustoßen und sich mit unmotivierten plötzlichen Koloraturen aufzuplustern.

Unversehens ist der Schlaf zur komischen Figur geworden. Nach den Moralvorstellung der Barockzeit geschieht ihm dadurch allerdings kein Unrecht: Wer seine Affekte nicht beherrscht, verdient es, als Gegenstand der Satire verspottet zu werden. Wenn schon Junon in ihrer übersteigerten Eifersucht durchaus komische Züge trägt, dann müssen Somnus‘ unmäßiges Schlafbedürfnis und seine rasende Liebe erst recht der Lächerlichkeit preisgegeben werden.

 

Wie der Schlaf  und sein Sohn Morpheus die Wünsche Junons erfüllen, führen uns Congreve und Händel nicht mehr vor. Auch das der Schlaf und Traum für das Zustandekommen des Happy Ending noch einmal  aktiv wurden, erfahren wir nur aus dem Bericht Inos. Sie versichert glaubhaft, dass ihr Hermes in einer Traumvision Athamas‘ Hand versprochen habe. Congreve und Händel hätten es schwerlich wagen können, ihr Publikum mit noch mehr Musik aus der Sphäre von Schlaf und Traum zu unterhalten. Die Begeisterung, die beispielsweise die Romantiker für das Irrationale und die psychologische Hintergründigkeit dieser Phänomene entwickeln sollten, kannte man noch nicht. Auf der barocken Opernbühne wie in Händels Oratorien war die Welt noch in Ordnung – dem Schlaf kam dabei die Rolle eines interessanten, aber, wie wir gesehen haben, auch eines ambivalenten Phänomens zu, das man möglichst im Griff behalten wollte. Zwar verschlief man auch im Barock ein Drittel seines Lebens, betrachten wollte man diese Zeit aber letztendlich doch am liebsten nur als – Episode… Anlage: (*) Newburgh Hamilton, Dichter und Übersetzer (16916-1761).

SEMELE - Alice Coote (Junon) und Chor Le Concert d'Astree © Vincent Pontet)

SEMELE- Aufführung im Théâtre des Champs-Élysées - 11. Februar 2025

Das höllische Spiel von Sex und Tod…

Als Semele entstand, war die britische Oper bereits nicht mehr so beliebt wie früher und ein neues Publikum erwartete ernstere, religiös inspirierte Musik. Da kein biblisches Thema vorhanden war, komponierte Händel für die Royal Opera House Covent Garden in London ein Werk, das von Ovids Metamorphosen  inspiriert war. Es war weder eine italienisches noch ein erbauliches Werk für die Fastenzeit und das Werk fand keine Interesse beim Publikum und wurde nur viermal – im darauf folgenden Jahr dann zweimal – aufgeführt, bevor es in Vergessenheit geriet. Handelt es sich um ein Oratorium oder um eine als Oratorium getarnte Oper? In einer ersten Biographie aus dem Jahr 1760, die jemals davor einem Komponisten gewidmet war, schrieb John Mainwaring (1724-1807), der Händel gut gekannt zu haben schien: Semele ist eine englische Oper, die jedoch Oratorium genannt  und als solches aufgeführt wird“.  Auch das Libretto basiert auf einem gleichnamigen lyrischen Werk von John Eccles (1668-1735). Im Gegensatz zu manchen Oratorien, deren Aufführung auf der Bühne Probleme bereitete, eignete sich Semele dagegen perfekt für eine Theaterproduktion, wie wir es schon oft gesehen haben.

 

Die Inszenierung des englischen Regisseurs Oliver Mears – dem aktuellen Direktor der Royal Opera House Covent Garden und Koproduzent der Produktion -, verlegt die Handlung in eine Art großes Art-Déco-Hotel, wobei die Möbel in der Lobby einen Hauch der 50er Jahre aufweisen. Jedoch das Appartement von Jupiter hingegen verfügt über eine Vinyl-Stereoanlage und Schallplatten erinnern eher an die Ästhetik der 60er und 70er Jahre. Einfache Menschen tragen die Uniform des Establishments, während die Götter aufwendigere Kostüme tragen. Jupiter ist hier der Besitzer des Hotels, der das weibliche Personal trotz der Überwachung durch seine blonde Frau Junon als sein Jagdrevier betrachtet. Mears überträgt damit die Mensch-Gott-Beziehung auf die Klassenbeziehungen: Auf der einen Seite die Hotelangestellten, auf der anderen die Eigentümer und deren Familien- oder auch eventuelle Freundschaftsbeziehungen. Diese Entscheidung vereinfacht das Bühnenbild: Der Loft des Jupiters – der gewissermaßen den Olymp symbolisiert – ist der Eingangshalle des Hotels nachempfunden, in deren oberem Stockwerk sich ein riesiger Kamin befindet. Somnus, ein alter drogenabhängiger Sommelier, lebt im Keller inmitten eines entzückenden Haufens leerer Flaschen, dem britischen Publikum wird wahrscheinlich eine Ähnlichkeit mit dem britischen Komiker Tommy Cooper (1921-1884) auffallen. Abgesehen von der Transposition werden die Bühnenanweisungen ziemlich genau eingehalten, mit einer bemerkenswerten Anpassung: Semele ist schwanger von Jupiter! Deshalb schwört er ihr den Wunsch zu erfüllen – manipuliert von Junon, der eifersüchtigen Gattin Jupiters, die sich an der Favoritin des Tages rächen will, wird Semele darum bitten, ihren Geliebten in seiner göttlichen Gestalt zu sehen, was zu ihrem Tod durch Schwindsucht führen wird. Semele bringt ein Kind zur Welt, während sie ihr Gelübde bereut! Nach ihrem Tod – der natürlich im Kamin verzehrt wurde – kommt Jupiter und nimmt damit die Tirade wieder auf, die normalerweise Apollon gewidmet ist, um einen neuen Gott der Liebe anzukündigen: Bacchus. Ein neues junges Mädchen ersetzt Semele: Wir können Jupiters Pläne erahnen! Mears‘ clevere Produktion ist weder revolutionär noch streng illustrativ, sondern ein witziger Kompromiss, der perfekt funktioniert. Die Theaterregie ist äußerst professionell und es ist unmöglich, alle schauspielerischen Details zu würdigen. Es kommt selten vor, dass eine Produktion beim ersten Mal an so gut gelungen ist.

Die hübsche südafrikanische Sopranistin Pretty Yende ist eine nahezu ideale Semele. Die verschiedenen Facetten der Figur werden perfekt, präzise und ohne Karikatur wiedergegeben. Wir freuen uns besonders, in diesem Repertoire endlich eine echte Belcanto-Stimme zu hören, die trillern, präzise Rouladen singen und im da Capo pyrotechnische Variationen bieten kann – sieben natürliche B-Töne am Ende von „Endless pleasure, endless love“ oder vier hohe C-Töne in „Myself I shall adore“ -, auch wenn die Präzision nicht immer ganz stimmte. Die britische Mezzo-Sopranistin Alice Coote als Junon ist eine erfahrene Sängerin in der Barockszene und bietet ein warmes Timbre und eine opulente Stimme, aber auch einige sehr unschöne abrupte Registerbrüche, die es ihr dennoch ermöglichen, sehr tiefe Töne oder forcierte hohe Töne vorzutragen. Auch in dieser Produktion ist die Mezzo-Sopranistin eine überzeugende Darstellerin, die von ihr verlangt, ein wenig über ihre Grenzen hinausgehen. Auch ein sehr guter Schauspieler ist der britische Bass Brindley Sherratt, der in der Rolle des Somnus mit seinem tiefen Bass eine hervorragende Figur macht. Der Gesang ist allerdings für die Rolle des Cadmus etwas zu dick aufgetragen und es fehlen die für den Hohenpriester erforderlichen hohen Töne, was zeigt, dass auch Sänger keine Schweizer Präzisionsarbeiten liefern können [!!!]. Der italienische Countertenor Carlo Vistoli ist ein Athamas nahe dem Ideal, mit einer richtig projizierten Stimme, einem warmen Timbre, wunderschönen Variationen im da Capo und einer tadellosen Belcanto-Technik. Da die Rolle auf dem Papier dramatisch recht bedeutungslos ist, verändert Mears die Bedeutung  seiner Schlussarie: „Unworthy of your charme myself I yield“, was wie ein Hymnus an Apollo  - der hier durch Jupiter ersetzt wird – klingen sollte, sich hier aber in eine sarkastische Tirade verwandelt, wobei die Worte als Antiphrasen aufgefasst werden müssen. Die irische Mezzo-Sopranistin Niamh O’Sullivan ist eine charmante und gut singende Ino mit warmen Timbre, der es allerdings noch wenig an eigener Schutzkraft mangelt – die junge Sängerin ist erst dreißig Jahre. Auch als Iris ist die armenische Sopranistin Marianna Hovanisyan eine interessante Entdeckung. Die Stimme der Sopranistin ist fruchtig und gut projiziert, die Sängerin variiert die Farben und Atemeffekte präzise und bietet eine schöne Leichtigkeit in den hohen Tönen. Der britische Tenor Ben Bliss ist ein nahezu perfekter Jupiter. Das etwas gestaute Timbre ist nicht besonders bemerkenswert, aber der Gesang ist tadellos. Die Stimme ist im gesamten Tonumfang homogen und zeigt keine Anzeichen von Anstrengung. Die Belcanto-Technik ist stets einwandfrei und die Projektion ausreichend Kraftvoll. Schließlich wird der Charakter mit Finesse gezeichnet.

 

Besonders gefragt bei diesem Werk ist der Chor des Concert d’Astrée, der durch seine bemerkenswerte Homogenität, Strahlkraft und seine besondere Spielperfektion besticht. Auch das Orchester ist erstklassig mit einer wunderschönen Klangkulisse und tadelloser Virtuosität. Der musikalischen Leitung  der französischen Dirigentin Emmanuelle Haïm mangelt es vielleicht ein wenig an Kontrast: Wir hätten uns mehr Überschwang in den virtuosen Arien gewünscht, mehr Mattigkeit in den sanfteren oder traurigeren Szenen, doch die Dirigentin bleibt in einer Art Zwischendrin, das zwar elegant, manchmal jedoch dramatisch etwas fade ist. Positiv ist anzumerken, dass ihre intelligente Leitung den Sängern Aufmerksamkeit schenkt und gleichzeitig aber auch  für schöne Orchesterklänge sorgt. (PMP/18.02.2025).