Paris, Théâtre des Champs-Élysées, FAUSTO - Oper von Louise Bertin, IOCO Kritik, 29.06.2023
Théâtre des Champs-Élysées - Paris
FAUSTO (1831) konzertant - Louise Bertin
Oper Semi-Seria in vier Akten von Louise Bertin, nach dem Drama von Johann Wolfgang von Goethe; Libretto - Louise Bertin, italienisch - Luigi Balocchi
von Peter Michael Peters
- STELLT DIE MUSIK DEN MYTHOS FAUST IN FRAGE?
- Consiglio vuoi da me?
- Ah lascia, amico, un tal soggiorno;
- sono tuoi sensi a morte in braccio,
- e dei piacer col dolce laccio
- i giorni tuoi io cingerò. (Arie des Mefisto / 2. Akt, Auszug)
Ein europäisches Fieber…
Es ist die Akkulturation des Mythos in der europäischen Musik, die wir jetzt ansprechen wollen. Wie verwandelt sich Faust (1808) im Kontakt mit dem fremden Geist? Von England bis Russland war ganz Europa schnell von dem Mythos begeistert. Die Gravuren des deutschen Malers Moritz Retzsch (1779-1857) waren seit 1820 in London im Umlauf zusammen mit den Erstveröffentlichungen, Übersetzungen und Analysen des Faust 1.Teil. Der Literarische Kontext erscheint sehr günstig: Percy Bysshe Shelley (1792-1822) veröffentlicht gleichzeitig seine eigene Walpurgis Night (1819) in der Zeitschrift Liberal. Der Dichter Walter Scott (1771-1832) wird neun Jahre später in einem Treatise on Demonology and Witchcraft (1838) sich zu diesem Thema äußern. Was das Werk von George Gordon Noël Byron (1788-1824) betrifft, stößt es bei vielen auf Resonanz über Faust-ische Themen. Die von George Soane (1790-1860) signierte Bühnenadaption des Dramas von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) hatte 1825 große Wirkung: Sie lockte viele Ausländer nach London, allen voran Eugène Delacroix (1798-1863), der begeistert nach Paris zurückkehrte. Am anderen Ende von Europa interessierte sich Sankt-Petersburg für dasselbe Thema, zumal Friedrich Maximilian Klinger (1752-1831) in dieser Stadt tätig war und zu einem hochrangigen russischen Beamten geworden ist. Er hatte Ende des 18. Jahrhunderts die erste Ausgabe seines Roman Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrten (1791) veröffentlicht! Wenn sich Alexander Puschkin (1799-1837) in einer Szene mit dem Titel Faust hervortat, muss man erkennen, dass russische Musiker sich vor Anton Rubinstein (1829-1894) kaum für das Thema interessierten. Was die Engländer betrifft, so begnügen sie sich mit der Aufführung von Balletten.
FAUSTO von Louise Bertin - Interview Alexandre Dratwicki youtube Palazzetto Bru Zane [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
In Italien verlief die Verbreitung des Mythos noch langsamer voran. Aber Giuseppe Mazzini (1805-1872) war ein glühender Bewunderer von Goethe, die erste Übersetzung des Faust erschien 1835, signiert Giovita Scalvini (1791-1843) und ab 1837 hörten wir in der Oper von Florenz einen Fausto: Es war eine Komposition von einem gewissen Luigi Gordigiani (1806-1860)! Giuseppe Verdi (1813-1901) hielt Abstand zum Motiv und man musste auf Arrigo Boito (1842-1918) warten, bevor ein großer italienischer Faust erschien. Zuvor war um 1830 eine Hauptstadt im wahrsten Sinne des Wortes von einem Faust-ischen Fieber erfasst worden. Eine Hauptstadt, die sich leidenschaftlicher als die Deutschen selbst für das große Goethe-Thema begeisterte. Eine Hauptstadt die die Fantasie aller vorbeikommenden Musiker beflügelte und die damals vielleicht als Herz der Musikwelt galt…
Die Pariser Faust-Mania…
Ein Brief von Gioachino Rossini (1792-1868) an den deutschen Pianisten und Komponisten Ferdinand Hiller (1811-1885) bezeugt dies einige Jahre später: Er beschwört „einen echten Faust-ischen Wahnsinn in Paris“ vor der Juli-Revolution im Jahre 1830, wo „jedes Theater seinen eigenen Faust aufführt“. Das er gewissermaßen dadurch die Lust verloren hatte, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, an das er dennoch früher dachte. Was war also in Paris los, dass Faust zum großen unbestrittenen heißen Thema wurde?
Die französische Rezeption von Goethes Faust…
Madame Germaine de Staël (1766-1817) war eine der ersten, die über Goethes Stück in ihrem berühmten Roman De l’Allemagne (1813) berichtete, das von Kaiser Napoléon Bonaparte I. (1769-1821) im Jahre 1810 zensiert wurde. Das dreiundzwanzigste Kapitel des zweiten Teils bietet eine Lesung und eine Paraphase der Hauptszenen dieses Dramas, es scheint so, das sie gleichzeitig erschreckt und auch fasziniert davon war: „Ob es nun als ein Werk des Deliriums des Geistes oder der Sättigung der Vernunft angesehen werden kann, es ist zu wünschen, dass solche Produktionen nicht erneuert werden. Aber wenn ein Genie wie das von Goethe sich von allen Fesseln befreit, ist die Menge seiner Gedanken so groß, dass sie nach allen Seiten über die Grenzen der Kunst hinausgehen und diese sprengen.“ Der Verweis auf den Faust von Goethe setzte sich nach und nach in der Literatur-Kritik unter der Restauration durch, parallel zur Begeisterung für das William Shakespeare (1564-1610)-Theater: Es ermöglichte die Unterstützung und Demonstration, die die französische Tragödie dem ausländischen Drama gegenüberstellte, wie z. B. im Vorwort zu Cromwell (1827) von Victor Hugo (1802-1885). Die französischen Künstler und Intellektuellen wurden dann durch die in der Zeitschrift Le Globe veröffentlichten Artikel auf das Drama von Goethe aufmerksam, allerdings in unterschiedlichen Übersetzungen, die während der Restauration aufeinander folgten.
Der Pariser Verleger und Buchhändler Pierre-François Ladvocat (1791-1854) brachte eine brillante Sammlung von Chefs-d’oeuvre des théâtres étrangers (1822) heraus, in der Louis-Clair de Sainte-Aulaire (1778-1854) bereits 1823 eine Übersetzung des Faust I. anbot. Aber teilweise zu sehr poliert in der Sprachform und auch mit vielen Druckfehlern versehen, ausgenommen in den phantastischen Szenen der Walpurgis-Nacht. Jedoch die Übersetzung von Philipp Albert Stapfer (1766-1840) herausgegeben von dem Verleger Auguste Sautelet (1800-1830) in Paris übertrumpfte die erste Übersetzung total. Um die zweite Auflage dieser neuen Übersetzung im Quartformat zu illustrieren, veröffentliche Delacroix .eine Serie von Lithographien. Bereits 1821 hatte der französische Maler die Zeichnungen von Retzsch kennengelernt. Vier Jahre später reiste er nach London, um eine Adaption des Faust I. auf der Bühne zu sehen, die einen sehr starken Eindruck auf ihn machte. „Ich habe ein Stück des Faust gesehen, das das teuflischste ist, was man sich vorstellen kann“, erklärte er weiter und das es „eine Art von Oper mit einer Mischung aus Komödie und vor allem aus dem, was da das dunkelste ist.“ Seine siebzehn Lithographien entführten den Pariser Leser in das unruhige und mephistophelische Universum einer zerrissenen Romantik, die von einer neugotischen Fantasie geprägt war, die sich auf alte Gravuren bezog. Sie verunsicherten die Franzosen sehr, gewannen aber Goethes Wertschätzung: „Monsieur Delacroix hat meine eigene Vision übertroffen“, vertraute er Johann Peter Eckermann (1792-1854) an. Vielleicht dachte er an die fantastische Darstellung von Mephisto, der als sardonischer und triumphierender Fürst der Finsternis durch die Luft schwebte.
In dem Moment, als die Pariser die Lithographien von Delacroix entdeckten, machte das Journal des débats große Werbung für das, was man heute als „Pack Kollektor“ bezeichnen würde: Es war damals möglich, für zwei Francs fünfzig die Reproduktion der sechsundzwanzig Zeichnungen von Retzsch zu kaufen, gedruckt auf kostbaren Pergamentpapier und begleitet von einer Analyse des Faust von Goethe von einer gewissen Elise Voärt (?). Ein neues Zeichen der Begeisterung für das große Thema à la mode!
Während die Pariser Innenräume mit diesen modischen Gravuren geschmückt waren, brachte Gérard de Nerval (1808-1855) im selben Jahr 1828 seine eigene Übersetzung von Faust heraus. Sie war ebenfalls voller falscher Annäherungen und stammte von einem jungen Mann von zwanzig Jahren, der die deutsche Sprache kaum beherrschte, aber durchaus begabt war ein poetisches Äquivalent zu den Versen von Goethe zu bieten. Er kombinierte einfach, wie es damals üblich war, wörtliche Übersetzungen, Nachahmungen und interpretative Paraphrasen zusammen. Diese Version setzte sich schnell durch und erlebte mehrere neue Auflagen und wurde dazu zwölf Jahre später durch die Übersetzung großer Auszüge aus dem Faust II. (1832) überarbeitet, erweitert und vervollständigt. Der fünfundzwanzig Jahre alte Hector Berlioz (1803-1869) verschlang es, sobald es veröffentlicht wurde, dann der blutjunge neunzehn Jahre alte Franz Liszt (1811-1886) und auch Charles-Valentin Alkan (1813-1888) war vom zweiten Teil des Dramas fasziniert. Der Maler Ary Scheffer (1795-1858) inspirierte sich daraus für eine Reihe erstaunlicher bemalter Leinwände. Im Musée de la Vie romantique de Paris kann man im Kunst-Salon 1831 zwei der ausgestellten Gemälde aus der Faust-Serie betrachten: Faust dans son cabinet, meditativ und rebellisch und Marguerite au rouet, ein keusches und reines Kind im Gebet.
„Zum Glück für die vielen französischen Autoren“ wird Jules Janin (1804-1874) in der Zeitschrift Débats erklären: „Goethe ist tot!“ In seinen letzten Lebensjahren murrte der alte Dichter von Weimar wiederholt, als er erfuhr wie schlecht und auch ohne Respekt die Franzosen sein Drama adaptieren, um daraus spektakuläre Effekte zu erzielen, indem sie seinen Umfang nur auf die phantastische, melodramatische oder äußerst sentimentale Dimension reduzieren… Der größte Anteil geht wohl zweifellos an Mephisto und Margarete, den verstörenden und mitfühlenden Dämon, der sich dem erbärmlichen Opfer gegenübersieht: Zum großen Nachteil des gleichnamigen Titel-Helden.
Die lyrischen Adaptionen…
Die lyrischen Theater kommen auch nicht zu kurz! Der Salle Favart eröffnet das langjährige Verbot im Frühjahr 1830, indem er die französische Kreation des Faust (1813) von Louis Spohr (1784-1859) anbietet. Die Resonanz ist positiv, aber die Arbeit der deutschen Truppe von Joseph August Röckel (1783-1870) überrascht.
Die Tatsache, dass Spohr das Drama von Goethe bewusst außer Acht gelassen hat, schockierte Castil-Blaze (1784-1857) sehr: Ein Faust ohne Margarete „ist eine Monstrosität, die uns dazu veranlassen sollte, das Werk des neuen Dichters mir Verachtung abzutun.“ Margarete, versichert er uns, „sei eine wertvolle Heldin für die Oper. Ihre Naivität, ihre Offenheit, ihre Verwirrung, ihre Reue, ihre Verzweiflung, all das ist sehr musikalisch.“ Und um verräterisch hinzuzufügen: „Nach solchen Missetaten müssen wir uns damit abfinden, bald auf der Bühne Oreste ohne Pylade, Othello ohne Desdemona, Colombine ohne Harlekin zu sehen“. Der Überraschungs-Effekt ist vor allem auf die Musik zurückzuführen: Die Pariser denken immer noch an den sechs Jahre zuvor entdeckten Der Freischütz (1821) von Carl-Maria von Weber (1786-1826). Allerdings ist die Partitur von Spohr in einem Post-Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)-Stil vor Weber komponiert worden: Sie übt einen sehr großen unterschwelligen fast nicht wahrnehmbaren Blick auf fantastische Effekte, Castil-Blaze wundert sich daher sehr über den Untertitel von „Romantischer Oper“, den Spohr seiner Oper gegeben hat: „Entweder wird Romantik missverstanden, weil sie schlecht definiert ist, oder die Einstufung von Faust als Romantik ist nicht korrekt. Was finden wir in dieser Komposition von Spohr? Klassische, ja sogar scholastische Formen, die Gesangsweise, die von Quinault im 18. Jahrhundert in Gebrauch war. Der Abbé Simon-Joseph Pellegrin (1663-1745), Philippe Quinault (1635-1688), der Lyriker schlechthin, (…) und alle diese Art von Romantik vermittelten uns Äbte, die in ihrer Oper ihre Vesper sangen.“ Die Mehrdeutigkeit ist auf die schwankende Terminologie des romantischen Adjektivs zurückzuführen, das bei Spohr eine germanische literarische Imagination im Gegensatz zur lyrischen Italianità bezeichnet, während es sich bei Castil-Blaze auf eine musikalische Ästhetik bezieht: Kontraste, Rückgriffe auf den Effekt, ein fantastischer Stil. Mit seinem Einzug in das Paris des Jahres 1830, in dem die literarischen Fraktionen aufeinanderprallten, trug der Faust von Spohr dazu bei, die zeitgenössische Debatte zwischen Klassizismus und Romantik sehr anzuheizen.
Das von den germanisch geprägten Romantikern wie ein Fahnenträger geschwungene Drama Faust hätte sich niemals mit dem Théâtre Italien in Paris kreuzen dürfen, das damals auch im Salle Favart installiert war. Dies ist eine seiner reichen Stunden, seit Rossini sich dort niedergelassen hatte! War es die Angst, ein Thema zu verpassen, das übervolle Geld-Kassen garantierte? Der Fakt ist, dass das Refugium der Aristokraten in gelben Handschuhen im folgenden Jahr ein dreifach erstaunlicher Fausto erreichte: Es handelte sich um eine der ersten Opern über das Drama von Goethes Faust in italienischer Sprache, komponiert von einer noch völlig unbekannten jungen Frau. Die Schülerin von François-Joseph Fétis (1784-1871) und Tochter des Direktors Louis-François Bertin (1766-1841) des Journal des débats, Louise Bertin (1805-1877). Sie wird heute vor allem für ihre Kühnheit in Verbindung gebracht, dass sie es wagte an der Académie royale de Musique Paris fünf Jahre später ihre Oper Esmeralda (1836) mit einem Libretto nach dem Roman Notre-Dame de Paris (1831) von Hugo selbst, aufzuführen. Der Fausto bleibt wohl eine Kuriosität: Das Libretto der Komponistin wurde insbesondere für die Aufführung am Théâtre Italien in italienischer übersetzt von Luigi Balocchi (1766-1832).
In der Original-Besetzung ist Fausto für eine Mezzo-Sopranistin bestimmt, aber sie kann auch von einem Tenor interpretiert werden. Auch war die Musik für viele Jahre unauffindbar, jedoch in den letzten Jahren hat man den kompletten Klavierauszug wiedergefunden!
Wie in zeitgenössischen melodramatischen Stücken artikuliert die Oper den teuflischen Pakt mit einer sentimentalen Handlung: „Als sich der Vorhang hebt, will Fausto, alt und von Ehrgeiz geplagt und verzweifelt an der Gleichgültigkeit, die seine Landsleute seinen Talenten und seinem erstaunlichen Wissen entgegenbringen .So will er seinem Leben und seinem Unglück ein Ende bereiten! Das Gift wird in den Becher gegossen, er führt es an seine Lippen! Doch da ertönt ein religiöser Chor, der in einer benachbarten Kirche gesungen wird, stark beeindruckt davon veranlasst ihn, sein Selbstmord-Projekt aufzugeben. Ein junges Mädchen, Margarita kommt zum Doktor und bittet um Hilfe durch Medizin oder Alchemie für ihre sterbende Tante. Umso eiliger gibt Fausto den Gebeten von Margarita nach, doch da er sie der guten Sitten willen nicht mehr sehen durfte, obwohl er sich doch sofort so sehr in sie verliebt hatte. Diese neue Leidenschaft erweckt sein Herz: Aber er ist alt, gebrechlich und arm: Sein grauer Bart ist kein Mittel der Verführung, auf das er nicht allzu sehr zu zählen wagt. Wie kann man ihm so viel Liebe einflößen, wie er empfindet? Es ist wohl notwendig, auf außergewöhnliche Mittel zurückzugreifen!“
Die Hauptmotivation des Pakts liegt daher im Streben nach einer zweiten Jugend. Genug, um das Goethe-Thema mit einigen komischen Szenen zu verflechten und auch noch dazu mit schönen Gesangs-Nummern zu schmücken: Die Interpreten in der Uraufführung waren der Tenor Domenico Donzelli (1790-1873) als Fausto, die Sopranistin Henriette Méric-Lalande (1798-1867) als Margarita und der Bass Graziono Santini (1799-1840) als Mefisto. Diese opéra semi-seria in vier Akten beeindruckte Castil-Blaze, der vor allem über die Identität seines Autors überrascht war: „Diese Autorin ist eine junge Dame, wie ich schon vorgestern sagte, man hätte nicht erwartet, dass eine Dame ein so stark ausgeprägtes Thema behandeln würde: Das die ganze Männlichkeit des Talents erfordert! Der Versuch war gefährlich, der Erfolg rechtfertigte ihn!“ Castil-Blaze entschuldigt die „Fremdartigkeit des Themas“, so das auch die bestimmten Effekte durch die „Blechblas-Instrumente“ überborden, die zweifellos etwas zu stark ausgeprägt waren! Wenn die Absicht darin bestand, mutig und brillant eine große Karriere zu starten, könnte der Zeitpunkt nicht schlechter ausgesucht sein! Seit einem Monat vervielfachen sich die republikanischen Unruhen in Paris: Der Aufstand vom 10. März, zwei Tage nach Uraufführung von Fausto, führte zum Rücktritt von Jacques Laffitte (1767-1844) zugunsten von Casimir Perier (1777-1832). Castil-Blaze sagte, dass Le Messager des Chambres ihre letzten Blätter am Eingang des Théâtre Italien verteilten und so dass die Zuschauer während der Arien und Ensembles in ihrer aktuellen Lektüre versunken waren. Vielleicht versuchte der Journalist, die Tochter seines Direktors zu verschonen, die das Opfer vieler frauenfeindlicher Angriffe wurde? Könnten wir das nicht zu Recht tun, so fragte sich die Revue des deux mondes fünf Jahre später und schrieb sich gegen den Verdienst einer jungen Frau von 25 Jahren aus, die sich schon bei ihrem ersten Werk vielleicht an die größte und schwierigste Komposition der gesamten Neuzeit heranwagte?
Der gewagte Schritt derjenigen, die sich sechs Jahre später Hugo zuwenden wird, ist äußerst Faust-isch: Wahrscheinlich unterstützt von Fétis und von ihrem Vater, geht Bertin über soziale Kodes und musikalische Institutionen hinaus, indem sie der Pariser Aristokratie das andeutet, was eine junge Frau erstreben und komponieren kann und sich in einem Medium der Männer durchzusetzen. Ein germanisches Thema in der italienischen Kunst vorzuschlagen, schließlich das totalste Drama und das am schwierigsten im Theater zu inszenierende Thema anzugreifen: Auf ein Thema, das selbst die Überschreitung thematisiert… Sei wie dem auch sei, diese unbestreitbare Kühnheit blieb leider durch die schon geschilderten politischen Unruhen fast unbemerkt!
Wie wir alle wissen, nach diesem Fausto… dem ersten Faust in Musik auf französischen Boden folgen viele andere und auch noch heute sehr bekannte Kompositionen zu dieser Thematik: Und zwar von Berlioz bis Dusapin…
FAUSTO konzertant - 20. Juni 2023 - Théâtre des Champs-Elysées, Paris
Ein unbekannter musikalischer Avatar…
Alle versierten Musikliebhaber wissen, dass Bertin, Tochter des Besitzers des Journal des débats und die auch in einem berühmten Gemälde von Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780-1867) verewigt wurde, die Komponistin von Esmeralda ist, einer Oper nach einem dürftigen Libretto von Hugo geschaffen und an der Académie royale de Musique mit der großen Cornelia Falcon (1814-1897) in der Titelrolle mit übergroßen Erfolg kreiert wurde. Die früheren von Bertin komponierten Opern sind hingegen sehr wenig bekannt, insbesondere dieser Fausto, der im Théâtre Italien uraufgeführt wurde… zwangsläufig wurde das Repertoire im Theater in Italienisch gehalten und somit übersetzte Balocchi das von der Komponistin geschaffene Libretto. In dieser Epoche war es nicht üblich, das der Komponist sein Libretto selbst schrieb, wir müssen warten bis zu Richard Wagner (1813-1883) und Berlioz. Gestützt durch die Position des Journal des débats, das fast das offizielle Organ der Juli-Monarchie war, ist Bertin eine unternehmungsfreudige Persönlichkeit, deren Aktivität trotz einer Krankheit, die sie zwingt auf Krücken sich fortzubewegen, nie nachgelassen hat. Aber reicht ihr Talent als Musikerin jedoch zu ihrer Kühnheit? Die Esmeralda hatte uns gute Erinnerungen hinterlassen, der Fausto, der vom Palazzetto Bru Zane Venedig wiederbelebt wurde: Ließ uns teilweise unbefriedigt zurück. Jedoch die anregende Idee, die Rolle des Fausto von einer Mezzo-Sopranistin zu besetzen, war sehr befriedigend und äußerst attraktiv. Bertin greift dort die Haupt-Episoden von Faust I. von Goethe auf, mit Ausnahme dieses Unterschiedes: Fausto trifft Margarita vor der Ankunft von Mefisto und bittet den Bösen um die Macht, das er das junge Mädchen verführen kann, in das er sich gerade verliebt hat. Wir durchlaufen also mehrere Situationen, die wir später in La Damnation de Faust von Berlioz oder im Faust von Gounod wieder finden werden. Aber die Partitur, in der wir sowohl Erinnerungen an Rossini als auch an Weber und einige andere finden, schwankt zwischen verschiedenen Genres ( was Berlioz in seinen Memoiren als Unentschlossenheit bezeichnet), anstatt sich für eine irreduzible Einzigartigkeit zu entscheiden und auch vor allem an Inspirations-Mangel.
Das letzte Tam-Tam…
Zugegebenermaßen hatte Bertin bereits im Alter von 26 Jahren Karriere gemacht und man wird nicht vergessen, dass sie Ultima scena di Fausto schon 1826 in einem Pariser Salon Gehör verschafft hatte. Zugegeben, sie wusste wie man für Stimmen schreibt, sie beherrschte die Kunst der Instrumentation, der Aufbau einer Oper hatte für sie keine Geheimnisse, aber der gesamte Fausto ist nicht von einer großen melodischen oder harmonischen Erfindung bewohnt. Nach einer vielversprechenden Ouvertüre wechseln sich martialische Seiten mit sehr trägen Momenten ab, etwa in Margaritas Arie, begleitet von einer Solo-Oboe, die nie davonfliegen will. Ein komisches Duett zwischen Mefisto und Catarina, das mehr oder weniger von Rossini inspiriert ist, weckt uns plötzlich auf und die letzten beiden Akte sind weit fesselnder und bieten eine gewisse Spannung, die den beiden vorherigen Akten schmerzlich fehlte. Wir schätzen die Szene, die Margarita den sechs Nachbarin gegenüberstellt, wir mögen die aufgeregte Arie von Fausto „O fier tormento rio“, wir sind überrascht vom Ende der Oper, mit einem einfachen Tam-Tam-Ton, der die ewige Verdamnis des Helden darstellt, statt des gewohnten Chor-Refrain und der unvermeidlichen Kadenz, die man hätte erwarten können! Fausto bleibt eine sogenannte große Mauer zwischen zwei ungewissen Gewässern. Bertin entschied sich für ein Ensemble aus Solisten, einem großen Chor und einem mit Posaunen und Schlagzeug ausgestattetem Orchester. Aber warum ein Cembalo bei einigen seltenen Secco-Rezitativen? Soll es uns daran erinnern, das wir in der Oper bei Italienern sind? Es gibt andere Möglichkeiten, dies zu erreichen! Als wir im dritten Akt gerade dabei sind, trotz der monumentalen Präsenz von Mefisto zu beklagen, dass die männlichen Rollen fehlen, kommt Valentino, Margeritas Bruder. Der eine wunderschöne Arie mit seiner trompetenhaften Tenor-Stimme beginnt, die die Ambiance völlig verändert: Plötzlich sind wir in Neapel oder Mailand!
Wo ist das Feuer?
Für seine Wiedergeburt im Théâtre des Champs-Elysées in Paris profitierte Fausto von Louise Bertin über die besten Bedingungen: dem Chor des Flämischen Rundfunks (Vlaams Radiokoor), dem Orchester Les Talens Lyriques unter der Leitung des französischen Dirigenten und Cembalisten Christophe Rousset, der nicht davor zurückschreckt, mit Kontrast und Dynamik zu spielen.
Und einem Team von führenden Solisten: Darunter die große französische Mezzo-Sopranistin Karine Deshayes, die die Travestier-Rolle des Fausto mit einem konstantem Engagement und einem Ausnahme-Lyrismus singt, der unweigerlich unter die Haut geht. Der serbische Bass Ante Jerkunica interpretiert die Rolle des Mefisto mit einer marmornen Attitüde und mit einem äußerst scharfen auffallenden Sarkasmus und einer irren dämonischen Intelligenz. Die französische Mezzo-Sopranistin Marie Gautrot ist seine perfekte Komplizin in der kurzen und sehr spöttischen Rolle der Catarina. Der maltesische Tenor Nico Darmanin bringt mit seiner strahlenden Stimme für sich allein ganz Italien auf die Bühne mit seiner großen Arie des Valentino im 3. Akt. Auch erwecken die moldawisch-französische Mezzo-sopranistin Diana Axentii als Marta / Una strega und der französische Bariton Thibault de Damas als Wagner / Un banditore jeweils zwei kleine Charaktere bewundernswert zum Leben, die für den Verlauf der Handlung von wesentlicher Bedeutung sind. Leider nur die kanadische Sopranistin Karina Gauvin bleibt völlig im Hintergrund, als würde sie ihre Partitur erst heute entdecken und sich auch verweigern, die von Gott gesendeten Qualen für die sündige Margarita auf sich zu nehmen.
Fausto wurde gerade, fast zwei Jahrhunderte nach seiner Entstehung wiederbelebt und es ist vorgesehen, eine CD-Einspielung zu veröffentlichen unter der musik-wissenschaftlichen Leitung des Palazzetto Bru Zane Venedig. Auch ist in Deutschland in der nächsten Saison eine Produktion vorgesehen, jedoch in der Rolle des Fausto mit der Tenor-Version.
Aber, O mein Gott, diese Oper ist nicht im geringsten teuflisch…
(PMP/28.06.2023)