Paris, Théâtre des Champs-Élysées, L`OLIMPIADE - Antonio Vivaldi, IOCO
PARIS: Die Oper L’Olimpiade von Antonio Vivaldi wurde am 17. Februar 1734 im Sant’Angelo-Theatro in Venedig uraufgeführt. Erste Wiederaufnahme in der Neuzeit am 19. September 1939 während der Sienesischen Musikwochen durch Alfredo Casella in einer Neufassung von Virgilio Mortari .....
L’OLIMPIADE, RV 725 (1734) - Antonio Vivaldi, Opera Seria in drei Akten, Libretto von Pietro Metastasio.
DIE SPORTIVEN GÖTTER DES OLYMPS…
Sta piangendo la tortorella
sinché vedova e smarrita;
ma se torna il suo diletto,
dolce canta, e si consola.
Ma per me che non v’è speme,
viver sempre dovrò in pene
sventurata, afflitta, e sola. (Arie der Aristea / 1. Akt / 11. Szene)
Die Oper Seria L’Olimpiade von Antonio Vivaldi (1678-1741) wurde am 17. Februar 1734 im Sant’Angelo-Theatro in Venedig uraufgeführt. Erste Wiederaufnahme in der Neuzeit am 19. September 1939 während der Sienesischen Musikwochen durch Alfredo Casella (1883-1947) in einer Neufassung von Virgilio Mortari (1902-1993). L’Olimpiade entstand nach einem Libretto von Pietro Metastasio (1698-1782) nach Herodot (484- 425 v. J.C.).
Es war sofort ein gewaltiger durchschlagender Erfolg! Die Intrige spielt sich auf den Champs-Elysées in der Nähe der Stadt Olympia in Griechenland ab. Clistene, König von Sikyone, verspricht seiner Tochter Aristea die Heirat mit dem Gewinner der Olympischen Spiele. Der vermeintliche kretische Prinz Licida, der in Aristea verliebt ist, bittet seinen besten Freund, den Athleten Megacle, in seinem Namen anzutreten, weil er sich seines Sieges nicht sicher ist. Von Aristea heimlich geliebt, ignoriert Mecacle den Wettbewerbspreis, nimmt an und gewinnt die Spiele. Der junge Held opfert seine Liebe, erzählt Aristea von der List und beschliesst, sie für immer zu verlassen. Nach vielen dramatischen Wendungen hat Licida seinem Freund vergeben und Aristea heiratet Megacle. Es handelt sich unweigerlich um eine der schönsten Opern-Kompositionen von Vivaldi. Die ständig erneuerte musikalische Handschrift versteht es, die große Vielfalt dramatischer Situationen mit Freude zu nutzen. Die Arien, die mit den intimen seelischen Gefühlen der verschiedenen Charaktere verbunden sind, haben großartige wunderbar vertonte Melodien in einem äußerst reichen musikalischen Stil voller prächtiger Farben.
Die Medaillen der Liebe…
Im 18. Jahrhundert wurde die Erinnerung an die Olympischen Spiele nur in den Literatur-Akademien gepflegt. Wenn es Spiele gab, dann waren es rhetorische Turniere, die alle vier Jahre gefeiert wurden. Pietro Trapassi, besser bekannt unter seinem poetischen Pseudonym Metastasio, schrieb L’Olimpiade zum Geburtstag der österreichischen Kaiserin Elisabeth-Christine (1691-1750), die Gemahlin von Kaiser Karl VI. (1685-1740). Das Thema? In Olympia, ein König wird die Hand seiner Tochter dem Helden verleihen, der ihn am meisten verdient. Um dies zu erreichen, werden zwei Paare auseinanderbrechen, sich gegenseitig zerstören und um dann besser zueinander zu finden. Amouröse Emotionen, männliche Freundschaften und wie es die Herrschaft der Kastraten verlangt, völlige Geschlechter-Verschmelzung. So viele Gründe erklären den Erfolg eines Librettos, das von rund sechzig Komponisten übernommen wurde und einen absoluten Rekord in der Lyrik-Geschichte aufstellte!
Auf dem Anwesen der Favorita…
L‘Olympiade ist wie die Begegnung zwischen Cosi fan tutte (1790) von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und Castor et Pollux (1737) von Philippe Rameau (1683-1764). Die erste Version wurde im August 1733 auf dem Anwesen La Favorita aufgeführt. Antonio Caldera (1670-1736) signierte die Musik! In dieser schicken Landschaft in der Nähe von Wien hatte man es sehr genossen.
Bevor sich der Vorhang hebt, ist es sinnvoll, das Prequel bis zum zweiten Teil der Opera seria zu entschlüsseln. Der König Clistene, Vater von Zwillingen unterschiedlichen Geschlechts, Philinthe und Aristea, wurde vom Orakel von Delphi gewarnt, dass sein Sohn geopfert werden muss. So setzt er seinen Sohn Philinthe dem Schicksal aus, doch dieser kann alle diese Obstakel überwinden. Ihrerseits erlebt Aristea, nachdem sie heiratsfähig geworden ist, eine unmögliche Liebe mit dem Athener Megacle. Dieser flieht nach Kreta, wo er von Licida, kein anderer denn der verlorene Philinthe, gerettet wird. Zwischen den beiden jungen Männern entwickelt sich bald eine männliche Freundschaft.
Licida wiederum erlebt eine unerträgliche Leidenschaft für Argene, die sein Vater, der König von Kreta ihm verweigert. Seine Geliebte floh verzweifelt nach Griechenland! Unsere Helden versuchen, ihr Unglück bei den Olympischen Spielen unter dem Vorsitz von König Clistene zu vergessen. Der Preis, den der Gewinner erhält, ist kein anderer als Aristea. Licida, der seine erste Liebe vergessen hat, verliebt sich in sie! Da es Licida an körperlichen Fähigkeiten mangelt, erfindet er eine List, um sie doch zu erobern. Er erinnert sich daran, dass Megacle ein herausragender Sportler ist, weiß aber nichts von dessen früheren Liebe zu Aristea und lässt ihn unter dem falschen Namen Licida kämpfen. Im Zeichen dieser Missverständnisse beginnt die Oper.
Verdoppeln oder nichts…
Caldara hatte den ersten Schlag mit seiner versetzt, Vivaldi übernahm im darauffolgenden Jahr mit einer neuen Oper Revanche. Für den „Priester Roux“, der seine lyrische Karriere spät, mit Ottone in Villa (1713) begonnen hatte, war es ein Doppel oder nichts. Im Jahr 1734 war seine Situation in Venedig nicht gerade ideal, obwohl er auf dem Höhepunkt seines Erfolgs stand. Vivaldi hatte gerade drei Spielzeiten hintereinander für die römischen Theater geschaffen, die das Publikum begeisterte. Selbst Kaiser Karl VI. besuchte ihn, er wurde auch trotz notorischer kirchlicher Disziplinlosigkeit vom Papst empfangen.
Doch eine neue Generation von Komponisten trat hinter ihm her. Seit 1723 waren Metastasio und die Neapolitaner: Leonardo Vinci (1690-1730), Leonardo Leo (1694-1744), Johann Adolf Hasse (1699-1783) die neuen Meister des Geschmacks. Vivaldi, dem es nicht an Feinden mangelte, lebte praktisch als persona non grata und hatte völliges Spielverbot im Teatro San Giovanni Grisostomo, dem größten und opulentesten Theater in Venedig. Da von seiner als altmodisch geltenden Feder nichts verlangt wurde, musste sein kämpferisches Genie die Waffen seiner Gegner zu seinem Vorteil nutzen. Das Teatro Sant’Angelo, war nicht so berühmt wie die großen Säle der Aristokratie, aber der Ort verfügte über eine sehr renommierte Bühnen-Maschinerie und auch eine komfortable Bühnenraum-Kapazität. Heute nicht mehr vorhanden, hatte das Theater in der Person von Vivaldi vor allem einen emeritierten Impresario, Komponisten und Dirigenten. L’Olimpiade hatte den Spieß umgedreht und sein theatralisches und melodisches Genie hatte einen einmaligen Erfolg zu verzeichnen.
Ein Vivaldischer Gipfel…
Nach einem Anfang, der Anleihen beim Konzert für Violine in C-Moll, RV 177 (1734) nimmt, explodiert gewisser-maßen die melodische Leichtigkeit in jeder Arie. Von der glorreichen Arie: „Superbo di me stesso“, die Megacle einleitet, sind noch viele andere Arien, die wiederum die Wut von Licida, die Qualen der treuen Argene und das Zögern von Clistene charakterisieren. Besonders sollte man auf die mit großer spektakulären Vielfalt und Virtuosität erfüllten, schwindelerregenden Arie der Aminta : „Siam navi all’onde“ hinweisen.
Die Figur wurde von Marianino Nicolini (1702-1735) gespielt, einem von Vivaldi aufgestöberten Sopran-Kastraten. Charles de Brosses (1709-1777), der ihn in Rom gehört hatte, bemerkte über ihn: „Marianino, 1,80 Meter groß, spielt eine Frauenrolle im Theatro Argentina: Er ist die größte Prinzessin, die ich je sehen konnte in meinen Tagen“. Ein zweiter Kastrat, Francesco Bilancioni (1712-1755) interpretierte Megacle. Zwei Altistinnen, Marta Arrigoni (1705-1762) und Anna Caterina Della Parte (1699-1769) traten als Argene und Aristea auf. Ein Tenor Marc’Antonio Mareschi (1712-1764) und ein Bass Massimilliano Miller (1695-1767) vervollständigten die Besetzung. Für Mareschi, der Clistene verkörperte, komponierte Vivaldi den reptilienartigen Wirbelwinde der treibenden Kraft in der Arie: „Qual serpe tortuosa“. Alcandro, bestimmt für die Bass-Stimme, war mit seiner wahnsinnig schnellen Arie: „Se tu sprezzar pretendi“ äußerst zufrieden.
Wenn Vivaldi ein Blasinstrument herbeiruft, wird das zu einem atemberaubenden „Coup de Théâtre“, wie zum Beispiel der Einsatz des Horns in „Mentre dormi, amor fomenti“, einer üppigen Schlaf-Melodie, die von Licida intoniert wird. Der Hornist vom Teatro Sant’Angelo wurde erneut hervorgehoben in der Arie: „Sta piangendo la tortorella“. Wir scheinen bereits beim Umblättern bestimmter Saiten mit Horn den Mitridate (1770) von Mozart zu hören.
In diesen Momenten träumerischer Schwebe stellt der Komponist beeindruckende Saiten gegenüber, wie die berühmte Arie: „Gemo in punto e fremo“, dessen gequälter Rahmen reine Angst darstellt. Die äußerst verführende Saite wurde daher in den Opern Adelaide, RV 695 (1735) und Farnace, RV 711 (1727) wiederverwendet. Die Inspiration gipfelt in dem Duett: „Ne giorno tuoi felice“ am Ende des 1. Akts mit einem intensiven und berauschenden Austausch zwischen Aristea et Megacle. Die Prägnanz der Melodien und ihre wohlüberlegte Abfolge führen zu einer Handlung, die keine Pause zu lässt und nur von Überraschungen kurz unterbrochen wird, wie von Megacles unwiderstehlichem „Schlager“, die Arie: „Lo seguitai felice“. Vivaldi sowie auch Metastasio wussten beide sehr genau, was Musiktheater bedeutet! Im folgenden Jahr entzündete Giovanni Battista Draghi Pergolesi (1710-1736) die Flamme von L’Olimpiade (1735) im Teatro Tordinona in Rom. Im Jahr 1817 war Gaetano Donizetti (1797-1848) wohl der letzte, der dieses wohl meist verwendete Best-seller-Libretto in der Musikgeschichte noch einmal verwand. Somit integrierte er sich in die lange Reihe berühmter L’Olimpiade-Komponisten ein: Hasse, Domenico Cimarosa (1749-1801), Josef Myslivecek (1737-1781), Baldassare Galuppi (1706-1785), Luigi Cherubini (1760-1842)…
Für Vivaldi reichte der große Erfolg seiner Olimpiade aus, damit die Grimanis, der Clan der Pratrizier, denen das Teatro San Grisostomo gehörte, beim gestern noch brüskierten „Priester Roux“ seine Oper Griselda, RV 718 (1735) bestellen konnten. Aber sie wird nur im Teatro San Samuele, ihrem zweiten Theater gegeben, weniger prestigeträchtig… Wenn die venezianische VIP-Tür für ihn aufgeschlossen war, blieb sie aber nur angelehnt! Auf dem Plakat des Teatro San Grisostomo erscheint 1738 eine Olimpiade, aber es war ein sogenannter Potpourri verschiedener Arien und Szenen, mit der Musik von Vivaldi und natürlich anderen Komponisten wie Pergolesi, Hasse und Nicolo Porpora (1686-1768).
Um sein Theater weiterhin zu füllen, war Vivaldi bis 1739 nur auf seine eigenen Mittel angewiesen. Anschließend wird er das Teatro San’Angelo verlassen, überzeugt davon, nach Wien zurückkehren zu können, wo ihm sein Ruf vorausgeeilt war. Doch die grosse Erschöpfung durch ein zunehmend schweres Asthma und das Verschwinden von Karl VI. von Habsburg, dem musikbegeisterten Kaiser, der die erste Olimpiade in Auftrag gegeben hatte, gaben ihm keine Gelegenheit mehr dazu. Der „Priester Roux“ starb am 28. Juli 1741.
L’Olimpiade war ein Werk von großer Dichte und musikalischer Qualität., das denen von Tito Manlio, RV 738 (1719) und Arsilda, Regina di Ponto, RV 700 (1716) ebenwürdig war und auch die erste seiner Opern, die im 20. Jahrhundert wieder entdeckt wurde. Casella organisierte ihre Auferstehung im Jahre 1939 an der Accademia Chiggiano in Siena. Vivaldi wird schließlich die Goldmedaille für einen Erfolg gewinnen, der zu seinen Lebzeiten für ihn nie von Dauer war!
L`OLIMPIADE - Aufführung 23. Juni 2024 - Théâtre des Champs-Élysées, Paris
Vivaldi entfacht das olympische Feuer auf den Champs-Élysées…
Einen Monat vor den Olympischen Spielen steht Paris kurz vor einem Nervenzusammbruch! Place de l’Alma, hat der Verkehr hat seinen Sättigungspunkt erreicht. Die Busse, Autos, Roller und Fahrräder weigern sich gemeinsam: Voranzukommen! Unterirdisch befördert die U-Bahn keine Gäste mehr. Es ist besser, darüber zu lachen, um nicht weinen zu können. Dies ist der richtige Moment für L’Olimpiade von Vivaldi, um mit einer neuen Produktion des französischen Regisseurs Emmanuel Daumas im Théâtre des Champs-Elysées die laufende Saison zu beenden. Die Arbeit ist leicht unverständlich und sehr verwirrend, zumindest vom Titel aus, denn das Libretto thematisiert nicht nur sportliche Wettkämpfe, sondern auch ein verzwicktes Abenteuer mit vielen Themen von Ehre, Liebe, Freundschaft und Eifersucht.
Licida, verliebt in die Prinzessin Aristea, bittet seinen Freund Megacle, sich seine Identität auszuleihen, um an den Spielen teilzunehmen und die Hand der Geliebten zu gewinnen. Die Handlung gerät durcheinander, als Megacle erkennt, dass Aristea niemand anderes ist als seine ehemalige Geliebte, die er einst aufgeben musste. Was folgt, ist eine Reihe von Missverständnissen und dramatischen Konfrontationen, die sich in einem virtuosen Festival von Da-Capo-Arien ohne weitere formale Erkenntnisse verwickeln und verwirren wird bis zur unendlichen Unkenntlichkeit. Wenige Ensembles… ein einziges Duett… wenige begleitente Rezitative.
Die Geschichte beginnt in einer Turnhalle, in der das Training der Athleten zum Vorwand für zahlreiche Gags und akrobatische Kunststücke werden wird [sic]. Sobald wir die Saite der Olympischen Spiele umblättern, nimmt sie mehr oder weniger äußerst ernste Ausmaße an! Die im 1. Teil allgegenwärtigen fünf Tänzer und ein sehr talentierter Akrobat, der Franzose Quentin Signori, verschwinden gottseidank zugunsten der Musik von Vivaldi. Der französische Dirigent Jean-Christophe Spinosi gibt seine barocke Suche nach Brüchen und Kontrasten – barock, weil sie bizarr, verwirrend und in diesem Sinne theatralisch ist – auf, um die eventuellen Ausdrucksmöglichkeiten seines Matheus-Ensembles und dem Chor der l’Académie Haendel Hendrix optimal zu nutzen. Der Dirigent ist als sogenannter großer Vivaldi-Kenner bekannt, hat uns auf der ganzen Linie enttäuscht! Die vielen schrillen Schreie, Lautmalereien und anderen Borborygmen, die den phantastischen Wogen der Arien störten, werden jetzt etwas diskreter! Die Abfolge der Nummern im Stil eines Varietés lässt kaum Raum für die vom Drama geforderte Kontinuität. Die Bühnengrenze zwischen Metastasios Elida und dem Griechenland von Jacques Offenbach (1819-1880) war bislang mäßig fließend und ermüdend. Vielleicht können wir aber doch noch einige Emotionen an der Oberfläche verspüren?
Nicht, dass in diesem 1. Teil alles künstlich wäre – nichts stört die zarten Schwankungen der Schlaf-Arie, das prächtige „Mentre dormi, amor fomenti“ oder die luftige Arie als schaukelnde Trapez-Nummer „Sta piangendo la tortorella“, die Aristea im zweiten Teil begleitet. Der Akt ist von schönster poetischer Wirkung – doch einem Werk wie L’Olimpiade aus komischer Sicht zu begegnen, grenzt doch an großem tölpischen und Guignol-haften Widersprüchen [sic]! Denn es ist auf keinen Fall eine „Opéra bouffe“ à la Offenbach! Für alle diese hirnverbrannten Hindernisse können wir uns bei den Herren Spinosi und Daumas bedanken! Gleichzeitig auch für die hässliche beschreibbare Szenendekoration des französischen Bühnenbildner Alban Ho Van und die geschmacklosen Kostümen der französischen Kostümbildnerin Marie La Roche.
Es vernachlässigt auch den Teil des schönen Gesangs, der mit einer unter neapolitanischem Einfluss geschriebenen Partitur vereinbar ist. „Wir sind immer so hartnäckig gegenüber Carlo Maria Michelangelo Nicola Broschi, genannt Farinelli (1705-1782), dass wir, wenn die Türken im Golf wären, sie ihn friedlich von Bord gehen lassen würden, um nicht auf zwei seiner Arien zu verzichten“, schrieb Abbé Antonio Schinella Conti (1677-1749) und bezeugte damit die Begeisterung der damaligen Venezianer für die „Divi“ (Kastraten) und auch im allgemeinen für den musikalischen „Tauchgang“ dieser Oper.
Dieser triumphale Belcanto-Stil wird in der Stimme der schweizerischen Mezzo-Sopranisten Marina Viotti wirklich verkörpert, die sich auch hervorragend für alle anderen Repertoires eignet, vorgestern die La Périchole (1868) von Offenbach, gestern La Cenerentola (1817) von Gioachino Rossini (1792-1868) und übermorgen Carmen (1875) von Georges Bizet (1838-1875) und das auf derselben Prato-Elysée-Bühne, heute Megacle mit einem enormen Athleten-Körperbau im Michelin-Männchen-Kostüm-Stil. Niemand ist besser als sie darin, die melodischen Kurven mit einer zusammenhängenden Linie nachzuzeichnen, die Wiederholungen zu variieren, Nuancen zu nutzen, um einem verwundeten jungen Prinzen Substanz zu verleihen: Der zwischen Liebe und Freundschaft hin und hergerissen wird! Und dessen Leiden in einer einfühlsamen Arie: „Se cerca ce dice“ mehr als zum Ausdruck kommt, bevor er sich im 3. Akt den nostalgisch angehauchten Lautäußerungen von „Lo seguitai felice“ widmet. Und wie wäre es mit einem einmaligen Cocktail mit dem Geschmack eines jungen Bordeaux-Weins, bei dem sich Noten von schwarzer Schokolade und tröpfelndes Kirschwasser vermischen? Ein geschmackvoller Cocktail verglichen mit einer köstlichen vollmundigen Stimme! Warum auch nicht? Diese Stimme ist Gold wert! Brava Marina!
Der sogenannte Gott des Stadiums bleibt jedoch der polnische Countertenor Jakub Jozef Orlinski. Seine Persönlichkeit prägte die sportliche Dimension der Show. Der im Privatleben mehr als talentierte Breakdancer mit seinem schönen weißen muskulösen Body hat den Opern-Sänger auf keinen Fall zu beneiden! Das springende und feurige in der Arie: „Gemo in punto e fremo“ am Ende des 2. Akts erinnert an den legendären Michael Jackson (1958-2009) während seiner Thriller (1982) Periode. Reicht das aber für den launischen Licida, der mit einigen der schönsten Arien der Partitur von Vivaldi gesegnet ist? Ja, gemessen an der Begeisterung des Publikums, vorausgesetzt, dass es Muskelkraft statt Musikalität, schrille schreiende Töne statt guter Gesangstechnik schätzt und auch diese unschönen violetten Farbtöne, die seine Stimme fast immer in den hohen Lagen annimmt, die aber am häufigsten in einem lautem unangenehmen Geschrei enden [sic]!
Von einer Lehrerin oder Gouvernante, die zu einer Art verstörender oder sogar zerstörender Zauberin geworden ist, liefert Aminta, die der französischen Sopranistin Ana Maria Labin anvertraut wurde, auch eine teuflische Zirkusnummer auf ihre eigene Art an, indem sie ihren Sopran in einem „Il fidarsi delle speme“ mit zweifelhafter Esoterik nasalisiert und dann auch nicht ohne sehr große Schwierigkeiten aufgreifen muss: Eben die Herausforderung einiger beeindruckender Arien, gestaltet von Vivaldi im außergewöhnlichen Format für den Kastraten Marianino. Wir würden sagen: „Schuster bleib bei deinen Leisten!“ Die italienische Mezzo-Sopranistin Caterina Piva, eine an der Scala-Accademia Milano ausgebildete Sängerin, bestätigt die Hoffnungen, die ihre Fenena in Nabucco (1842) von Giuseppe Verdi (1813-1901) erweckt hatte. Abgesehen von ein paar expressionistischen Fantasien erscheint die Stimme gesund, gut projiziert, zu großer Beweglichkeit fähig, ja sogar zu großer Kampflust ebenso fähig wie zu zarten Gefühlen, wenn sie auch leider ihr trauriges Schicksal in der Rolle der Aristea in einem auf Atem gelegten, schmucklosen Gesang betrauern muss. Die französische Sopranistin Delphine Galou übernimmt die undankbare Rolle von Argene, die von Licida verlassene Geliebte, der sie jedoch nicht mehr Brillanz und Tiefe verleiht, als die Partitur zulässt. Der König Clistene ist weniger der Tyrann von Sycione als Agammenon in La Belle Hélène (1864) von Offenbach und kann sich auch darauf verlassen, dass der italienische Bass Luigi De Donatos und sein flinkes klang-färbendes Timbre den Adel und die Autorität besitzt, die ihm leider die Inszenierung vorenthält [sic]. Die Begleitung von „Sciagurato in braccio a Morte“ allein mit dem Cello in der Art eines ergreifenden Lamento bietet dem chilenische Bariton Christian Senn als Alcandro eine wunderbare Gelegenheit, seine Stimme zu präsentieren, die mit Leichtigkeit von Vivaldi bis Georg Friedrich Händel (1685-1759) und weiter zu Donizetti und vielen anderen genährt ist.
Diese letzte Arie, auf die später von Viotti ein a capella gesungener Schlusschor folgt, ist einer der Höhepunkte dieser Opern-Show, bei der das jubelnde Publikum für einen Triumph einsteht, wie es ihn in Paris schon lange nicht gegeben hat. Wahrscheinlich ist das Publikum mehr sportlich den musikalisch! Aber warum nicht, jeden das Seine… (PMP/30.06.2024)