Paris, Théâtre des Champs-Élysées, LE ROSSIGNOL - LES MAMELLES DE TIRESIAS, IOCO Kritik, 30.3.2023
Théâtre des Champs-Élysées - Paris
LE ROSSIGNOL - Igor Strawinsky, LES MAMELLES DE TIRESIAS - Francis Poulenc
- LE ROSSIGNOL (1914) - Igor Strawinsky, Oper in drei Akten, Libretto vom Komponisten und Stepan Mitusov, nach dem Märchen von Hans Christian Andersen Die Nachtigall und der Kaiser von China.
- LES MAMELLES DE TIRESIAS (1947) - Francis Poulenc, Komische Oper in zwei Akten und einem Prolog. Libretto nach dem gleichnamigen Stück von Guillaume Apollinaire.
von Peter Michael Peters
- ZWISCHEN IRONIE UND NOSTALGIE
- Le rossignol qui sur la main se pose !
- Ma brave enfant, porte-le vite jusqu’au palais;
- Et nous, suivons en toute hâte.
- (Der Kammerherr, Auszug aus Die Nachtigall)
- Je suis une honnête femme, monsieur; ma
- Femme est un homme-madame. Elle est soldat,
- Télégraphiste, ministre, merdecin, mais, comme
- ils ont fait explosion, disons plutôt merdecin.
- (Der Ehemann, Auszug aus Die Brüste von Tiresias)
Lustige Vögel und vermischte Gattungen…
Als junger Mann schwor Francis Poulenc (1899-1963) nur auf moderne Musik. Auf seinem Klavier spielte er die Sechs kleinen Stücke für Klavier, Op. 19 (1911) von Arnold Schönberg (1874-1951), die Ballette und die Oper Le Rossignol von Igor Strawinsky (1882-1971), die allesamt den Schrecken seiner Klavierlehrerin erregten. Der Musiker sagte, er habe um 1916 „noch im Stil von Strawinsky mit Musik-Beispielen aus dem Rossignol komponiert. Ich war ziemlich stolz“, fügte Poulenc hinzu, „auf ein Stück für Klavier mit dem Titel Processionnal pour la crémation d’un mandarin.“ Schnell wieder zerstört, ahmte dieses Stück den Marche chinoise aus der Oper von Strawinsky nach. Dann aber befreite sich Poulenc durch das Beispiel der abgespeckten Noten von Eric Satie (1866-1925) von dem exotischen Impressionismus von Strawinsky.
Lacouf & Presto : Cyrille Dubois & Francesco Salvadori in Les Mamelles de Tirésias youtube Théâtre des Champs-Elysées [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Seit ihrem ersten Zusammentreffen im Jahre 1917 pflegten Strawinsky und Poulenc eine lange Beziehung der großen Wertschätzung und Freundschaft zu pflegen. Der Russe öffnete den Weg zur neoklassizistischen Ästhetik für Poulenc. Ihre Beziehung wird mit der Abreise von Strawinsky in die Vereinigten Staaten im Jahre 1939 naturgemäß weniger intensiv, aber Poulenc wird nicht aufhören, seinen älteren Freund zu verehren, selbst nach seiner Hinwendung zur Serial-Musik, was ihn ungläubig zurücklassen wird. „Sie sind noch immer sehr tief in meinem Herzen verwachsen“, schrieb er an ihn während eines letzten Briefwechsels im Sommer 1962.
Heute Abend wieder vereint, haben Le Rossignol und Les Mamelles de Tiresias die ganze Frische von ersten Opern! So unterschiedlich wie möglich in der Form und Atmosphäre – die erste ist eine orientalische Träumerei voller Poesie, die zweite eine drollige Fabel mit hektischem Rhythmus -, dennoch teilen sie eine allegorische Dimension. Die auch der französischen Regisseur Olivier Py hervorheben wollte in einer neuen Inszenierung, in der jedes das Gegenteil des anderen ist.
Aus einem Märchen von Hans Christian Andersen (1805-1875) stammend, versichert uns Le Rossignol, dass die Maschine trotz der Faszination die sie ausübt, gleichbedeutend mit dem Tod ist und ihr Reich sich nicht über die Welt ausdehnen wird (nicht mehr sehr sicher!). Les Mamelles de Tiresias ist eine Adaption von Guillaume Apollinaires (1880-1918) Stück und ein soziales und politisches Manifest, das die individuelle Emanzipation durch die Erforschung der sexuellen Identität fördert. Beide Werke stellen große wichtige Fragen, die man als gesellschaftlich bezeichnen könnte, mit überraschend zeitgemäßen Resonanzen – aber sollten wir ihrem Happy Ends vertrauen?
Die beiden Gefieder der Nachtigall…
Mit seiner Partitur, die einen subtilen Impressionismus mit einem moderneren Stil verbindet, bietet Le Rossignol eine Synthese der Anfänge von Strawinsky und das Ende seiner Lehrzeit in Russland bis zur seiner Pariser Zeit, wo er einer der prominentesten Komponisten wurde.
Der Musiker begann 1908 mit der Komposition von Le Rossignol während er sein Studium bei Nikolai Rimski-Korsakow (1844-1908) abschloss. Im Gefolge der musikalischen Verzauberungen seines Lehrers schrieb er das Libretto mit seinem Freund Stepan Mitusov (1878-1942). Aber nachdem er den ersten Akt der Partition geschrieben hatte, erhielt Strawinsky einen Auftrag für die Musik des Balletts L’Oiseau de feu (1910) von Serge de Diaghilev (1872-1929), dem Impresario der Ballets Russes. Es folgten Petrouchka (1911) und Le Sacre du printemps (1913).
Es wird notwendig sein, das Alexandre Sanin (1869-1956) ihm im Jahre 1913 vorschlägt, die Eröffnung des neuen Freien Theaters in Moskau mit einem Werk zu gestalten und somit vollendete Strawinsky seinen unvollendeten Rossignol. Der Komponist zögerte dennoch: Konnte er noch den ersten Akt von Le Rossignol überzeugend fortsetzen, da sich doch seine Kompositionsweise derartig weiter entwickelt hatte? Alles in allem wird gesagt, dass die ästhetische Diskrepanz durch die Struktur des Dramas gerechtfertigt sein wird. Der 1. Akt ist von herrlicher Raffinesse und wird als eine Art Prolog erscheinen. Während die eigentliche Handlung in den Akten 2 und 3 im Kaiserpalast zu einer provokanten Musik (pentatonische Tonleitern, Bitonal und perkussive Orchestrierung) stattfinden wird.
Nicht russisch genug…, nicht modern genug…!
Nachdem das Freie Theater von Moskau bereits vor seiner Eröffnung bankrott gegangen war, wird Le Rossignol schließlich während der Pariser Saison der Ballets Russes am 26. Mai 1914 in der Opéra Nationel de Paris unter der Leitung Pierre Monteux (1875-1964) uraufgeführt. Eine ungewöhnliche Platzanordnung für die Mitwirkenden, denn die Stimmen des Rossignol und des Pêcheurs kommen aus dem Orchestergraben, was die zu große Nähe des Werks zum Ballett betont. Die Oper wird auf Russisch gesungen, aber in der Partitur erscheint auch eine französische Version!
Das Publikum begrüßt das Werk sehr positiv, aber die Kritik ist gemischt: Ein Clan wirft Strawinsky vor, seinen russischen Stil aufgegeben zu haben. Der andere, das er den modernistischen Weg von Sacre du Printemps nicht fortgesetzt habe. Le Rossignol wird vom 18. Juni des gleichen Jahres in London im Royal Theatre of Drury Lane kreiert, wo sie einen sehr großen Erfolg hatte. Drei Jahre später wird Strawinsky von der Oper eine Symphonische Dichtung ableiten, die für die Ballets Russes bestimmt waren: Le Chants du Rossignol (1917). Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass Poulenc während der Premiere an der Opéra National de Paris im Februar 1920 anwesend war.
Im Nachhinein betrachtete Strawinsky seine Oper als Kuriosität in seinem Werk-Katalog. War sie seiner Meinung nach zu undramatisch? Noch zu sehr vom russischen Orientalismus seiner Anfänge geprägt? Jedoch hinderte es den Komponisten nicht daran, die Partitur im Jahre 1962 zu überarbeiten!
Eine Reise in das Land der Fabeln…
Poulenc wiederholte es immer wieder: „Vielleicht ziehe ich Les Mamelles de Tiresias vor allen Werken, die ich geschrieben habe vor“. Am Zusammenfluss der verschiedenen Strömungen, die durch seine Produktionen fließen, ist die Komische Oper eines der repräsentativsten Werke seiner musikalischen Persönlichkeit. Ein Gleichgewichtspunkt sogar: Poulenc beherrschte jetzt seinen Beruf auf das Perfekteste und die Vielfalt seiner musikalischen Palette, die noch nicht in einer Sprache der Reife übergegangen war, erlaubte es ihm mit illustrierender Flexibilität den Text von Apollinaire zu vertonen. Er kennt nun auch die Geheimnisse der Dichtersprache, die er bereits in mehr als zwanzig Melodien vertont hatte. Das Ergebnis ist ein kaleidoskopisches, aber perfekt kohärentes Werk und eine beispiellose Fantasie!
Das Stück von Apollinaire war im Juni 1917 im Théâtre Maubel am Montmartre uraufgeführt. Poulenc wird erzählen, dass er neben Pablo Picasso (1881-1973), Amedeo Modigliani (1884-1920), Paul Éluard (1895-1952), Louis Aragon (1897-1982) und Satie und vielen anderen an der Premiere teilgenommen hatte. Durch die Abfolge seiner burlesken Episoden kommt der Text einer Revue nahe. Er stammt aus dem Jahr 1913, aber Apollinaire fügte ihm während des Ersten Weltkriegs einen ernsten Prolog und eine Schluss-Szene hinzu, die zur Wiederbesiedlung aufrief! „Es ist unmöglich zu entscheiden, ob dieses Drama ernst gemeint ist oder nicht“, sagte der Dichter in seinem Vorwort. Der singuläre Untertitel des Stücks „surrealistisches Drama“ bezeichnet eine um die Möglichkeiten des Unbewussten bereicherte Realität. Im Vormonat qualifizierte Apollinaire bereits als „surrealistisch“ das Ballett Parade (1917) von Satie und Jean Cocteau (1889-1963).
Eine Nachkriegs-Show zieht den Zuschauer in seinen Bann
Doch erst im Sommer 1938 überlegte Poulenc, Les Mamelles de Tiresias zu vertonen und beim erneuten Lesen fiel ihm auch das Stück durch seine „Extravaganz“ und seine Poesie auf. Mit Zustimmung von Jacqueline Apollinaire (1891-1967), der Witwe des Dichters, modifizierte er die Repliken, streicht die Bezüge zum Ersten Weltkrieg im Prolog und versetzte die Handlung nach Monte-Carlo in das Jahre 1912. Poulenc begann im Sommer 1942 zu komponieren an, arbeitete jedoch hauptsächlich zwischen Mai und Oktober 1944, bevor er das Werk bis zum Sommer 1945 orchestrierte. Selten war er so zufrieden und komponierte mit großer Freude an seiner Partitur, bevor die Premiere stattfand.
Im folgenden Jahr machte Poulenc die von der Vorsehung bedingte Begegnung mit der Sopranistin Denise Duval (1921-2016), der idealen Interpretin des Tiresias. Les Mamelles de Tiresias wurden am 3. Juni 1947 an der Opéra Comique unter der Leitung von Albert Wolff (1884-1970) uraufgeführt. Während der deutschen Besetzung konzipiert, während der Landung der Alliierten Truppen komponiert und nach der Befreiung geschaffen, ist sie die „Nachkriegs-Show“ wie Poulenc sie nannte! Sie wird dem lieben Freund Darius Milhaud (1892-1974) gewidmet, um seine Rückkehr aus dem Exil in den Vereinigten Staaten zu feiern.
Durch ihre Freiheit und ihren Wahnsinn werden Les Mamelles de Tiresias scheinbar Le Bal masqué von 1932 entschieden erweitern! Es sieht fast aus wie eine Varieté-Show, in der sich Giuseppe Verdi (1813-1901), Jacques Offenbach (1819-1880), Jules Massenet (1842-1912), Johann Strauss II (1825-1899) und Maurice Chevalier (1888-1972) getroffen hätten unter der Ägide von Maurice Ravel (1875-1937) mit seiner L’Heure espagnol (1911) und L’Etoile (1877) von Emmanuel Chabrier (1841-1894), der musikalische Großvater von Poulenc, dessen Geist über dem Werk schwebt. Wie so oft entsteht eine typische Singularität des Komponisten aus einer geschickten Assimilation von Referenzen!
Die Nummernfolge biete eine ständige Erneuerung, „um das Publikum in den Bann zu ziehen“, so Poulenc. Gespickt mit Überraschungen und Tanzrhythmen ist die Partitur auch voller großer lyrischer Momente! „Wenn es meiner Musik gelingt, die Menschen zum Lachen zu bringen und dabei kurze Momente der Zärtlichkeit wahrzunehmen, ist mein Ziel voll erreicht“, erklärte der Komponist. Das Orchester ist reduziert, aber reich an Schlagzeugen und mit einem Klavier ausgestattet, das vielleicht an beflügelte Café-Konzert-Atmosphäre erinnert soll. Die Leichtigkeit des Tasten-Anschlags der Instrumentierung gewährleistet die Verständlichkeit des Textes, der mit einer flexiblen Vokalität behandelt wird, aber das jedoch das Rezitativ ausschließt. Am Tage der Premiere waren Les Mamelles de Tiresias ein großer skandalöser Erfolg und schockierten einen großen Teil des anwesenden Publikums, das an diesem Abend im ersten Teil La Bohème (1896) de Giacomo Puccini (1858-1924) hörte.
Die Aufführung - Théâtre des Champs-Élysées, Paris - 17. März 2023:
Ehre oder Zahl: Sex oder Tod…
Mit den urwüchsigen Les Mamelles de Tiresias schließt der französische Regisseur Olivier Py seine Poulenc-Trilogie im Théâtre des Champs-Élysées ab. Im ersten Teil besetzt Le Rossignol von Strawinsky die Rückseite der Bühnendekoration. Nach dem Dialogues des carmélites (1957), die in 2013 entstanden sind und 2018 wieder aufgenommen wurden, hatte Py 2020 ein lyrische Show konzipiert: La Voix humaine (1959) von Poulenc und Point d’orgue (2021) von Thierry Escaich (*1965), dieses letzte Werk sollte als eine Verlängerung und Erweiterung des ersten gedacht sein. Da das Theater aus den uns bekannten sanitären Gründen (Covid 19) das Publikum in dieser Periode nicht empfangen konnte, wurde die Aufführung 2021 aufgezeichnet und ausgestrahlt.
Durch die Verbindung von Le Rossignol (gesungen auf Französisch!) und Les Mamelles de Tiresias schlägt der Regisseur eine neue Verbindung vor, die zudem aber sehr unpassend ist. Erstens weil Le Rossignol nach Andersen ein philosophisches und poetisches Märchen ist, deren Geschichte in einem fernen und fantasierten China spielt. Während Les Mamelles de Tiresias nach einem Stück von Apollinaire, eine sehr pariserische extravagante und bunte Fabel ist, die Poulenc angeblich nach Zanzibar verortet hatte, tatsächlich aber an die französische Reviera… Im ersten geht es um den Tod, im zweiten um viel Sex! Fortpflanzung und Emanzipation! Hupst! Py bringt sie gleichzeitig am selben Ort zusammen, in einem Kabarett namens… Zanzibar (in Anspielung auf die berühmte ehemalige Homosexuellen-Nachtbar in Cannes, die von Apollinaire und Poulenc häufig besucht wurde!): Während Les Mamelles de Tiresias auf der Bühne eine Vorstellung vorführen, sieht man einen bleichen kranken Mann - den Kaiser von China - der hinter der Kulisse im Sterben liegt. Indem das Dekor in der Pause gedreht wird, wechseln wir von der dunklen und schwarzen Atmosphäre zu der fröhlichen und farbenreichen: Mit gesättigten Primärfarben und funkelnden roten Lichter des Kabaretts. Ein trauriges und blassweißes ständig flackerndes Neonlicht kontrastiert mit den bunten schillernden und blendenden Leuchtstoffröhren auf der gegenüberliegende Seite.
Im ersten Teil ist Thérèse / Tiresias hinter den Kulissen Le Rossignol und wechselt ihre Erscheinung, je nachdem ob sie auf die Kabarettbühne zurückkehrt, die im Obergeschoss sichtbar ist. Oder ob sie mit dem bettlägerigen Kaiser von China tief unterhalb im halbdunklen zur Vogelfrau wird. Kein Meer oder Palast für ihn! Die beunruhigende Unwahrscheinlichkeit: Was macht ein Kaiser von China hinter den Kulissen eines Kabaretts? Wo ist die poetische Dimension? Wo ist das Wunderbare eines Märchens? Wir müssen es ignorieren! Die Aufführung erfasst es als Ganzes! Hier treffen die beiden Werke auf ihre Themen und färben sich aufeinander ab! Der personifizierte Tod versucht sich einzuschleichen von einer Seite zur anderen Seite! Die chinesische Dschunke aus dem Märchen, die wir zu sehen glauben, ist in Wirklichkeit ein Totenschädel, die Kehrseite des grün fluoreszierenden Hintergrunds in der Kabarettbühne. Thanatos und Eros: Vergessen wir hier das stumpfe Gefieder des Singvogels, die Nachtigall-Frau mit dem Bruststück und den Flügeln eines roten Wunsch-Engels wird Wahrsagerin…, wird grüne Frau-Pfau…, und Stimmungsmacherin in einer Varieté-Revue am Ende der Fabel Les Mamelles de Tiresias. Die Erotik durchzieht beide Stücke, jedoch viel heiterer und hemmungsloser im zweiten! Die Nachtigall-Frau überreicht dem Kaiser von China als Ehrenzeichen einen Wischbesen, während Thérèse sich von ihrer Rolle als Hausfrau endlich befreit und zu Tiresias mit rotem Bart wird. Der mechanische Vogel der Fabel wird durch einen Computer ersetzt, der mit dem Logo eines renommierten sozialen Netzwerk gezeichnet ist. Der auch gleichzeitig Zehntausende von Menschen erreicht, während der wissenschaftliche Fortschritt es dem Mann-Ehemann in der Fabel ermöglicht: Gleichzeitig auch viele Tausende von Kindern ohne weibliche Hilfe zu erzeugen! Geschlecht, künstliche Befruchtung, Themen aus unserem Jahrhundert…
Die Vorsicht des Publikums am Ende von Le Rossignol wird von Les Mamelles de Tiresias schnell hinweggefegt durch eine prickelnde, schmackhafte, urkomische Produktion virtuos von Py in Szene gesetzt. Der mit einem unterschwelligen Schuljungen-Humor gewissermaßen im zweiten Grade umzugehen weiß und das mit vollendeter Kunst und einem unbestreitbaren genialen Geist. Aber auch ohne Vulgarität oder Schwere noch ohne Prüderie: Indem er die richtigen „Mittel“ hineinlegte… Die prunkvolle Darstellung, veredelt durch feminine und maskuline Attribute, die großen Ballon-Brüste, die von der Bühne zum Publikum flogen, die große dekorative Vulva aus Leuchtstoffröhren, der erigierte Penis mit einem übertriebenen üppigen Schaum ejakuliert mit Freuden: All dies lud zu herzhaftem Gelächter ein und das Publikum zögerte auch nicht! Die Sänger sind alle ausgezeichnete schauspielerische Darsteller-Talente!
Die großartige französische Koloratur-Sopranistin Sabine Devieilhe ist sowohl Le Rossignol, Thérèse-Tiresias und gleichzeitig auch die Wahrsagerin, drei Rollen, die sie mit viel Finesse charakterisiert. Das Timbre ihrer geschmeidigen und äusserst üppigen Stimme ist unmerklich schön, sanft und seidig in der Rolle des Rossignol und wird brillant und fruchtig in Poulencs Werk. Sie singt mit berührender Ausdruckskraft bis in die höchsten Töne! Äusserst Sexy und erfrischend witzig auf der Bühne verführt sie mit ihrer irren Spontanität.
Der französische Bariton Jean-Sébastien Bou ist als sterbender Kaiser von China einfach umwerfend tragisch. Aber auch als Ehemann von Thérèse ist er unbeschreiblich drollig! Seine Arie „…il faut faire des z’enfants z’à Zanzibar“ ist so komisch wie auch gleichzeitig pathetisch! Er schaffte eine Bühnen- und Gesangsdarbietung, die seiner Rolle als Mann sehr würdig war: Der zum Transgender gewordene Ehemann!
Wir entdecken mit angenehmen Erstaunen, das der französische Tenor Cyrille Dubois als Monsieur Lacouf seine Beine beim Tanzen so hoch heben kann, wie er singen kann! Er leiht seine Tenorstimme, leicht und leuchtend mit einem zarten Timbre an drei andere Charaktere: Der Reihe nach Le pêcheur, Premier envoyé japonais und last not least Le jornaliste parisien. Er nimmt mit Leichtigkeit den Pariser Jargon-Akzent der kleinen Leute an und fühlt sich noch vollkommen wohl darin! Eine wirklich wahnsinnig tolle Leistung. Bravo Cyrille!
Zunächst Le Chambellan, es ist aber besonders als Le directeur de théâtre, dass der französische Bass-Bariton Laurent Naouri mit seinem großen Talent als Sänger und Schauspieler beeindruckte: Die makellose Diktion, das gemeißelte Wort in seiner Stimme, die ihr Timbre und ihre Lebendigkeit voll bewahrt haben. Im Prolog und in anderen Interventionen war er auch als flexibler und luftiger Tänzer eine Augenweide und es waren eine der absoluten Höhepunkte des Abends.
Der französische Bariton Victor Sicard wechselt mit Leichtigkeit vom Bonze zum Gendarme in einer Inkarnation: Dem es nicht an Pikanterie mangelt, szenisch wie stimmlich mit einer wohlklingenden Tiefe und mit vollmundigen Farbnuancen! Er lässt seine Uniformjacke fallen, um sich in einen spezifischen Sexualpartner zu verwandeln und seine Brust und seine bloßen Arme sind in Leder-Accessoires gekleidet. Hups!
Der französische Tenor Rudolphe Briand hatte viel Spaß daran, das Timbre seiner Stimme zu modulieren, ein urkomischer Sänger und Schauspieler: Verkleidet als hemmungslose Grosse Dame mit ihren (falschen) großen Brüsten in der Luft hängend oder als frecher Fils-Lapin oder auch als Troisième envoyé japonais. Der spanische Bariton Francesco Salvadori machte eine sehr gute Figur als Monsieur Presto, desgleichen aber auch als Deuxième envoyé japonais. Die großartige französische Altistin Lucile Richardot hatte die wichtige Rolle La Mort übernommen und gleichzeitig La marchande de journaux. Die französische Sopranistin Chantal Santon Jeffery sang La cuisinière und Une dame élégante. Alle Interpreten waren ebenso bemerkenswert und subtil und das auch in ihren kurzen Gesangs-Einlagen!
Die Chorsänger des Ensemble Aedes unter der äußerst lebendigen Leitung ihres französischen Chorleiters Mathieu Romano waren gewissermaßen als Zuschauer in die Aufführung miteinbezogen und sangen links oben auf den Balkons des Theaters und natürlich auch auf der Bühne. Mit ihrem einheitlichen und kraftvollen Gesang durchsetzen sie ihre reiche Präsenz durch den ganzen Abend. Der französische Dirigent François-Xavier Roth und sein Orchester Les Siècles, das auf historischen Instrumenten spielt, liefern eine sehr sensible Interpretation für Le Rossignol und unterstreichen taktvoll die Dissonanzen der Partitur. Dagegen wird das Orchester bei Les Mamelles de Tiresias entschieden lebhafter, würziger, farbenfroher und passt sich perfekt zu der präsentierten reichen und farbenfrohen Szenografie von dem französischen Bühnen- und Kostümbildner Pierre-André Weitz. Wir wollen auch nicht für diese spektakuläre Produktion die so wichtige Lichtmalerei vergessen: Der französische Lichtbildner Bertrand Killy hat sich ausgezeichnet ins Licht gestellt!
Die allgemeine Komplizenschaft, die alle Musiker vereint und die ungezügelte Fantasie dieser von Olivier Py (fast!) millimetergenau geregelten und beherrschten Produktion, tragen zu ihrem großen Erfolg und dem hinterlassenen Gesamteindruck bei. (PMP/27.03.2023)