Paris, THÉÂTRE DES CHAMPS-ELYSÉES, WERTHER - Jules Massenet, IOCO
PARIS: Als Jules Massenet (1842-1912) in seiner Autobiographie mit dem Titel Mes Souvenirs (1912), die Entstehung seiner Oper Werther erläuterte, entschied er sich dafür, die Wahrheit zu beschönigen, anstatt die prosaische Realität zu beschreiben. Zwischen den ersten Skizzen von Werther (1880)

22.3.2025 - THÉÂTRE DES CHAMPS-ELYSÉES - Jules Massenet: WERTHER (1892), Oper in vier Akten mit einem Libretto von Edouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann inspiriert nach Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe
von Peter Michael Peters
DIE LEIDEN IN DER ALTEN STADT WETZLAR…
Traduire! Ah! bien souvent mon rêve s’envola
Sur l’aile de ces vers, et c’est toi, cher poète,
Qui bien plutôt était mon interprète !
Toute mon âme est là !
„Pourquoi me réveiller, ô souffle du printemps ?
Sur mon front je sens tes caresses,
Et pourtant bien proche est le temps
Des orages et des tristesses !
Pourquoi me réveiller, ô souffle du printemps ?
Demain dans le vallon viendra le voyageur
Se souvenant de ma gloire première…
Et ses yeux vainement chercheront ma splendeur,
Ils ne trouveront plus que deuil et que misère !
Hélas !
Pourquoi me réveiller, ô souffle du printemps !“ (Arie des Werther / 3. Akt)
youtube - THÉÂTRE DES CHAMPS-ELYSÉES
Ein Nachmittag in Wetzlar…
Als Jules Massenet (1842-1912) in seiner Autobiographie mit dem Titel Mes Souvenirs (1912), die Entstehung seiner Oper Werther erläuterte, entschied er sich dafür, die Wahrheit zu beschönigen, anstatt die prosaische Realität zu beschreiben. Zwischen den ersten Skizzen von Werther (1880) und ihrer Welt-Uraufführung vergingen mindestens zwölf Jahre und die Komposition dieser Oper, die ständig von anderen Projekten unterbrochen wurde, war alles andere als einfach. Nach einem ersten gescheiterten Versuch, das Werk 1866 an der Opéra-Comique zu präsentieren, bevor Werther – nach dem großen Erfolg von Manon (1884) an der Wiener Staatsoper und auf Drängen des belgischen Tenor Ernest Van Dyck (1861-1923) – aus der Schublade genommen wurde, um auf Deutsch aufgeführt zu werden. Und dann stand das Werk erst im Jahr 1892 in seiner französischen Originalfassung an der Opéra-Comique im Rampenlicht.
In seiner Autobiografie deutet jedoch alles darauf hin, dass Massenet von einer fast göttlichen Inspiration erfüllt war, als er seinen Werther konzipierte. Es war wahrscheinlich bei einem Besuch in Wetzlar, einer kleinen Stadt unweit von Frankfurt am Main, wo Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) seinen Briefroman im Jahr 1774 geschrieben hatte. Der den Ursprung dieses Projekt bildete! In der Taverne las ihm sein Reisebegleiter, der Musikverleger Georges Hartmann (1843-1900) den Briefroman von Goethe vor. Der Hintergrundlärm der klirrenden Bierkrüge und das Geschrei der Studenten schienen nicht in der Lage zu sein, die „verschlingende Leidenschaft“ zu unterdrücken, die aus Werthers Briefen hervorging und die künstlerische Seele von Massenet in Flammen setzte. Er war völlig fasziniert und beschrieb später seine Eindrücke: „Das Leben, das Glück geschah nicht. Es war die Arbeit, die zu der fieberhaften Aktivität geführt hat, die Arbeit, die ich brauchte und die ich möglichst in Einklang mit diesen berührenden und lebendigen Leidenschaften bringen musste!“
Wie bei den anderen Romantikern des 19. Jahrhunderts, das Herz und der Geist von Massenet war sehr empfänglich für die geheimnisvolle Aura, die über dem Ort schwebte, an dem das Originalwerk geschrieben wurde. Dort konnte der Geist von Goethes Werther mit seinem Werther verschmelzen. Dank dieser Nähe würde sich der Anstoß, der den brillanten Goethe dazu bewogen hatte, seinen Roman Werther zu schreiben, auf die künstlerische Seele von Massenet übertragen und ihn zu seiner Vertonung von Werther inspirieren. Massenet glaubte an dieses Phänomen: War Manons Erfolg nicht insbesondere darauf zurückzuführen, dass er die berühmten Szenen zwischen Manon und Des Grieux in einem Haus in Den Haag geschrieben hatte, in dem Abbé Antoine François Prévost (1697-1763) selbst sein Werk konzipiert hatte? Nach den anfänglichen Impulsen in Wetzlar machte sich Massenet daher auf die Suche nach einem Arbeitsplatz, an dem man den Geist von Goethe und des ursprünglichen Werther erleben konnte. Es war ein Raum in der Nähe von Versailles mit Möbeln aus dem 18. Jahrhundert. Hier würde sein Werther ein würdiger Nachfolger des Originalwerks werden! Seltsamerweise spiegelt sich die Sensibilität und Aufmerksamkeit, die der Umgebung und Atmosphäre gewidmet wurde, in der der erste Werther geboren wurde, nicht in der lyrischen Adaptation wider. Die Entsprechungen zwischen dem Libretto und dem Briefroman sind oberflächlich und die Unterschiede sind auffälliger als die Ähnlichkeiten. Natürlich steht in beiden Fassungen die tödliche Liebe zwischen Werther und Charlotte im Mittelpunkt, aber die Art und Weise, wie diese Liebesgeschichte erzählt wird, der Schauplatz in dem sie angesiedelt ist und die Art und Weise, wie die Charaktere dargestellt werden, offenbaren deutlich die Veränderungen, die im Laufe eines Jahrhunderts in der Sicht auf die Welt stattgefunden haben. In ihrer Adaptation knüpfen die Librettisten Edouard Blau (1836-1906), Paul Milliet (1844-1918) und Hartmann nicht wieder an den Zeitgeist des ursprünglichen Werther an. Sie greifen vielmehr die Mentalität der bürgerlichen Romantik vom Ende des 19. Jahrhunderts auf. Zwar spielt ihre Geschichte in den 1780er Jahren – etwa hundert Jahre später als Goethes Geschichte - , aber die Farbgebung der Charaktere und der Themen ist eindeutig der Farbpalette des 19. Jahrhunderts entlehnt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es den Adaptern nicht darum ging, die Geschichte in ihrer lyrischen Version getreu wiederzugeben, sondern dass sie ihre persönliche Version mit vagen Anklängen an das berühmte Original präsentieren wollten. Es handelt sich also nicht um eine literarische Oper, sondern um eine Oper aus dem 19. Jahrhundert, die die Vorstellungskraft ihrer Zeit anspricht, aber von einem bekannten literarischen Werk inspiriert ist.
Trotz der oberflächlichen Übereinstimmungen und der vermeintlichen Identität zwischen Goethes Die Leiden des jungen Werther und Massenets Oper trennen sie doch Welten voller Unterschiede. Goethe schrieb sein Jugendwerk zu einer Zeit, als das Bürgertum mit brennendem Enthusiasmus auf der Suche nach einer Festigung seiner Ideale war. Sie lehnte den vorherrschenden Adel entschieden ab und versuchte, sich durch ein eigenes Leben zu emanzipieren. Sie glaubte an Familie und Tugend! Sie legte Wert auf eine liebevolle Ehe und überdenkte die Rollen von Männern und Frauen. Sie legte verstärkt Wert auf moralische und intellektuelle Schulung… Ein Jahrhundert später, zu Massenets Zeiten, ist von diesen Idealen nicht mehr viel übrig! Das Bürgertum hat zwar seinen Platz in der Gesellschaft erobert und der Adel stellt für sie keine wirkliche Herausforderung mehr dar, aber die früher hochgepriesenen bürgerlichen Ideale zeigen Anzeichen von Schwäche. Ihr Leben ist bedroht! Noch immer gilt die Familie als tragende Säule des gesellschaftlichen Lebens, doch die zunehmende Individualisierung führt zu Konflikten und gravierenden Rissen im sozialen Gefüge. Nach außen hin bleibt der Schein gewahrt, doch die innere Bedrohung ist unwiderruflich. Es reicht aus, die Werke von Massenets Zeitgenossen – Hendrik Ibsen (1828-1906), August Strindberg (1849-1912), Anton Pawlowitsch Tschechow (1860-1904) oder noch ihm näher stehenden, wie Gustave Flaubert (1821-1880) oder die Gebrüder Goncourt : Edmond de Goncourt (1822-1896) und Jules de Goncourt (1830-1870) – um den Kontrast zwischen den Idealen und der Realität der bürgerlichen Welt zu erfassen.

Dieser Prozess der Korrosion bürgerlicher Werte lässt sich an der Spannung ablesen, die zwischen Die Leiden des jungen Werther von Goethe und der lyrischen Version von Massenet besteht. In ihrer Adaptation, die darauf abzielte, das Publikum ihrer Zeit zufrieden zu stellen, erlaubten Massenet und seine Librettisten unfreiwillig einen Blick hinter die Kulissen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.
Liebe, immer Liebe…
In Die Leiden des jungen Werther von Goethe beginnt Werthers Liebe zu Lotte mit seinem heiß ersehnten Wunsch, ein Teil eines größeren Universums zu sein: Der Natur oder noch abstrakter ausgedrückt, des Absolutem. Seine Liebe zu Lotte ist eine konkrete intersubjektive Übersetzung dieses Strebens. Durch diese Liebe versucht er, eine Symbiose mit seiner Geliebten, einer Seelenverwandten, einzugehen. Sein Streben nach einem transzendenten Selbstverlust wird durch diese romantische Beziehung verwirklicht. Werther glaubt an eine Dialektik der Liebe, bei der das Selbst auf sich selbst verzichtet und sich in der Hoffnung auf spirituelle Bereicherung anderen hingibt. Leider gibt sich diese Dialektik für Werther nicht mit einer einseitigen Bewegung zufrieden. Ihre romantische Beziehung stößt auf Lottes eheliche Treue und der Weg zu einer Fusion höherer Ordnung endet. Werther bleibt nur noch die Flucht in den Tod!
Die Charakterisierung der Liebe als Wunsch nach Transzendenz fehlt in Massenets Werther. Zwar verehrt auch sein Werther die Natur und idealisiert Charlotte, indem er sie fast als göttliche Liebhaberin darstellt. Doch seine Leidenschaft bleibt im Bereich des Gefühls. Trotz eines Übermaßes an romantischen Phrasen ist die liebevolle Beziehung zwischen Werther und Charlotte in die Welt hier unten eingetaucht.
Aufgrund ihrer Erzähltechnik verleiht die lyrische Adaptation der Liebe von Werther zu Charlotte durch den Verzicht auf die Ich-Erzählung eine ganz andere Konnotation. In Goethes Roman entfaltet sich die Realität durch Werthers Worte und Briefe. Die Welt wird uns aus seiner Sicht präsentiert! Die anderen Charaktere und Ereignisse erscheinen uns unter seinem Prisma gesehen. Erst am Ende, nach seinem Tod, sehen wir die Welt: „Wie sie ist!“

In der Oper hingegen ist Werther von Anfang an Teil der Realität und der Zuschauer sieht aus seiner Sicht die Welt, in der Werther agiert. Werther ist nur ein weiterer Charakter! Seine Vision der Realität verliert ihre Einzigartigkeit, weil der Betrachter sie im Lichte dessen überprüfen kann, was die anderen Charaktere sagen oder tun. Der Zuschauer kann sogar überprüfen, ob seine Vorstellungen der Realität entsprechen oder ob sie von seinen Gefühlen diktiert werden. Dadurch verlieren seine Worte jeden Anspruch auf das Absolute. Die Liebe von Werther fokussiert nicht ständig die Aufmerksamkeit, es kommen andere Probleme und Beziehungen ins Spiel. Was bei diesem Perspektivenwechsel am meisten auffällt, ist die impulsive und obsessive Natur des Verhaltens von Werther gegenüber Charlotte. Letztendlich wird diese hartnäckige Fixierung zu seinem Tod führen, einem gewünschten Tod!
In dem Bogen, den die lyrische Fassung über die Geschichte spannt, wird diese vorbildlich umgesetzt. Als Werther am Ende des ersten Akts erkennt, dass Charlotte sich für ihre Pflicht und damit für Albert entschieden hat, löst dies bei ihm den verzweifelten Schrei aus: „Un autre!... son époux!...“ Inmitten des zweiten Akt, der drei Monate später spielt, taucht Werther plötzlich aus dem Nichts wieder auf und hört erneut, unterstützt von der gleichen Musik, den leidenschaftlichen Appell: „Un autre est son époux…“. Als hätte Werther diese Worte die ganze Zeit wie ein Mantra der tödlichen Liebe wiederholt!
Angesichts der inzwischen eingetretenen Ereignisse scheint diese emotionale Sturheit an Wahnsinn zu grenzen. Nicht nur erzähltechnisch, sondern auch inhaltlich wird Werthers Liebe relativiert. Die Liebe verliert ihren Anspruch auf das Absolute und wird von bürgerlichen Konventionen und sentimentalem Verlangen diktiert. Das Gleichnis von Sturm und Drang über die Endlichkeit des Menschen nimmt bei Massenet die Form einer kleinbürgerlichen Tragödie an. Eines der auffälligsten Elemente seiner Adaptation ist die größere Aufmerksamkeit, die er Figuren schenkt, die im Roman nur einen kleinen Platzt einnehmen. Bei genauer Betrachtung ist das Auftreten des Gerichtsvollziehers, der Kinder, des Johann und dem Schmidt, das auf den ersten Blick wie ein Zugeständnis an das folkloristische und anekdotische Genre erscheint, aber entscheidend für die bürgerliche Atmosphäre, in der sich die Handlung abspielt. Es ist überraschend, dass Massenet keinen Chor noch Massenszenen verwendet hat, um Wetzlars Lokalkolorit anzudeuten. Dies hätte sicherlich nicht im Widerspruch zu den lyrischen Konventionen der Zeit gestanden. Darüber hinaus passten der Ball im ersten Akt und die Feier der goldenen Hochzeit im Zweiten perfekt dazu. Aber damit hätte er die kleinbürgerliche Lebensweise, die in seinem Werk einen zentralen Platz einnimmt, in großem Maßstab dargestellt. Indem er die Anzahl der Charaktere begrenzt und den Chor eliminiert, lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Nebencharaktere. Sie verschmelzen also nicht zu einer Masse, sondern führen ihr eigenes Leben und verstärken so den Rahmen, in dem sich die Haupthandlung abspielt. Es ist nicht die äußere Seite des öffentlichen Lebens in Wetzlar, die in der Oper zum Vorschein kommt, sondern vielmehr die innere Sphäre, die Intimität des engen Kreises von Familie und Freunden.

Das macht Massenet auch durch seine Musik deutlich. Er verbindet jeden Bühnenauftritt von Johann und Schmidt mit einem Thema – dem Trinklied „Vivat Bacchus“ – das im ersten und zweiten Akt herrisch den Ton angibt. Dieses Thema ist seit ihrem Auftritt im ersten Akt ständig zu hören und verschwindet nur vorübergehend in den Szenen, in denen Werther anwesend ist. Sogar die Person des Albert hat eine Variation dieses Trinklieds als verbundene personelle Leit-Musik! Darüber hinaus kontrastieren diese zur Ausschweifung neigenden, festlichen Charaktere mit der erhöhten Sensibilität von Werther. Diesen Unterschied machen sie deutlich, wenn sie Werther vorstellen: Er ist ein schlechter Esser und daher auch ein schlechter Trinker, er ist mürrisch und melancholisch – kurzum, in ihren Augen ist er zu nichts in ihrer Welt zu gebrauchen. Zu Beginn des zweiten Akts erklingt das Thema des Trinkens erneut, verschwindet jedoch fast vollständig, als Johann und Schmidt endlich die Bühne verlassen. Johann und Schmidt sind fast untrennbar mit ihrem Trinkgesang verbunden, durch ihn werden sie wahrgenommen und außerhalb davon existieren sie nicht, weder in der Komposition noch in der Handlung. Sie verkörpern das Getränk durch ihre Taten, ihre Worte und ihre musikalischen Interventionen. Sind es komische Figuren? Vielleicht… aber vor allem sind sie erbärmlich! Durch ihre starke Präsenz verkörpern sie – und mit ihnen ungewollt ihre Schöpfer – eine noch weniger glamouröse Seite dieses ohnehin unattraktiven Bürgertums aus Wetzlar. Diese miefigen Kleinbürger, die durch die Starrheit ihrer Konventionen in Langeweile verfallen und in der erzwungenen Freude sogenannte Erleichterung sucht. Der Charakter des Gerichtsvollziehers, wie er dargestellt wird: Steht in derselben Zeile! Zu den Protagonisten hat er keine Beziehung, nur zu seinen düsteren Freunden Johann und Schmidt. Außerdem bieten ihm nur die kleinen Kinder die Möglichkeit, seine väterliche Autorität auszuüben und mitten im Sommer belästigt er sie hier, indem er ihnen Weihnachtslieder beibringt. Auch diese Episode mag unschuldig erscheinen und vielleicht war sie als Scherz gedacht, aber ihre Realität ist fast unerträglich. Mit der Figur des zärtlichen Vaters in der bürgerlichen Tragödie des 18. Jahrhunderts hat der Gerichtsvollzieher nicht mehr viel zu tun: Er ist zur Karikatur väterlicher Autorität geworden. Wenn der Gerichtsvollzieher sein Haus und seine Familie als ein „kleines Königsreich“ bezeichnet, ist das vor allem eine utopische Darstellung oder eine Beschwörung der guten alten Zeiten.
Diese Nebenfiguren sind insofern wichtig, als sie der Welt Gestalt verleihen, in der Charlotte lebt. In dieser Welt ist sie aufgewachsen, in dieser Welt hat sie ihre Mutter verloren, deren Platz sie einnehmen musste. In dieser Welt muss sie selbst Ehefrau und Mutter werden. Es wurde ihrem Ehemann Albert übertragen, der die Anforderungen in einer Stadt wie Wetzlar voll und ganz erfüllte. Im Bewusstsein ihrer Pflicht versprach sie am Bett ihrer sterbenden Mutter, die gute Ordnung der Dinge nicht durch ihren eigenen Wunsch zu stören. Diese bedrückende Situation prägt ihre romantische Beziehung zu Werther. Die Faszination, die sie für ihn empfindet, scheint eher von seiner seltsamen Weltanschauung bestimmt zu sein. Charlotte stellt sich vor, dass sie dank ihm ihrer starren Umgebung entkommen kann. Werther, der von einem unbestimmten Ort stammt, verkörpert für sie eine Welt voller Farben, Leidenschaften und Liebe, in der die Poesie – sei es die des Ossian (3. Jahrhundert) übersetzt zwischen 1760 und 1763 von James Macpherson (1736-1796), oder des Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803), der Natur oder des sentimentalen Herzens – ihren Platz hätte. Eine Welt mit der die Frau sich nicht unbedingt identifizieren müsste, sie sollte aber eher ihren mütterlichen Pflichten nachgehen und im Haus und der Ehe ihr Heil finden. Werther stachelt sie durch seine Anwesenheit und seinen Charakter zu einer inneren Revolte gegen die Welt um sie herum an. So wird die romantische Beziehung zwischen ihnen durch eine gehörige Portion Opportunismus aufrechterhalten.
Auch der Charakter von Sophie wird in diesem Sinne umgestaltet. In ihrer Eigenschaft als große Schwester wird ihr die gleiche Zukunft wie für Charlotte versprochen. Im Roman ist sie noch ein junges Mädchen von elf Jahren, in der Oper wird sie jedoch einige Jahre älter, was ihre realen Chancen erhöht in der Dreiecksbeziehung zwischen Werther, Charlotte und Albert, eine Rolle zu spielen. Auffallend ist jedoch, dass sie immer nur in kritischen Momenten in die Geschichte eingreift. Sowohl durch die Musik, die sie begleitet als auch durch ihre naiven, aber einfühlsamen Worte formt sie einen tröstlichen Charakter. Damit erhöht sie weitestgehend ihre eigenen Zukunftsaussichten. Ihre Worte verraten den gleichen Wunsch wie Charlotte.

Tod, immer Tod…
Diese kleinbürgerliche Tragödie um die Liebe endet mit dem Tod ihres Protagonisten. Um diesbezügliche Missverständnisse zu vermeiden, trägt der vierte Akt von Werther den Untertitel: „La mort de Werther“. Der Akt ist eine Ergänzung der Librettisten, die im Original nicht zu finden ist! Die Schilderung von Werthers Tod beschränkt sich auf eine nüchterne Beschreibung der Ereignisse am Morgen von Werthers Selbstmord – ein eklatanter Kontrast zu seiner sentimentalen, egozentrischen Weltanschauung. Die subtile Entwicklung, die zu Werthers Selbstmord führte, und die philosophische Diskussion über das Thema Selbstmord in Goethes Version sind aus Massenets Oper praktisch verschwunden. Was uns präsentiert wird, ist eher eine letzte Konfrontation zwischen Charlotte und Werther, nachdem sich letzterer selbst in den Kopf geschossen hat. Dies ist vielleicht eine der längsten Todesszenen in der Geschichte der Oper und mehr als ein Zuschauer wird über dieses Wunder der Medizin verblüfft sein, das es einem Tenor ermöglichte so lange mit einer Kugel im Kopf zu singen. Aber daran liegt wohl nicht das Problem.
Auffallend ist, dass der Tod in dieser Oper so ausdrücklich präsent ist. Es gab bereits zuvor die Geschichte der toten Mutter, die von „des hommes noirs“ mitgerissen wurde. Es ist ein Gemälde, das Charlotte und den anderen Kindern in der Erinnerung nachgeht! Und nun folgt ein weiterer Akt, sicherlich kurz, aber ganz dem Tod gewidmet. Der Titel dieser Akts bezieht sich in erster Linie auf den physischen Tod von Werther. Sein Tod bedeutet für Charlotte jedoch auch einen psychischen Tod. Die Hoffnung auf ein Leben, das der Unterdrückung bürgerlicher Konventionen entgeht, das um ihrer selbst willen und nicht zur Erfüllung einer abstrakten Pflicht gelebt wird, schwindet mit dem Tod von Werther mehr denn je. Charlotte wird sich tatsächlich bis zu ihrem Tod ihrer Pflicht opfern müssen. „Engel der Pflicht“ nannte Werther sie von ihrem ersten Treffen an! Und so wird sie auch bleiben: Ohne wirklichen Wunsch zu leben, ihrer Pflicht ergeben, engelhaft, mehr tot als lebendig: „Werther! Tout est fini!“, das sind ihre letzten Worte, die letzten der Oper.
In Werther von Massenet, einer Oper, die auf den ersten Blick sowohl thematisch als auch musikalisch von respektvollem Konformismus gegenüber bürgerlichen Werten geprägt ist, spürte man den Bankrott der Ideale dieser Welt. Dies war auch einer der Gründe, warum Léon Carvalho (1825-1897), Direktor der Opéra-Comique: Werther in erster Instanz ablehnte. In seinen Erinnerungen rekonstruiert Massenet den Dialog, der auf die Aufführung seines Werkes folgte. Carvalho ging schweigend auf ihn zu und sagte schließlich: „Ich hatte gehofft, dass sie mir noch eine Manon bringen würden! Dieses traurige Thema interessiert mich nicht. Es ist von vornherein zum Scheitern verurteilt…“. Massenet, „der Mann am Kamin“, „der bürgerliche Künstler“, wie er es selbst ausdrückte, ist möglicherweise unbewusst weiter gegangen, als er wollte. Er präsentierte der bürgerlichen Öffentlichkeit ein Porträt seiner Welt, deckte aber auch einige Grauzonen auf!
Was den Erfolg von Werther betrifft, hatte Carvalho nicht Recht, aber es besteht kein Zweifel daran, dass Werthers Leben und insbesondere das von Charlotte in der Welt von Massenet beschriebenen Oper von vornherein zum Scheitern verurteilt waren…

WERTHER - Premiere - Théâtre des Champs-Élysées - 22. März 2025
Die entblößte Seele: Gewalt und Leidenschaft…
Das Théâtre des Champs-Élysées Paris präsentiert eine Neuproduktion von Massenets Werther, dessen kraftvolle Visionen des deutschen Regisseurs Christof Loy und des jungen talentierten schweizerischen Dirigenten Marc Leroy-Calatayud auf die großartige Interpretation des französisch-schweizerischen Tenor Benjamin Bernheim treffen.
Im Jahre 2010 gab es einen Werther mit dem deutschen Tenor Jonas Kaufmann und der französischen Mezzo-Sopranistin Sophie Koch unter der musikalischen Leitung des großen unvergesslichen französischen Dirigenten Michel Plasson. Eine Produktion, die sich wohl ohne weiteres in die Geschichte der Oper für immer verewigt hat. Der neue Werther hat wohl alles: Eine Bühnenvision, die sowohl intelligent als auch ästhetisch ist, eine kraftvolle Regie und Darsteller mit passenden und theatralisch wirkungsvollen Stimmen. Und doch müssen wir leider sagen: Obwohl der „neue“ Werther von Bernheim, wie die gesamte Pariser Presse behauptet im Moment unschlagbar ist! Für uns ist nach wie vor der Werther von Kaufmann unschlagbar und unvergessen! Aber das ist wohl einfach nur eine Sache des Geschmacks und somit wollen wir hier nicht in billige Polemik verfallen!
Die Szenografie von dem deutschen Bühnenbildner Johannes Leiacker zeigt einen riesigen Raum in einem wohlhabenden Anwesen – abwechseln den des Gerichtsvollziehers im ersten Akt, den des Pfarrers im zweiten Akt und den des Alberts in den letzten beiden Akten. Eine Schiebetür öffnet und schließt sich und gibt im Hintergrund den Blick auf ein Esszimmer frei, das auf einen Garten blickt, in dem ein Baum den Wechsel der Jahreszeiten markiert. Loy kümmert sich auch um die kleinsten Charaktere, beseitigt die vielen Mehrdeutigkeiten, die manche Personen normalerweise doch schwer belasten würden und erschafft so neue klarere Deutungen. So ist Sophie ein junges Mädchen, das sehr in Werther verliebt ist, während Albert ein abscheulicher und manipulativer Mann ist. Die beiden Charaktere bleiben im letzten Akt anwesend und werden Zeugen der Qualen des Helden nach einem Zwischenspiel von großer dramatischer Kraft. Umgekehrt scheint Charlotte ihr „Ich liebe dich“ hier eher als Herausforderung an ihren Mann zu richten, den sie nicht wirklich liebt und der Werther bewusst in den Selbstmord getrieben hat, als wie normal an ihren Geliebten selbst.
An der Spitze des Orchestre Les Siècles und ihren historischen Instrumenten verkörpert Leroy-Calatayud diese Vision des Werks und liefert eine kraftvolle und eloquente Interpretation mit gesteigerter Romantik. Die Streicher bieten warme Soli, während die Blechbläser den dramatischsten Passagen ihren krachenden Klang verleihen. Die Leichtigkeit bleibt in den ersten beiden Akten erhalten, während die Poesie besonders währen Ossians-Lied, zart und von der Harfe getragen, am empfindlichsten ist. Darüber hinaus werden die Sänger durch die gewählten musikalischen Balancen stets gut hervorgehoben. Die sechs Kinder der Maîtrise des Hauts-de-Seine spielen und singen Charlottes Brüder und Schwestern mit Finesse und Begeisterung.
In der Titelrolle positioniert sich Bernheim durch seine präzise Diktion, seine geschmeidige und lyrische Stimme mit weichen und leichten hohen Tönen, aber auch durch den Körperbau seines charismatischen jungen Hauptdarstellers und seine ausdrucksstarke Theaterleistung eindeutig als Maßstab für dieses Repertoire. Seine Nuancen ermöglichen es ihm, zwischen dem Gemurmel einer Bitte und der Kraft seiner Wut über sein widerstrebendes Schicksal zu wechseln.
Die schweizerische Mezzo-Sopranistin Marina Viotti spielt eine vulkanische Charlotte mit einer feurigen metallenen Stimme, aber vielleicht mit einem zu oberflächlichen Vibrato. Es gelingt ihr jedoch aber, ihren Charakter von einer zurückhaltenden und vernünftigen Frau in eine erhabene mutige Geliebte zu verwandeln.
Der französische Bariton Jean-Sébastien Bou stellt in Albert sein schauspielerisches Talent unter vollen Beweis. So ist es bemerkenswert, wenn er Werthers Briefe ergreift, um sie einen nach dem anderen zu lesen, während seine Frau vergeblich versucht, ihren Geliebten vor dem Selbstmord zu bewahren. Seinem Charakter entsprechend verfügt er musikalisch über einen vollmundigen und kraftvollen Bariton mit großer Ausstrahlung.
In der Inszenierung von Loy gelingt es der französisch-amerikanischen Sopranistin Sandra Hamaoui, die Figur der Sophie zu entwickeln, deren Seele sich im dritten Akt ebenso verdunkelt wie ihr Kleid. Eine noch freudvollere Ausführung im ersten Akt hätte den Kontrast und diese Entwicklung allerdings noch mehr verstärkt. Ihre Stimme ist hell mit dunklen Tönen und vibriert intensiv! Als Gerichtsvollzieher entwickelt der französische Bariton Marc Scoffoni den Charakter eines altmodischen Großvaters, ein wenig als Schauspieler und jedoch mit einer Stimme mit festem, tiefem Klang.
Der russisch-israelische Bass Yuri Kissin als Johann und der französische Tenor Rudolphe Briand als Schmidt bilden ein passendes Duo. Der erste hat eine rußige Stimme, während der andere einen kleinen klaren Charaktertenor vorweist. Die beiden Freunde geben sich voll und ganz einer gemeinsamen Bühnenperformance hin. Die französische Sopranistin Johanna Monty als Kätchen und der französische Bariton Guilhem Begnier als Brühlmann bilden ein leidenschaftliches, aber flüchtiges Paar, das sorgfältig mit den drei Worten umgeht, die zwischen ihnen bestehen.
Das Publikum applaudierte allen Sängern und dem Dirigenten großzügig. Überraschender Weise wurde das Produktionsteam mit Loy mit seltenen, aber kraftvollen und brutalen unverständlichen Buhrufen begrüßt (Warum, das ist uns ein Rätsel?): Auch Bernheim war verblüfft und winkte dann dem restlichen Publikum zu, um zusammen die Finesse und Schönheit der Produktion noch mehr zu feiern! (PMP/27.03.2025)