Paris, Théâtre des Champs-Élysées, JOHANNES-PASSION - J. S. Bach, IOCO
Théâtre des Champs-Élysées - JOHANNES-PASSION: Zum 300. Jahrestag der Entstehung des Werks bietet die an das lyrische Universum gewöhnte Choreografin Sasha Waltz ihre Version in Zusammenarbeit mit dem Dirigenten an der Spitze seines Ensemble Cappella Mediterranea und des Doppelchors ...
Johann Sebastian Bach: JOHANNES-PASSION, BWV 245 (1723/24), Passion in zwei Teilen nach spirituellen Texten von Heiligen Johannes (?-99 n. J.C.), Heiligen Matthäus (?-n. J.C.), Psalmen, Johann Heermann (1585-1647), Martin Luther (1483-1546), Paul Gerhardt (1607-1676), Paul Stockmann (1603-1636), Michel Weiße (1687-1744), Christian Heinrich Postel (1658-1705), Valerius Herberger (1562-1627) und Martin Schalling (1532-1608). - Libretto von Barthold Heinrich Brockes (1680-1747), Christian Heinrich Weise (1642-1708), Christian Heinrich Postel (1658-1705) und ein unbekannter Autor, wahrscheinlich Bach selbst.
ALLES IST TANZ UND MUSIK
Der Höhepunkt des religiösen Repertoires, die Johannes-Passion, ist ein Denkmal der Emotionen, hier dargeboten von dem argentinischen Dirigenten Leonardo Garcia-Alarcón und der deutschen Choreografin Sasha Waltz.
Zum 300. Jahrestag der Entstehung des Werks bietet die an das lyrische Universum gewöhnte Choreografin ihre Version in Zusammenarbeit mit dem Dirigenten an der Spitze seines Ensemble Cappella Mediterranea und des Doppelchors von Namur und l’Opéra de Dijon , wo die Produktion im März 2024 das Licht der Welt erblickt hatte. Waltz ist bekannt für ihre radikalen und innovativen ästhetischen Entscheidungen mit kraftvollen Gesten und greift dieses außergewöhnliche Werk auf, in der die inspirierteste Leidenschaft mit der Theatralik harmoniert. Um dies zu erreichen erzählt sie mit ihrem freien toleranten Stil von den letzten Leiden des Menschensohnes. Der Direktor des Théâtre des Champs-Élysées Paris, Michel Franck entschied sich für sein erstes Mandat 2010 mit der Oper Passion (2008) von Pascal Dusapin (*1955) die Saison zu eröffnen und vertraute die Bühnenproduktion der Berliner Choreografin an. Dies gab den Ton an für die Wege, die er in Bezug auf Repertoire und künstlerische Begleitung einschlagen sollte! Ihr vertraute er auch für die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Ballett Le Sacre du printemps (1913) von Igor Strawinsky (1882-1971) im Jahr 2013 eine neue Choreografie an, eine Einladung der sie hervorragend nachkam. Dass er sie zu Beginn seiner letzten Saison wieder engagierte, spiegelt perfekt den Weg wider, den er seit 2010 eingeschlagen hat.
PILATUS
Bin ich ein Jüde? Dein Volk und die
Hohenpriester haben dich mir
überantwortet; was hast du getan?
JESUS
Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wäre
mein Reich von dieser Welt, meine Diener
würden darob kämpfen, dass ich den Jüden
nicht überantwortet würde; aber nun ist mein
Reich nicht von dannen. (JOHANNES-PASSION / 2. Teil / N° 16)
Die Passion in Bewegung…
Wir wissen nicht, ob es den damals 37jährigen Johann Sebastian Bach (1685-1750) gekränkt hat, dass er bei der Neubesetzung des Leipziger Thomas-Kantorats nicht von vornherein erste Wahl gewesen ist, die Stelle vielmals erst am Ende eines längeren, für ihn freilich keineswegs unehrenhaften Verfahrens bekommen hat. Jedenfalls ist dem Künstler Bach nach seinem Dienstantritt im Mai 1723 keinerlei Missvergnügen anzumerken. Im Gegenteil: Mit Feuereifer macht er sich an seinen ersten Leipziger Kantatenjahrgang, komponiert zum Weihnachtsfest in Gestalt des Magnificat BWV 243a (1723), sein erstes lateinisches Großwerk und geht dann an eine Passion – eine Aufgabe mit größeren Zuschnitt. Am Karfreitag des Jahres 1724 wird sie als Passio secundum Johannem in der Leipziger Nikolaikirche uraufgeführt.
Mit groß angelegten und besetzten oratorischen Passionen haben die Leipziger kaum Erfahrung. 1717 ist eine Passion von Georg Philipp Telemann (1681-1767) in der Leipziger Neukirche, gleichsam einem Nebenschauplatz uraufgeführt worden und in den Jahren 1721 und 1722 hat Bachs Amtsvorgänger, Johann Kuhnau (1660-1722), einen bescheidenen und eher halbherzigen Versuch mit einer konzertierenden Passion gemacht. Das duldet keinen Vergleich mit Hamburg, wo das Passionsoratorium seit längerem im Musikleben fest institutionalisiert ist – freilich nicht innerhalb des Gottesdienstes, sondern im Rahmen von Konzertaufführungen. Bereits 1705 können die Hamburger das von Christian Friedrich Hunold (1680-1721) gedichtete und von dem Hamburger Operndirektor Reinhard Kaiser (1674-1739) vertonte Oratorium Der blutige und sterbende Jesus gegen Entrichtung eines Eintrittsgeldes in einer Art szenischen Aufführung auf einer „darzu bereiteten Schaubühne“ des städtischen Armenhauses hören. Der spätere Ratsherr und Dichter Brockes lässt sein Oratorium Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus (1712) unter gewaltigem Zulauf in seinem Privathaus aufführen. Und der rührige Sonntags-Musiker und Diplomat Johann Mattheson (1681-1764) bietet den Hamburgern 1717 gleich vier Aufführungen der beliebten Brockes-Passion an: In unterschiedlichen Vertonungen von Kaiser, Telemann, Georg Friedrich Händel (1685-1759) und natürlich ihm selbst.
Da es hier weder um kirchliche Interessen noch um religiöse Erbauung im traditionellen Sinn, vielmehr um Befriedigung von Musikgenuss und bürgerliche Geschmacksbildung im Geist der Frühaufklärung geht, liegt auf der Hand. Daher laufen viele Hamburger - nicht nur die Pietisten unter ihnen – Sturm gegen diese „opernhafte“, jedenfalls höchst weltlich anmutende Auseinandersetzung mit dem hohen christlichen Gut der Leidensgeschichte Jesu. In Leipzig sind die Einflüsse traditioneller Theologie und Kirchlichkeit noch weit grösser und „Hamburger Verhältnisse“ deshalb undenkbar. Nicht von ungefähr hat Bach sich bei Dienstantritt verpflichten müssen, nicht zu „opernhaft“ zu komponieren.
Freilich hat der neue Thomaskantor dergleichen auch gar nicht im Sinn, vielmehr etwas anderes, Bedeutenderes: Schon zu diesem Zeitpunkt – nicht erst in seinen späteren Jahren – der große Universalist, geht es ihm um die Verschmelzung von Altem und Neuem, Kirchlichem und Weltlichem, funktional Gebundenem und kompositorisch Autonomen, generell Erhabenen und individuell Schönem. Seine Musik soll – so lässt sie sich „lesen“ – ein vollkommener Ausdruck der Zeit sein, die ein Gestern, ein Heute und ein Morgen kennt.
So „verkauft“ er sich in seiner ersten Leipziger Passion nicht an den damals gängigen, den Leipzigern immerhin aus der Telemann-Passion bekannten, ganz aus freier Dichtung bestehenden Brockes-Text, sondern räumt in seiner eigenen Textzusammenstellung vielmehr Bibelwort und Choral zentralen Raum ein. In den Arien und Ariosi greift er zwar auf die Dichtung Brockes‘ zurück! Jedoch überarbeitet er dessen überladenen, „hohen“ Stil mit dem Ziel, die Sprache schlichter und gemeindemäßiger zu machen – möglicherweise in einer ersten Zusammenarbeit mit Christian Friedrich Henrici Picander (1700-1764), der seit 1725 nachweislich als sein Librettist auftritt. Ohnehin bedarf Bach zu seiner Inspiration nicht unbedingt drastischer, bildkräftiger Vorlagen. Man kann sich kaum einen formelhafteren Text vorstellen als denjenigen zum Eingangschor „Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!“ Doch was macht Bach daraus, das bis dahin größte und gewaltigste vokal-instrumentale Tongemälde der abendländischen Musikgeschichte. In einem Satz vereinigt er die Darstellung von göttlicher Macht und Herrlichkeit, von kreatürlichem Leiden und von der gewaltigen Bewegung, die angesichts des Passionsgeschehen durch die Menschheit geht.
Wohl jeder andere Komponist hätte den Text ganz fein auseinandergelegt, zunächst die Größe des Herrschers besungen, danach seine Passion. Was die direkte Rede des Chors angeht, verfährt Bach in der Tat so, doch im Tönen der Instrumente fasst er alles im Sinne eines Ereignisses zusammen: Im Orgelpunkt der Bässe drückt sich die unerschütterliche Ruhe Gottvaters aus, in den Dissonanzen des sich synkopisch voranschiebenden Bläserpaars das Leiden des Sohnes, im Gewoge der Streicher das Wehen des Heiligen Geistes in unserem Herzen.
In ihren besten Augenblicken – es gibt davon in der Johannes-Passion wahrlich viele – vermag Bachs Musik das Moment der Sinnbildlichkeit und Abbildlichkeit in eine so einleuchtende Struktur zu überführen, dass man schon fast wieder von autonomer Kunst sprechen kann. Dies gilt nicht nur für den Eingangschor, sondern auch für die Arien der Johannes-Passion, die meistenteils ein Wunder an Sinnfülle auf der einen, Sinnfälligkeit auf der anderen Seite sind. So kann man angesichts des dreistimmigen Satzgerüstes der ersten Arie: „Von den Stricken meiner Sünden“, wählen, ob man die intrikate Kontrapunktik als solche rühmen oder sie als subtilen Ausdruck der „Verstrickung“ bewundern soll. In ähnlicher Weise lässt sich die nächste Arie: „Ich folge dir gleichfalls“, als schwungvolles, wenngleich konsequent imitatorisches Passepied oder als allerstrengstes Abbild der „Nachfolge“ verstehen.
Geradezu doppelgesichtig ist die Arie: „Ach, mein Sinn“, zum einen hat Bach sie mit solcher Konsequenz nach den barocken Regeln der musikalischen Rhetorik geschaffen, dass Arnold Schering (1877-1941) sie als geradezu vollständige Beispielsammlung der barocken Figurenlehre bezeichnen kann. Zugleich ist der Gestus des Satzes von einer individualistischen Leidenschaftlichkeit, die auf die Rhapsodik des Sturm und Drang nicht nur vorausweist, sondern sie geradezu in den Schatten stellt.
In welchem Maße Bach in der Mitte der abendländischen Musikgeschichte steht , zeigt die Arie: „Es ist vollbracht“! Deren Hauptgedanke nimmt einerseits die Tradition des instrumentalen Tombeaus auf, wie es spätestens seit dem 17. Jahrhundert – vor allem zum Gedenken bedeutender Persönlichkeiten – für Laute, Cembalo und Gambe komponiert wurde. Auf diesen Zusammenhang hat bereits Nikolaus Harnoncourt (1929-2016) in seinem Essay über Das Quasi-Wort-Ton-Verhältnis in der rein instrumentalen Barockmusik (1955) aufmerksam gemacht. Der Anfang der Arie weist andererseits auf den Arioso dolente überschriebenen „Klagenden Gesang“ aus Ludwig van Beethovens (1770-1827) Klaviersonate N°. 31, Op. 110 (1822) und auf die Arie: „Es ist genug“ aus Felix Mendelssohn-Bartholdys Oratorium (1809-1847) Elias, Op. 70, MWV A 25 (1846) voraus. Dabei ist nicht entscheidend, ob direkte Übernahmen Bachs von Lautenisten und Gambisten wie René Mezangeau (1568-1638), Marin Marais (1656-1728) oder solche Beethovens und Mendelssohns von Bach nachzuweisen sind: Wichtiger ist die Feststellung, dass Bach ungeachtet der Einmaligkeit seiner Kunst auf musikalische Topoi zurückgreift, deren Semantik über die Jahrhunderte hinweg zumindest im kollektiven Unbewussten nicht nur der Spezialisten, sondern auch der normalen Hörer unmittelbar präsent ist.
Die letzteren finden unmittelbaren Zugang namentlich zu den traditionell als lurbae bezeichneten dramatischen Chören. Auch hier gelingt es Bach, verwickelte Kontrapunktik als reine Gestik erscheinen zu lassen. In diesem Sinne hat Albert Schweitzer (1875-1965) den „Kreuzige“-Chor beschrieben: In den Knabenstimmen vernimmt er „langgezogene, heulende Rufe, wie sie eine erregte Menge ertönen lässt“, in den Männerstimmen zugleich eine „aufsteigende Bewegung, als recke das wütende Volk tausend Arme gen Himmel“. In ähnlicher Weise lässt der Chor: „Lasset uns den nicht zerteilen“ als symmetrisch konstruierte Permutationsfuge erklären und zugleich eher beiläufiges Palaver der am Geschehen emotional nicht beteiligten Kriegsknechte – vielleicht sogar als das Klappern ihrer Würfel – deuten. In diesem Zusammenhang könnte dem lautmalerischen Klang des Bassono grosso besondere Bedeutung zukommen – einer Art Kontrafagott, welches in der neben Orgel und Laute eingesetzt wird.
Schweitzer war vor drei Generationen stolz darauf, den in diesem Sinne „malenden“ Bach als modernen, beinahe die sogenannte illustrative Kompositionsweise Richard Wagners (1813-1883) vorwegnehmenden Musiker feiern zu können. Wenig später hat man entdeckt, dass diese Kompositionsweise keineswegs Ausdruck künstlerischer Willkür ist, vielmehr in dem barocken Verständnis der „Musik als Klangrede“ fußt – um noch einmal Harnoncourt zu bemühen, der sich sein Leben lang für „verstehendes Hören“ eingesetzt und darüber geschrieben hat.
Zu solch verstehendem Hören gehört, Bachs Musik nicht nur immanent als Ordnung und Ausdruck zu verstehen, sondern – nochmals mit den Worten Schweitzers – als „ein Stück Theologie“. Dabei mag man an Luther denken, der angesichts der ebenso kunstvoll gearbeiteten wie ungezwungen klingenden Kompositionen Josquins des Prés (etwa 1450/55-1521) sagte, Gott habe das Evangelium auch durch die Musik gepredigt. Man mag auch die neuere theologische Bach-Forschung vor Augen haben, welche der Zahlensymbolik einen großen Stellenwert gibt. In den Augen des Musikers mag hier an Spekulation des Guten gelegentlich zu viel getan werden: Nicht zuletzt Passion und Kantate waren zur Bach-Zeit Gebrauchsgattungen, die man von vornherein vor dem Horizont ständiger Umarbeitungen gemäß der sich verändernden Aufführungsbedingungen konzipierte. So besteht die Gefahr , dass die großformale Anlage der Passion im Blick auf Gesetzmäßigkeiten, Symmetrien und symbolische Zahlenverhältnisse überinterpretiert wird. Dass andererseits Bach auch als esoterischer Kopf ernst genommen werden muss, steht außer Frage!
JOHANNES-PASSION - Aufführung - Théâtre des Champs-Élysées Paris - 04. November 2024
Auf dem rechten Weg…
Die Aufführung der Johannes-Passion ist sowohl verstörend als auch faszinierend. Wenn es dazu gedacht war, die Musik Bachs zu verherrlichen, ist es gescheitert! Das Spektakel lenkt die Aufmerksamkeit vom Hören ab und beeinträchtigt die Konzentration der Interpretation. Wenn es die Puristen verärgern sollte, war es erfolgreich! Ein erheblicher Teil des Publikums hat die Aufführung ausgebuht. Aber wenn es einfach darum ging, eine moderne, destruktive künstlerische Schöpfung im Einklang mit unserer Zeit zu präsentieren, können wir seine choreografische Kraft nicht genug loben. Der andere Teil des Publikums war begeistert und jubelte…
Zu Beginn sehen wir auf der Bühne eine Nähwerkstatt mit modernen Singer-Maschinen. Haben wir uns heute Abend in der Adresse geirrt? Sind nicht die großen Haute-Couture-Häuser auf der Avenue Montaigne etabliert? Die Tänzer beginnen ihre Kleidung zu nähen. Sie brauchen sie dringend, da sie völlig nackt angekommen sind! Einige werden ihre Arbeit fertig nähen können, aber andere müssen wohl oder übel den ganzen Abend nackend tanzen. Warum auch nicht? Es ist eine wunderschöne symbolische Ambiente: Denn wir sind alle splitternackt zur Welt gekommen! Der „tanzende“ Jesus ist auch von einer nackten Tänzerin interpretiert! Warum auch nicht? Der Teufel wird auch oft von einer Frau interpretiert! Das ist nicht im geringsten skandalös, meine Damen und Herren Pietisten, das ist nicht obszön noch vulgär! Nein! Das ist nur einfach religiös schön sich im Adam-und-Eva-Kostüm zu präsentieren…
Die Choreografin Waltz, die diese Prinzipien gewissermaßen in Tanz verwandelt, startet mutig mit ihrer Tanz-Kompanie inmitten der erhabenen Musik von Bach. Sie greift dieses Meisterwerk kräftig aber liebevoll an, andere aber das Capitol mit pietistischen Slogans und rechtsradikalem Gebrülle. Wir verstehen ihre Absicht, seit gestern Abend noch mehr als je zuvor: An das Leiden Christi und an die weltlichen Katastrophen zu erinnern, die über die vielen Jahrhunderte bis zum heutigen auf uns gekommen sind! Es illustriert Bachs Musik nicht, sondern kommentiert sie auf ihre eigene Art und Weise. Der Stil ist manchmal verrückt, gewalttätig und scheint weit entfernt von der Musik und dem Text. Diese Art ist manchmal äußerst poetisch aber weit besser noch: Sie ist realistisch und Wahrheitsbedingt!
Dann sehen wir inmitten einer choreografischen Hysterie einige sehr schöne „lebendige“ Gemälde. Irgendwann reichte Bachs Musik der Choreografin nicht mehr aus. Also unterbricht sie „ihn“ und lässt die Tänzer mit Ziegelsteinen und Hämmern auf den Boden schlagen. Wir haben diese „Unterbrechung“, wohl eine Hommage an die Blindheit und Unwissenheit der Menschheit sehr gut verstanden. Bach wird sich jetzt erholen! Am Ende erinnert eine große Metallleiter, die auf einem Baumarkt gefunden wurde: An die Himmelfahrt Christi! Gibt es etwas poetischeres um dieses einmalige christliche Ereignis zu symbolisieren? Darüber hinaus verfügt diese Aufführung, wie bereits erwähnt, über eine echte choreografische Kraft. Es reist uns mit aller Gewalt in einen stürmischen Tornado…
Inmitten all dessen gibt der Dirigent Garcia-Alarcón sein Bestes, um diese gewaltige und erhabene Musik kathedralenhaft zu interpretieren. Wir sehen, wie er mitten in der Katastrophe seine Arme in alle Richtungen hebt. Es geht diesmal nicht darum, um Hilfe zu rufen, sondern darum: Die Interventionen der im Saal verstreuten Chorsänger, der belgische Choeur de chambre de Namur, der Choeur de l’Opéra de Dijon zu bündeln. Seine in einer Bühnenecke zusammengedrängten Musiker des Ensemble Cappella Mediterranea halten trotz Platzmangels tapfer durch. Die Musiker und Chorsänger sind einfach tadellos und machen dem Leipziger Kantor alle Ehre.
Unter den Solisten sind besonders drei felsenfest verankert: Der italienische Tenor Valerio Contaldo, ein bemerkenswerter Evangelist, der deutsche Bass Christian Immler, der mit seinem tiefen Timbre Jesus verkörpert und der österreichische Bariton Georg Nigl, der ein beeindruckender Pilatus ist. Die anderen drei schienen durch den Ort von dem aus sie zum Singen geführt wurden, destabilisiert zu sein. Der deutsche Countertenor Benno Schachtner wartete gewissermaßen darauf, dass seine letzte Arie: „Es ist vollbracht“ uns berührte. Das Gleiche gilt für den britischen Tenor Mark Milhofer, der jedoch mit seiner letzten Arie: „Mein Herz“ stimmlich doch besonders herausragte. Was die belgische Sopranistin Sophie Junker betrifft, so berührte sie uns, als sie ihre Arie: „Zerfließe, mein Herz“ auf dem Boden liegend inmitten eines Haufen Tänzerkörpern aufführte. Die kleineren Rollen wurden mit viel Professionalismus von den Sopranistinnen Estelle Lefort (Ancilla), Camille Hubert, der Countertenor Logan Lopez Gonzales, der Tenor Augustin Laudet (Servus) und der Bass Rafael Galaz Ramirez (Pierre) interpretiert. Alle sind Chormitglieder des Choeur de chambre de Namur.
Folgende Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie Sasha Waltz & Guests interpretierten diese anspruchsvolle Tanz-Geschichte zwischen religiösen und zeitgenössischen Emotionen mit viel Talent:
Rosa Dicuonzo, Yuya Fujinami, Tian Gao, Eva Georgitsopoulou, Hwanhee Hwang, Annapaola Leso, Jaan Männima, Margaux Marielle-Tréhüart, Virgis Puodziunas, Orlando Rodriguez und Suárez Gómez.
Am Ende geschieht fast ein Wunder. Im letzten Choral: „Ruhe in Frieden“ stehen alle in schöner Einheit auf der Bühne, in nächtlicher dunkler Umgebung zur der erhabenen Musik von Bach.
Dies ist wohl Bachs endgültiger Sieg!...
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