Paris, Théâtre des Champs-Élysées, DIE WALKÜRE - konzertant - R. Wagner, IOCO
DIE WALKÜRE in Paris: Bei der letzten von vier Aufführungen einer kurzen RPO-Tournee von Rotterdam mit einem Besuch in Baden-Baden, Dortmund und schließlich im Théâtre des Champs-Élysées in Paris. Obwohl bei dieser Besetzung viele Sänger ihr Rollendebüts im Wagner-Fach gaben ....
DIE WALKÜRE (1870) - konzertant, Zweiter Tag aus DER RING DES NIBELUNGEN (1876), Musikdrama in drei Akten mit einem Libretto vom Richard Wagner -
von Peter Michael Peters
ZERTRÜMMERT LIEGT, WAS SIE GETRENNT…
Deiner ew’gen Gattin
heilige Ehre
beschirme heut ihr Schild!
Von Menschen verlacht,
verlustig der Macht,
gingen wir Götter zugrund:
würde heut nicht hehr
und herrlich mein Recht
gerächt von der mutigen Maid.
Der Wälsung fällt meiner Ehre!
Empfah‘ ich von Wotan den Eid? (Szene der Fricka / 2. Akt)
Siegmund und Sieglinde oder die Macht der Verbote…
Die Walküre ist nicht die erste Inzest-Geschichte unter Richard Wagners (1813-1883) Werken, aber die letzte. Voraus geht Lohengrin (1850), die Tragödie des Frageverbots, ein in historische Zeiten eingelassenes Märchen voller bösem und gutem, heidnischem und christlichem Zauber, dessen magische Wirrsal sich sofort klärt, wenn man es als die Traumerzählung nimmt, die es ist: Der Traum eines in der Blüte seiner Pubertät stehenden jungen Mädchens, das im Wald lustwandelnd ihren Bruder verliert, auf den sie doch aufpassen sollte und sich deswegen gescholten und verklagt sieht. Sie weiß nicht zu antworten, als sie aber unter der Wucht der Vorwürfe zu erliegen droht, kommt ein schöner Jüngling und rettet sie. Er wird ihr Gemahl unter einer Bedingung, dass sie ihn niemals Frage: Wer er sei! Das Verbot bezieht sich offenbar auf einen Umstand, wenn dieser bekannt werden würde: Den Vollzug der Ehe sofort unmöglich machen würde! Darum ist der Zwang es zu übertreten: Nämlich noch vor diesem Vollzug unausweichlich!
Die Frage wird also gestellt, aus dem zwingenden Empfinden, dass etwas Verbotenes geschähe, wenn die Identität des Bräutigams unaufgeklärt bliebe. Die Hexe Ortrud, die zu der verbotenen Frage verführend, Einlass bei der Braut findet, ist ersichtlich die Stimme ihres schlechten Gewissens. Prompt tritt das Angedrohte ein: Der Geliebte, der dies nur sein konnte, solange er unerkannt blieb, verzieht sich, nicht ohne im Entschwinden seine Identität preiszugeben. Er tut dies scheinbar mit Worten, mit Hinweisen auf ferne Ritter und ein geheimnisvolles Gefäß; er tut es in Wahrheit durch einen Gestaltentausch: Lohengrin verwandelt sich in Gottfried, den verschwundenen Bruder zurück. Dieser der zum Schwan wurde, der mythisch bezeichnenden sexuell prägnanten Zeus-Gestalt, ist Lohengrins wahre Identität. Elsa, die Schwester hat sich also den Bruder in der Gestalt des erlösungsmächtigen Fremden verwandelnd: Über das fadenscheinige grausame Inzestverbot hinwegphantasiert. Im Untergrund ihres Traumbewusstseins aber blieb das Verbotene ihres sehnsüchtigen Tuns in Kraft! Sie muss fragen, damit die Vereinigung nicht vollzogen werde. So entschwindet Lohengrin von der Taube, dem Anti-Schwan über das Wasser gezogen, die Transformation des erotisch versperrten Bruders in die scheinbar erreichbare Phantasie-Gestalt ist zusammengebrochen. Das Tabu war stärker als der Versuch seiner Umgehung, aber die bange unvermeidliche Frage hat die Verzauberung durchbrochen. Lohengrin entschwindet mit gesenktem Haupte traurig auf sein Schild gelehnt, Gottfried tritt an seine Stelle. Die Enttäuschung über die Wiederherstellung der erfindungsreich umgangenen Tabu-Realität wirft die Liebende zu Boden. Im Traum erlebt sie das Ende des Traums als ihr eigenes Ende.
Unter den verstellten Inzest-Geschichten Wagners – es gibt noch andere – ist Lohengrin die Erkenntlichste. Die Verstellung selbst ist Gang und Wesen der Handlung, dabei wird die Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit auf eine Spitze getrieben, die fasslichste Klanggestalt schon in den ersten Takten des Vorspiels gewinnt. Die flirrende Exaltation der extrem hohen Streicherlagen gibt es zu verstehen: Höher geht’s nimmer, es muss woanders hin gehen. Indem die niederschmetternde Auflösung des sehnsüchtigen Wunsches den Traum nicht sprengt, sondern ihm einbegriffen erscheint und noch der Zusammenbruch der inzestuösen Fiktion den Traum-Charakter des Ganzen fortsetzt, wird die Notwendigkeit der wirklichen Auflösung zwingend: Das Auftauchen aus dem Traum! Die Geschichte beschert es dem Komponisten, während er die letzten Seiten der Partitur ins Reine schreibt, das Erwachen zeigt sich: Es ist die Revolution!
Das ist so wenig ein Zufall, wie das Tabu und seine blockierende Macht eine bloß private Instanz ist. Es ist geronnene gesellschaftliche Erfahrung! Über seine besondere Bedeutung hinaus, die in älteste Schichten reicht, steht es insgesamt für ein festgefahrenes Brauchtum, das in den Angeln althergebrachter Machtverhältnisse hängt. Die Zuspitzung des Tabu-Konflikts in der Traumoper deutete auf den anwachsenden Widerspruch zwischen Freiheit und Gesetz, Anspruch und Wirklichkeit in der wirklichen Welt. Der privateste Wunschtraum wird dem bildmächtigen Künstler zu Organ und Sinnbild eines Gesellschaftlich-Allgemeinen.
Gleichwohl ist die Koinzidenz verblüffend! Fast sieht es nach einem wohlberechneten Theaterstück aus, in dem der Bote die entscheidende Nachricht in genau dem richtigen Moment bringt, keine Szene zu früh und keine zu spät, dass fünf Tage, nachdem der Komponist die Reinschrift der Partitur vollendet hat, am 3. Mai 1849 in Dresden jene Schüsse fallen, die zu der entscheidenden Konfrontation der politischen Kräfte führen: Die Revolution hat Sachsen erreicht. Lohengrin, diese äußerste Zuspitzung der romantischen Phantasmagorie bis hin zu dem Punkt ihrer Selbstenthüllung, dem Erscheinen der Wirklichkeit, ist pünktlich fertig geworden und zugleich: Die Revolution pünktlich angekommen! Der Autor, der in einem ebenso dichten wie geheimen Bund mit dem steht, was Zeit und Gesellschaft heißt und die kollektiven Fluida meint und die um ihm sind, kann sich mit voller Kraft in die wirklichen, die politischen Kämpfe werfen. Ein Bildner, der seine Welt – die innere wie die äußere Welt und den Zusammenhang beider – bisher nur verschieden interpretiert hat, kann, darf und muss versuchen: Sie zu verändern!
Es ist eine Welt, in der lang aufgestaute Widersprüche in einer Weise aufbrechen, dass der königliche Kapellmeister, obschon anonym, einige Monate später nichts Geringeres als das letzte Gefecht ins Auge fasst. Es geht um den wahren, den freien Menschen und also gegen die bestehende Gesellschaft: „Der Kampf des Menschen gegen die bestehende Gesellschaft hat begonnen. Jene Kämpfe, der Überrest einer vergangenen Zeit, wie wir sie in Österreich, in Preußen und zum Teil auch im übrigen Deutschland sehen. Sie können uns nicht täuschen, sie dienen ja nur dazu, das Schlachtfeld zu räumen für jenen letzten erhabensten Kampf“. Der geht ums Ganze! „Er ist der heiligste, der erhabenste, der je gekämpft wurde, denn er ist der Kampf des Bewusstseins gegen den Zufall, des Geistes gegen die Geistlosigkeit, der Sittlichkeit gegen das Böse, der Kraft gegen die Schwäche: Es ist der Kampf um unsere Bestimmung, unser Recht, unser Glück!“ Werden ihn die Volksmassen mitkämpfen? Das ist keine Frage: „In göttlicher Verzückung springen sie auf von der Erde, nicht die Armen, die Hungernden, die vom Elende Gebeugten sind sie mehr, stolz erhebt sich ihre Gestalt, Begeisterung strahlt von ihrem veredelten Antlitz, ein leuchtender Glanz entströmt ihrem Auge und mit dem himmelerschütternden Rufe: „ich bin ein Mensch!“ stürzen sich die Millionen, die lebendige Revolution, der Mensch gewordene Gott, hinab in die Täler und Ebenen und verkünden der ganzen Welt das neue Evangelium des Glücks!“
So äußert Wagner, unter dem Druck aufziehender Niederlagen sein Wort aufs äußerste spannend und zugleich bei Ernst Ferdinand Oehme (1797-1855) einen Satz Handgranaten bestellend, im Februar und April 1849 in den Dresdnern Volksblättern seines Freundes Carl August Röckel (1814-1876). Wenige Wochen später zertreten die Armeen der Konterrevolution alle großen Träume von Freiheit und Demokratie. In mörderischem Häuserkampf erobern die Soldaten des Königs von Preußen dem sächsischen Monarchen die alte Herrschaft zurück. Röckel wird gefangengenommen und zum Tode verurteilt. Nur durch einen Zufall entgeht Wagner einem Hinterhalt Chemnitzer Großbürger, in den alle seine Mitstreiter fallen. Mit Franz Liszts (1811-1886) Hilfe erreicht er die Schweiz! Der Kampf um den wahren Menschen scheint verloren, während die Männer des Fortschritts sich in Reden verzettelten, haben die Kräfte der Reaktion durchgeladen. Für den flüchtigen Hofkapellmeister gibt es kein Zurück und nicht nur deshalb, weil ein immer wieder erneuerter Steckbrief ihm auf Jahre den Rückweg nach Deutschland verlegt. Wenn der Durchbruch auch nicht im Politisch-Gesellschaftlichen gelang – aber sein eigener künstlerischer Durchbruch ist nicht mehr zurückzunehmen. In heftigen Krisen bricht sich die Entscheidung Bahn, ihn ohne Rücksicht auf die allgemeinen Verhältnisse voranzutreiben, wenn nicht auf dem Theater, so auf dem Papier der Texte und der Partituren. Dieser Durchbruch zu einer neuen Kunstwelt, die sich in der Umwälzung aufgetan und alsbald wieder verschlossen hatte, gilt nicht nur einem neuen Begriff des musikalischen Theaters. Der die Selbstbezogenheit der alten, sich selbst genügenden Formen hinter sich lässt und in dem Verhältnis von Wort und Ton die Revolution des Naturalismus vollzieht. Er ist auch ein Durchbruch der Motive, das Durchstoßen der romantischen Verkleidungen, die die alte scheinbar noch einmal siegreiche Zeit den untergründigen Wünschen, den verborgenen Trieb-Charakteren auferlegte: Dass sie in der phantastischen Hülle fabelhaft blühten! Hatte Lohengrin die Spannung zwischen Wollen und Können, zwischen Trieb und Tabu in jenes Äußerste getrieben, das zuletzt zur Auflösung der Transformationen vordrang, so wird die Scheidewand nun niedergelegt. Im 1. Aufzug Die Walküre kommt das Motiv der Geschwisterliebe mit dramatischer Urgewalt zu sich selbst! Es lässt die Verhüllungen fallen und öffnet so die Schleusen einer szenisch-musikalischen Inspiration, die alles hinter sich lässt, was die Oper in Jahrhunderten an Formeln und Konventionen aufgehäuft hat.
Doch ist der Weg dorthin, bei aller Deutlichkeit des Entschlusses, sich an ein unsichtbares und nicht das bestehende Theater zu halten, keineswegs geradlinig. Die Macht der vielen Mauern, die eine empfindliche Wunsch- und Seelenwirklichkeit umstellen, zeigt sich daran, dass er denkbar langgezogen ausfällt. In den Stufen, deren es bedarf, diesen Stoff, den allerpersönlichsten bei der Wurzel nicht nur zu fassen, sondern zur Erscheinung zu bringen: Wird die Mühsal der Durchbrechung deutlich! Die Inzest-Tragödie des Zwillingspaars, Siegmunds und Sieglindes, liegt am Ende, nicht am Anfang der Werk-Konzeption. Erst muss von Siegrieds Tod die Jugendgeschichte des Helden, dieser merkwürdigste aller Erziehungs-Romane, sich abgelöst haben, ehe die Frage nach der Geburt des Helden einsetzen kann. Sie öffnet ein Feld, auf dem das Verbotenste sich mythisch legitimiert, die den Menschen verwehrte, nur Göttern und Pharaonen erlaubte Geschwisterliebe – der Tabubruch, mit dem der Mensch sich göttlicher Rechte vermisst. Er erzeugt den Lichtbringer und Drachentöter, dem es bestimmt ist, die Vaterwelt des Gesetzes schlechthin und im Ganzen zum Einsturz zu bringen. Dass er, ein ratloser Sieger, nichts Neues an der Stelle zu setzen weiß , macht seine Melancholie und seine Niederlage aus. Die Frage, wie es zu ihm, der literarisch vorgegebenen, sagenhaft zuhandenen Gestalt kam, öffnet dem Autor das alte, zwiefach wirkende Tabu, ein Verbot, das die Sache selbst ebenso unterbindet wie deren In-Sicht-Kommen: Ihre Darstellung. Denn das Tabu ist auch sich selbst gegenüber in Kraft! Um wirksam zu bleiben, darf es nicht gegenständlich erscheinen.
So ist die Entdeckung des Stoffes als eines wirklich beschreibbaren selbst ein Akt der Sublimation, sie bedarf hochgreifender, tiefgestaffelter Rechtfertigungen. Indem der Textdichter sich scheinbar nach hinten tastet, von dem Ende der Geschichte zu ihrem Anfang, ihren Ursprüngen, dringt er zu dem vor, was er immer im Visier hatte und niemals vermochte: Der Wunscherfüllung im Werk als der Imagination jenes Verbotenen, das als das zutiefst Erfüllende erscheint, die Liebesvereinigung derer, die ursprünglich zueinander gehören, des Geschwisterpaars. Der freie Mensch ist der, welcher durch die Gebote und Gebräuche, die Setzungen und Interessen der Gesellschaft zu der Wahrheit erfüllter Gefühle durchdringt. Das äußerste und dichteste der Gebote aber betrifft eben diese Liebe. Siegmund, der Revolutionär der freien Liebe, der – seine Erzählung berichtet es – ganze Familien ausrottet, um die Gefühls-Autonomie objekthaft bedrängter Frauen zu schützen, ist stark genug um das Tabu frei, das heißt ohne Schuldgefühl zu durchbrechen. Er ist stark und er ist elend genug dazu: Dass er Sieglinde als ein Verfolgter und Gejagter, im Zustand tödlicher Erschöpfung findet, ist die Voraussetzung dieser Freiheit. Sie ist nicht Vorsatz, sondern Elementar-Ereignis.
An dessen Wirklichwerden hat die Schwester gleichberechtigt, gleichinitiativ teil. Die neue Stufe, die der Autor dem Motiv gewonnen hat, zeigt sich daran, dass Mann und Frau in dem Drang nach Freiheit einander ebenbürtig geworden sind, zwillingshaft. Von beiden ist die Macht der Schranke abgefallen! Nicht mehr in ihrer Empfindung ist der Vorgang sündhaft, er ist es nur noch in dem von Fricka repräsentierten gesellschaftlichen Bewusstsein! In sich selbst haben Siegmund und Sieglinde das Tabu überwunden. Erst im 2. Akt trifft Sieglinde eine Anwandlung von Schuld, sie gilt ihrer Verbindung mit Hunding, die ihr als nachwirkender Verrat an Siegmund, dem spät Gekommenen, vor Augen steht: Es ist auch eine große Stelle des Textes!
In diesen beiden Gestalten, die seine ureigene Erfindung sind, schreibt Wagner der Erfüllung, die die verbotene Sehnsucht sich hier gewährt, verschwindet die Gestalt der Schwester, die die der eigenen Schwester, Rosalies (1803-1837), der Ältesten des Dresdner, dann Leipziger Frauenhaushalts ist und zehn Jahre älter als der ihr glühend ergebene Bruder: Aus seinem Werk! Zu seiner Wahrheit freigesetzt, ist das Motiv abgegolten! Hat die Revolution stattfinden müssen, damit der Bruder auf der Bühne einmal die Schwester umfangen darf? Die Ebenen erhellen sich wechselseitig und die Hüllen, die Verkleidungen, die in der Welt persönlichster Gefühle abfallen, fallen auch von andern, weiterreichenden Triebkräften. Auch die Macht des Geldes, des Profits steht in der neuen Gesellschaft nackt und bloß da, bar aller romantischen Verblümung! In den Angeln dieser nachrevolutionären Enthüllung hängt das Konzept des ganzen vierfachen Nibelungen-Werks.
Dass die Enttabuisierung, die sich an den Geschwistern und durch sie vollzieht, für mehr als sie selbst steht, führt die Szene selbst alsbald in Worten und Handlungen aus. Die Freiheit, mit der beide das Verbot nicht bloß verletzen, sondern auch für sich aufheben, rüttelt an den Säulen der Wotans-Welt: Mit vielen Gründen fordert Fricka das Leben von Siegmund! Gottvater Wotan, der mit dem Liebes-Paar, seinen Kindern, nicht nur sympathisiert, sondern auch als ein planungsstarker Weltpolitiker die ganze Geschichte inszeniert hat, beugt sich hier der Gattin, als er begreift, dass die Tabuverletzung, die ihn vor Alberichs wachsender Macht schützen sollte: Seine Herrschaft von Grund auf erschüttert! So wird er zum Sohnesmörder, Siegmund den Weg verlegend, den er ihm zuvor gebahnt hat – ein Schwankender, der dem Willen der Gattin etwas zu schnell nachgibt. Ist es nicht nur die Sorge ums Weltgesetz, was ihn bewegt? Der Patriarch ist auch eifersüchtig auf die verzweifelt-glücklichen Jungen!
Brünnhilde durchschaut alle Gründe, alle Vorwände seines Verrats! An Siegmunds Seite tretend, setzt sie sich an des Gottes Stelle – es ist seine Entthronung, die Wotan an ihr bestraft. Zugleich stellen beide in unausgesprochener Absprache die weichen für die nächste Katastrophe, die im Dienst desselben haltlosen Heilsplans, in den noch tieferen Tabubruch führt, der ein verborgener und verstellter bleibt: Den Mutter-Sohn-Inzest, der sich hinter der Brünnhilde-Siegfried-Beziehung verbirgt! Brünnhilde ist die Halbschwester von Siegfrieds Eltern, so kommt die Mutter-Anrufung des Brünnenlösers nicht von ungefähr. Das Unheil, das über beider Liebesbeziehung waltet, entspricht genau dem Verbot, das unaufgelöst auf deren Grunde liegt. Da es verdeckt erscheint, wie das Wesen der Beziehung, treten die magischen Apparaturen wieder in Kraft: Nur mit Tarnkappen und Zaubertränken kommt die Szene vom Fleck! Die Walküre ist von solchen Mitteln frei, hier in dem ersten Teil der drei Hauptstücke, sind die Tarnkappen der Sublimation entfallen. Der tabuisierte Wunsch tritt unverstellt auf den Plan! Aus den Kräften, die seine imaginierte Erfüllung in dem Schöpfer-Ich freisetzt, nährt sich der Impuls einer Musik, die mit machtvollem Anprall eine Welt von Zwängen niederlegt, ihren élan vital auf jenen Punkt spannend, an dem die wahre Lust als die Lust des Wahren aufgeht: „Die bräutliche Schwester / befreite der Bruder; / zertrümmert liegt / was sie getrennt…“
Der Vorhang fällt schnell, rät der Text am Ende des frühlingstrunkenen Zwiegesangs! Noch oft fällt der Vorhang, ehe ein anders webender Schluss die Motive im Verklingen zusammenführt. Der Betrachter hat dann gesehen, was das Werk, um es vorführen zu können, nicht wissen darf: Dass das Ganze ein Unding war – die Vorstellung, durch den gleich einem Heilsplan göttlich in Szene gesetzten Tabubruch zum Endsieg der guten und bösen Mächte zu kommen. Vergebens lässt Wotan auf Erden zu Kriegen hetzen, um die toten Helden für die Schlachtreihen des letzten Gefechts zu rekrutieren. Der apokalyptische Endkampf selbst ist die revolutionäre Fiktion, die sehnsüchtig-wirrselige Irreführung. Der Dichter-Komponist, der ihr anhängt, führt sie in dem Werk, das ihr nachgibt und nachgeht, ad absurdum: Aus der Asche des Scheiterns heben die Rheintöchter den Ring. Die widerstreitenden Parteien in Ober- und Unterwelt haben sich planend aufgerieben, die an ihren Fäden laufenden Menschen-Akteure sind ins Verderben getaumelt. Die Freisetzung der von den großen Verboten gefesselten Kräfte hat sich nach allen Seiten todbringend erwiesen. Dass das Verbotene das Eigentliche und das Eigentliche das Verbotene sei – die Botschaft hat nur zum Untergang getaugt, der sich feurig gestaltet, wie andere vor ihm. Ob es die Natur ist, die siegend daraus hervorgeht, ist so zweifelhaft, das die Szene selbst es immer nur behaupten kann. Die wiederhergestellte Natur ist am Ende doch nur – eine neue Gesellschaft.....
DIE WALKÜRE - konzertant, Théâtre des Champs-Élysées / Paris 4. Mai 2024
Ein höllischer Walkürenritt…
Manche Dinge, die wir sehen und hören, können manchmal unsere Erwartungen übertreffen! Im Jahr 2022 dirigierte der kanadische Ehren-Dirigent Yannick Nézet-Seguin das Rotterdams Philharmonisch Orkest auch in einer konzertanten Aufführung in Das Rheingold (1869). Wir haben das nicht gesehen – obwohl es immer noch auf Medicis.tv verfügbar ist – aber uns fiel auf, dass die Besetzung damals viel „starrer“ wirkte als jetzt in Die Walküre, der zweite Tag von Der Ring des Nibelungen. Hier bei der letzten von vier Aufführungen einer kurzen RPO-Tournee von Rotterdam mit einem Besuch in Baden-Baden, Dortmund und schließlich im Théâtre des Champs-Élysées in Paris. Obwohl bei dieser Besetzung viele Sänger ihr Rollendebüts im Wagner-Fach gaben: Der junge französische Tenor Stanislas de Barbeyrac als Siegmund, die südafrikanische Sopranistin Elza van den Heever als Sieglinde und wie wir glauben, auch die amerikanische Sopranistin Tamara Wilson als Brünnhilde. Auch andere Mitwirkende haben ihre Rolle noch nicht viel gesungen und somit wenig Wagner-Kontakt: Der amerikanische Bass-Bariton Brian Mulligan als Wotan, der amerikanische Bass Soloman Howard in der Rolle des Hunding und sogar die ansonsten sehr erfahrene amerikanische Mezzo-Sopranistin Karen Cargill als Fricka. Wir vermuten sogar, dass dies eine sogenannte Premiere war!
In Die Walküre betreten die Menschen Wagners große Tetralogie, nachdem das gottzentrierte Das Rheingold und Wotans beste Pläne sich aufzulösen beginnen. Während ein Sturm tobt, beherbergt Sieglinde, Opfer einer lieblosen Ehe mit Hunding, einen verwundeten Fremden. Bald erkennen sie ihre gegenseitige Anziehung! Es handelt sich um Siegmund, den Zwilling, von dem Sieglinde in ihrer Kindheit getrennt wurde, und ihr Vater ist – ohne dass sie es wussten – Wotan, der Gottvater. Durch Siegmund hofft er, den allmächtigen Ring zurückzugewinnen, den er in Das Rheingold verschenkt hatte, da er ihn selbst nicht zurückfordern kann. Bruder und Schwester entkommen Hunding und nehmen Nothung, das neidliche Schwert mit, ein Schwert, das Wotan für Siegmund vorherbestimmt hatte. Unglücklicher Weise ist Wotans Frau Fricka die Göttin der Ehe und sie verlangt wütend, dass er seine inzestuösen Kinder nicht beschützen dürfe, nur um seinen Zielen zu dienen und Wotan gibt verärgert nach. Doch Brünnhilde, die eine von Wotans neun Walküren-Töchtern, ist entschlossen, Siegmund zu retten, weil sie glaubt, das im Grunde ihr Vater dies wirklich nicht will. Wotan verhindert dies, indem er Siegmunds Schwert zerschmettert und er somit im Kampf gegen Hunding fällt. Brünnhilde rettet Sieglinde, die mit Siegmunds Sohn Siegfried schwanger ist. Er kann der Held sein, den Wotan braucht um seine Pläne in die Tat umzusetzen. Als Strafe dafür, dass sie sich ihm widersetzt hat, verurteilt Wotan seine Lieblings-Tochter Brünnhilde dazu, auf einem Berggipfel zu schlafen, der von einem magischen Feuer geschützt wird. Das alle außer den Mutigsten abschreckt, von denen wir hoffen, dass es Siegfried sein wird!
In Die Walküre passiert also sehr viel und sie eignet sich sicherlich – wie die meisten Wagner-Opern – nicht für eine konzertante Aufführung, insbesondere wenn man keine Video-Projektionen oder auch andere Requisiten vorgesehen hat, aber die Bühne jedoch von zu vielen leider notwendigen Notenständern und Partituren übersäht ist! Das es aber trotzdem sehr gut funktionierte, lag wohl an den überaus talentierten Sängern und dem ungemeinen inspirierten Musik-Direktor der Metropolitan Opera New York.
Der immer lächelnde Nézet-Séguin versammelte eine Schar von erstklassischen Interpreten um sich, sowie auch seine eigene phantastische Leistung. Er hatte die Musiker des Rotterdams Philharmonisch Orkest fest im Griff und bezauberte mit seiner kammer-musikalischen lyrischen Interpretation. Sein Wagner war nie bombastisch noch bodenständig, nie mit dem Ziel „heim ins Reich“! Die Dynamik-Wechsel schienen gewissenhaft beobachtet, es gab intime Momente von großer Zartheit, doch der Dirigent hielt sich nie zurück, wenn die Partitur es verlangte. Diese Walküre war – ja man kann sagen wie über Lautsprecher im positiven Sinne zu hören – hochdramatisch und hatte viele Momente von großer ergreifender Schönheit. Das Rotterdams Philharmonisch Orkest spielte überall mit beträchtlicher Strahlkraft und Virtuosität, was zu vielen bemerkenswerten Einzel-Momenten führte, insbesondere mit Cello, Trompete, Bassklarinette und Englischhorn.
Wir haben bereits darüber geschrieben, wie der damals nicht mehr ganz junge Franz Konwitschny (1901-1962) 1957 an der Deutschen Staatsoper Berlin Die Walküre dirigierte und das es eine einmalige Offenbarung für uns war. Er war für seine Weitläufigkeit bekannt und vielleicht auch seine Langsamkeit! (?), aber hier in Paris war es zutiefst aufregend, emotional packend… und überraschend schnell. Nézet-Séguins Die Walküre klang ein wenig diese denkwürdige Aufführung, obwohl sie nach einem sorgfältig getakteten ersten Akt am Ende – ziemlich üblich – drei ¾ Stunden dauerte. Was immer auch sei, in unserem langen Leben als Musik-Liebhaber, gab es nicht viele wirkliche herausragende Wagner-Dirigenten. Für uns zählen ausser dem schon genannten vielleicht nur noch Daniel Barenboim (*1942), die anderen lieferten mehr oder weniger eine korrekte Arbeit ab: Aber von Sternstunden und Gänsehaut-Effekten weit entfernt!
Es gab keine offensichtliche Abstimmung bei der Kleidung der Sänger, es gab einige dunkle Anzüge und blaue Roben, aber Howard vergaß (?) das Hemd für seinen rehbraunen Dreiteiler und das beste von allem war Wilson in ihrem glitzernden Kleid der Inbegriff von Brünnhilde, silbergraue Haute Couture. Einige verhielten sich weniger sicher als andere, je nachdem wie vertraut sie mit dem waren: Was sie sangen! Wir haben nie eine Szene oder ein Konzept verpasst, weil die hoch-theatralische Wirkung der Oper nie beeinträchtigt wurde, auch wenn die Sänger oft von entgegengesetzten Enden der Bühne füreinander sangen. Als Mulligans Wotan Wilsons Brünnhilde zärtlich auf die Stirn küsste, als er sich traurig von ihr verabschiedete, war das so herzzerreißend wie nie zuvor. Ein großes Lob an Wilson, dass sie auch dann auf der Bühne blieb, wenn sie mit dem Singen fertig war. Was bei einem Konzert-Auftritt nicht immer der Fall ist!
Barbeyrac war ein sehr beeindruckender Siegmund und seine Szenen: „Ein Schwert verhieß mir der Vater“ und „Winterstürme wichen dem Wonnemond“ zeigten, wie es möglich ist, die großen Wagner-Partien lyrisch zart und sanft nuanciert zu singen. Sein wunderschönes bariton-artiges Timbre ist eindeutig „deutsch“ und nicht „französisch“ und auch die „Wälse! Wälse!“ Die Ausrufe waren von ganzem Herzen und ein Triumph seiner hervorragenden Atemkontrolle. Wir sind uns sehr sicher, dass hier ein neuer Typ von Wagner-Sänger geboren ist: Kein brüllender Säle erschütternder Siegmund, sondern ein ganz naiver sentimentaler „menschlicher“ Jüngling: Nur Siegmund!
Heevers‘ Sieglinde war so theatralisch intensiv, wie es eine Konzert-Aufführung zulässt und stimmlich durchweg brillant. Ein Höhepunkt ihres Gesangs – unter vielen – war das überaus hinreißende „O hehrstes Wunder!“. Howard als Hunding war vielleicht die einzige stimmliche Enttäuschung für uns, obwohl er bedrohlich wirkte, mangelte es seinen höhlenartigen Tönen an Konzentration und die Verwendung der deutschen Sprache war eher undeutlich.
Mulligan erwies sich als vollendeter Geschichtenerzähler, als Wotan und das besonders im zweiten Akt, wenn er die Geschichte des Rings erzählte. Sein Bericht war weniger Welt-müde als man manchmal hört und trotz all der bekannten Wut und Tapferkeit, mit der Wotan über sein ganzes Unglück schimpft, klang er hier frischer – als wir ihn manchmal zuvor gehört hatten. Dieser Wotan schnitt in seiner Begegnung mit der herrischen, rachsüchtigen Fricka eindeutig als Zweiter ab. Cargill beschimpfte ihren verirrten Ehemann furchterregend bis zum letzten nachdrücklichen Konsonanten. Unglücklicherweise hatte man den Eindruck, dass Mulligan während seiner Schlusszeilen bei der magischen Feuer-Musik gesanglich „leer“ war! Aber er ist nicht der erste, der das Problem hatte und das sollte der Qualität seiner Interpretation keinen Abbruch tun.
Noch beeindruckender war Wilson als Brünnhilde: Sie hatte eine satte Stimme mit einer angeborenen Schönheit, das auch in der gesamten Bandbreite und sie ist eine weitere Interpretin neben Barbeyrac mit einer beeindruckender Atembeherrschung. Ihre „Hojotohos“ hätten möglicherweise erreicht werden können, wurde aber selten übertroffen! Dramatisch gesehen war sie eine sehr glaubwürdige, willensstarke Teenagerin auf der Bühne und Wilsons Auftritt war äußerst subtil charakterisiert und wandelte sich am Ende von einer hingebungsvollen Tochter zu einer trotzigen – wenn auch gebrochenen und auch wirklich weinerlichen Figur.
Wir erinnern uns an viele wundervolle Walküren-Oktette in der Vergangenheit, aber nur wenige genossen ihr gesamtes „Hojotoho“ so sehr wie die Sänger hier. Ohne eine schwächere Stimme unter den acht Kriegerinnen harmonierte ihr Gesang bei einem mitreißenden teuflischen Walküren-Ritt nahezu perfekt: Jessica Faselt als Helmwige, Brittany Olivia Logan als Gerhilde, Justyna Bluj als Ortlinde, Iris van Wijnen als Waltraude, Maria Barakova als Siegrune, Ronnita Miller als Grimgerde, Anna Kissjudit als Schwertleide und Catriona Morison als Rossweisse. Der ganze Abend hatte so viele denkwürdige Momente zu bieten und die Zuschauer, die am Ende jedes Akts applaudierten, sowie natürlich auch für alle Beteiligten am Ende der über fünf Stunden dauernden Vorstellung, die sie im Théâtre des Champs-Éysées Paris verbracht hatten: Zeigten wie viel sie das genossen hatten! Wir haben natürlich alles genossen! (PMP/09.05.2024)