Paris, Théâtre de l'Athénée, LUNDIS MUSICAUX, IOCO
PARIS: ORLANDO, GNADE UND WUT… Die kanadisch-mazedonische Mezzo-Sopranistin Ema Nikolovska und der britische Gitarrist Sean Shibe haben eines der gefeiertsten Liederprogramme der letzten Jahre zusammengestellt: Orlando!

31.03.2025 - L U N D I S M U S I C A U X - SORÉE ORLANDO, Ema Nikolovska, Mezzo-Sopran, Sean Shibe, Gitarre und E-Gitarre
von Peter Michael Peters
ORLANDO, GNADE UND WUT…
Die kanadisch-mazedonische Mezzo-Sopranistin Ema Nikolovska und der britische Gitarrist Sean Shibe haben eines der gefeiertsten Liederprogramme der letzten Jahre zusammengestellt: Orlando!
Teaser Ema NIKOLOVSKA & Sean Shibe interpretieren 1000 PARTS OF YOU (2024) by Sasha Scott. © Youtube
Orlando oder der männliche Wahnsinn…
Orlando ist eine Figur der Geschlechter-Fluidität, ein Ritter, der im Liebeswahn gefangen ist, eine unsterbliche Figur, die die Literatur von Chrétien von Troyes (um 1140-1190) bis Virginia Woolf (1882-1941) durchquert: Er geistert durch das Liederprogramm! Von Johann Sebastian Bach (1685-1750) bis Laurie Anderson (*1947), einschließlich Bob Dylan (*1941), Tansy Davies (*1973), Joan Baez (*1941), Cassandra Miller (*1976) und Sasha Scott (*1985), vermischt Orlando zu unserer größten Freude Genres und Epochen.
Lieder über Liebe und Identität…
Warum sollte man sich überhaupt mit Programmierung oder „Kuration“ beschäftigen? Diese Frage tauchte oft in unseren Gedanken und Gesprächen mit Freunden und Kollegen auf. Eine Antwort: Verarbeiten, triangulieren, Verbindungen in ungewöhnlichen Räumen herstellen…
Orlando als Collage...
Täglich werden unsere Sinne mit einer Flut von Klängen und Bildern konfrontiert, oft unangenehm, obwohl wir uns mittlerweile daran gewöhnt haben. Virginia Woolfs Figur Orlando, die Jahrhunderte gelebt hat, bringt den überwältigenden Geist der Moderne zum Ausdruck, als sie 1928 in einem Cabrio durch London braust: „Nichts war vollständig zu sehen oder von Anfang bis Ende zu lesen. Was man beginnen sah – wie zwei Freunde, die sich auf der anderen Straßenseite kennenlernen -, endete nie. Nach zwanzig Minuten waren Körper und Geist wie Papierfetzen, die aus einem Sack purzeln und tatsächlich ähnelt die schnelle Fahrt aus London so sehr dem Zerstückeln der Identität, das der Bewusstlosigkeit und vielleicht dem Tod selbst vorausgeht, dass es eine offene Frage ist, inwiefern Orlando im gegenwärtigen Moment existiert hat“.
Solche wachsenden Reize werden unweigerlich zu Zutaten für Collagen-Experimente und hier wird das Kuratieren spannend und unterhaltsam. Im Jahr 2025 zu leben bedeutet, dass die beiden gleichzeitig auf viele Zeiträume voller Geschichten und Klänge zugreifen können und eine zentrale Frage bei der Arbeit mit Sean – als Duo und für ihre Einzelprojekte – sind: „Was passiert, wenn, wenn diese Klänge koexistieren?“ Das „Alte“ und das „Moderne“ stehen im Dialog, sind in diesem Klangteppich miteinander verwoben, ebenso wie das Realistische und das Unheimliche – das Vertraute wird fremd und umgekehrt. Aus der alchemistischen Interaktion dieser gefundenen Objekte entsteht eine Art „dritte Entität“.

In ihrem Programm spielen sie mit vielen Orlandos aus verschiedenen Quellen – oft im Zusammenhang mit Rittern, Abenteurern, Troubadouren – und werden durch diesen Prozess tatsächlich selbst Orlandos. Im Mittelpunkt steht Woolfs Orlando: Eine Figur, die Generationen von Lesern und auch uns selbst mit ihrem Optimismus, ihrer Neugier, Weltoffenheit, Verspieltheit und Kühnheit inspiriert hat. Die Wandelbarkeit unserer Identität, die „tausenden Ichs“ in unserem Inneren erinnern uns daran, dass wir uns selbst immer wieder überraschen lassen, aber auch Überraschungen von anderen zulassen sollten. Diese Überraschungen zu finden, ist der Sinn dieses Projekts.
Woolfs Roman war selbst experimentell und durchkreuzte das Konzept des westlichen Romans und die Art des Geschichtenerzählens. Er stellte eine Revolution in der postmodernen Literatur dar – beinahe eine Parodie auf Biografien und jedes lineare Selbstkonzept und zudem auch ein wirbelnder Bewusstseinsstrom. Solche Strukturen und Ideen von Woolf bieten einen fruchtbaren Spielplatz für Programme, die abstrakt genug sind, um die Vorstellungskraft des Publikums aktiv einzubeziehen und es im Laufe des Erlebnisses bestimmte Impulse für Geschichte und Sinn geben zu lassen.
Sean und Ema haben ihre Programmierpraxis weiterentwickelt, indem sie ihren Instinkten folgten, die sich aus der Auseinandersetzung mit der Figur des Orlandos ergaben und nach Klangwelten und Poesie suchten, die relevant sein könnten: Sie haben ihre Vorstellungen damit erweitert, was 70 Minuten Musik sein können, haben sich zu einem Hybrid aus Konzert und Theater, elektrisch und akustisch entwickelt und Wege gefunden, Spiegelkabinette, Illusionen und Auslassungen zu schaffen. Wie passend, dass sie sich zum ersten Mal im Londoner Stadtteil Bloomsbury trafen – wo Woolf eine Zeit lang lebte und arbeitete ! – Woolf selbst war eine meisterhafte Kuratorin, die sich mit dem Rhythmus der Sprache, dem Tempo von Bildern und Poesie auseinandersetzte und ihre literarischen Collagen haben die kreative Praxis der beiden Musiker nachhaltig geprägt.
Woolfs Orlando erinnert sie daran, dass die einzigen Grenzen und Gegensätze, die es gibt, diejenigen sind, die wir uns selbst schaffen. Unsere Vorstellungskraft hat die Macht, einzuschränken, zu verbinden und zu extrapolieren. Orlandos Geschichte – ob es sich nun um die Figur aus der Sicht von Woolf, Ludovico Ariosto (1474-1533) oder der antiken französischen Poesie handelt – ist eine Hommage an das unendliche Potenzial für Abenteuer in jedem Augenblick, an die Unwirklichkeit von Zeit und Raum und an die Freiheit, die zwischen unseren Ohren zu finden ist…

P r o g r a m m (31.03.2025):
Jules Massenet (1842-1912): O Souverain, ô Juge, ô Père aus Le Cid (1885).
John Dowland (1563-1626): Preludium * Come again, sweet love doth now invite *
Think’st thou then by thy feigning * Come, heavy sleep *
Orlando Sleepeth aus First Booke of Songes or Ayres (1597).
Sasha Scott: 1000 PARTS OF YOU (2024).
Detlev Glanert (*1960): Orlando-Lieder / Auszüge (2004):
Insel der Düfte * Hexensabbat * Lied der Wehmut *
Orlandos Traum * Lied vom Meer.
Thomas Adès (*1971): Blanca * Habañera aus The Exterminating Angel (2016).
Franz Schubert (1797-1828): Einsamkeit aus Winterreise, D 911 (1827) *
So lasst mich scheinen aus Gesänge des Wilhelm Meister, D 877 (1826).
Cassandra Miller: Dream Memorandum (2024).
Hans Abrahamsen (*1952): See The Limped Spring
aus 2 Inger Christensen (1935-2009) Songs (2017).
Pauline Viardot (1821-1910): Aimez-moi (1864).
Bob Dylan: Masters of War (1963).
Laurie Anderson: O Superman (2009).
Orlando, ein sehr weiser Narr…
Der hochgebildete Humanist Ariosto, der am glanzvollen Renaissance-Hof der Este von Ferrara lebte, schrieb dreißig Jahre an seinem monumentalen Werk Orlando furioso (1516), das bewusst auf Stoffe und Motive klassischer und italienischer Epen, auf bretonische Sagen, Rittergeschichten und orientalische Märchen zurückgreift. Vor dem Hintergrund der Kämpfe Karls des Großen (747-814) und seiner Paladine gegen die Heiden entfaltet sich das Vexierspiel einer Unzahl von Abenteuern, Duellen und Liebesverwicklungen. Aus den ernsthaften Glaubensstreitern der Karolinger-Epik werden bei Ariosto allerdings liebestolle Ritter, die ihren Angebeteten über Land uns Meer bis in die entferntesten Winkel der Welt, ja bis zum Mond nachjagen, wo ihnen Feen, Magier und Ungeheuer begegnen.
„Zur Belustigung und Erholung der Herrschaften und edelgesinnter Leute und Damen“ verfasste Ariosto seinen Orlando furioso, das zu den unsterblichen Meisterwerken der Weltliteratur zählt und als das berühmteste literarische Kunstwerk der Renaissance gilt.
Wie sollte es bei einem solchen Geniestreich anders sein, als das ihn zig anderer Künstler als Stoff ihrer Kunstwerke ebenfalls verwendeten. In der bildenden und darstellenden Kunst hielt Orlando furioso seinen Einzug. Teils wurden nur Episoden zu neuerlichen Werken, in denen der Held selbst gar nicht erscheint. Man denke nur an die Opernkompositionen der Alcina-Geschichte. Maler aller Epochen haben sich von den detaillierten Schilderungen und dem Farbenreichtum der Ariosto-Sprache inspirieren lassen. Georg Friedrich Händel (1685-1759) allein schrieb drei Opern, in denen er auf den Orlando furioso zurückgriff. Orlando (1733) ist die erste seiner Opern der Trilogie des Ariosto, der Ariodante (1735) und Alcina (1735) folgten.
Carlo Sigismondo Capece (1652-1728), der für den jungen Händel auch den Text seines ersten geistlichen Oratoriums, La Resurrezione (1708) lieferte, hatte den Orlando avvero la Gelosa Pazzia ursprünglich für Domenico Scarlatti (1685-1757) geschrieben.
Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wer das Libretto Capeces für Händel bearbeitet hat. Wissenschaftlichen Arbeiten über das Alcina-Libretto und die ebenfalls sehr geschickte und sorgfältige Arbeit bei der Reduktion des Orlando-Librettos, um eine alte Geschichte neu zu erzählen, legen die Vermutung nahe, Händel wäre nicht nur der Komponist sondern auch der Bearbeiter des Librettos gewesen.
Kaum irgendwo in der Operngeschichte lässt sich so gut ein dramaturgisches Prinzip, die Art und Weise mit der eine Geschichte erzählt wird, nachvollziehen wie in den Opern Händels. Sich an die Gesetzmäßigkeiten der italienischen opera seria anlehnend, verlässt er diese. Bei Händel zeigt sich eine allmähliche Veränderung des Verhaltens der Figuren: Sie singen nicht nur, dass sie glücklich oder unglücklich sind, sie sind es. Ihr Schicksal wird bewegend! Tatsächlich wird der Bruch bei Händel offenbar. In der neuen Oper ist die Tragödie echt und wird gelebt, die Figuren sind „natürlich“. Es ist dies der Grund, warum im bürgerlich aufgeklärten England, die eigentlich sterbende italienische opera seria mit Händels Werk nochmals zur Blüte gelangen konnte.
Händel, den Christoph Willibald von Gluck (1714-1787) als seinen Lehrmeister bezeichnete, bereitet die Revolution in der Oper vor. In Frankreich ist gerade die bösartige Oper Platée (1745) von Jean-Philippe Rameau (1683-1764) im Entstehen, in der keine Gottheit mehr in den Schnürboden zurückkehren konnte, ohne der Lächerlichkeit preisgegeben zu sein.
Händel erfindet anstelle dieser Gottheit im Orlando eine neue Gestalt, die es bei Ariosto nicht gibt: Zoroastro (550-520 v. J. C.), ein den Sternen zugewandter Zauberer, der sich auf Zeichen, Initiationen, Magie und Moralpredigten versteht und der in diesem Stück wie ein Fremder wirkt – der Bruch wird offenbar.
Und was reizte uns an dieser Geschichte des liebestollen Ritters…?
Der Liederabend im Théâtre de l’Athénée am 31. März 2025:
Die exhibitionistische Kunst bringt den faszinierenden Exzess auf die Bühne…
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich der Gattung Lied zu nähern. Man kann traditionell sein – was kein Fehler ist – oder sich an Zyklen halten, die so komponiert wurden, dass sie an einem Abend zusammen gesungen werden können. Aber nicht alle Lieder sind in Zyklen vereint! Natürlich kann man ein Programm zusammenstellen, indem man Stücke aus ihrem Zyklen herausnimmt oder indem man eine Sammlung isolierter Lieder erfindet. Johannes Brahms (1833-1897) beispielsweise komponierte nur wenige Zyklen, obwohl er aber sehr viele Lieder schrieb. Wir können das Thema Geschlecht auch aufbrechen, um es in Frage zu stellen und gleichzeitig den zentralen Platz zu bekräftigen, den es in dem heutigen Belangen auch wieder einnimmt. Um die Konsistenz der Explosion zu wahren, kann es sinnvoll sein, ein Thema oder einen roten Faden zu definieren. Für diese dritte Option entschied sich Nikolovska bei ihrem ersten Liederabend unter dem Titel Orlando in Paris im Rahmen Les Lundis Musicaux.
Rund um die Figur Orlandos – einer Figur, die ihre Wurzeln im Rolandslied (1040) hat und sich durch die gesamte Literaturgeschichte zieht, von Ariosto und seinem Orlando furioso bis zu Woolf und ihrem Orlando: A Biography, aus dem zwischen bestimmten Stücken Auszüge gelesen werden – bietet die Mezzo-Sopranistin, auf der Gitarre begleitet von Shibe, ein entschieden eklektisches und doch überaus stimmiges Programm. Eine echte Überraschung, die der Gitarrist je nach Wahl mit einem klassischen Instrument oder mit einer E-Gitarre mit gekonnten Sequenzen zusammenhält, ohne einen klaren Bruch zwischen den dennoch sehr unterschiedlichen Stücken zu markieren
Zu den Komponiste.n, die wir gerne, aber nicht überraschend in einem Liederprogramm wiederfinden (Schubert, Viardot, Massenet), kommen doch einige Entdeckungen (Glanert, Abrahamsen, Miller, Anderson) und der eine oder andere Satellit hinzu, der mit dem Programm eine gelungene Konstellation bildet (Dowland, Scott, Dylan).
Das warme, runde und samtige Timbre von Nikolovska eignet sich problemlos für alle Metamorphosen. Bewundernswert sind ihre Interpretationen zu Dowland und Schubert, aber sie hört nie auf zu experimentieren. Ist die Gitarrenbegleitung bei Comme again aus dem ersten Album deutlich erkennbar, so ist dies bei Einsamkeit aus dem zweiten Album nicht der Fall, wo die Musiker zudem noch E-Gitarre und Mundklavier einsetzen. Das Ergebnis bedarf allerdings der Unterstützung. Generell sind die Sätze perfekt inszeniert und die Stimmführung stets bemerkenswert auf den Text abgestimmt. Ein harmloses Wort wie „hinein“ in Glanerts Lied der Wehmut ist an sich schon eine Gesangsstunde: Um dieses Wort, das zwei Phoneme enthält, die einen abrupten Wechsel der Stimmlage bewirken sollten – das erste ist sehr weit vorne, das zweite sehr weit hinten platziert -, stimmlich zu besetzen, durchläuft der Sänger alle Positionen der Maske mit einer beunruhigenden Flüssigkeit und Homogenität. Aus diesem Wort formt sich eine schimmernde Einheit voller Obertöne: Ein Detail von unglaublichem musikalischen Reichtum. In Adès Habañera nasaliert sie und spielt mit der Vulgarität und dem Humor des Textes, während sie in Blanca desselben Komponisten eine tadellose technische Meisterschaft mit hohen Attacken, voller und gleichzeitig fehlender Klang, Sinn für Phrasierung, Projektion, usw. beweist.
Neben einem an sich experimentellen Programm gibt es auch einige musikalische Kühnheiten: Mit Kühnheiten, wenn man bedenkt, dass es sich beim Publikum um das eines Liederabend handelt, ein anspruchsvolles Publikum, das bei Schubert oder Brahms Text und Musik oft auswendig kennt. Eine französische Kreation, 1000 PARTS OF YOU von Scott, verwendet elektronische Mittel von der Gitarre über computergenerierte Klänge bis hin zu Live-Aufnahmen/-Wiederverwendung . In Viardots: Aimez-moi ergreift die Opernsängerin das Mikrofon und am Ende des Liederabends bietet Dylans Master of War einen schwebenden Moment, in dem bestimmte Live-Mitschnitte dem Song erneut eine einzigartige Dimension verleihen.

Das Wagnis einer solchen Programmierung war sicherlich riskant. Das Ergebnis, stimmig, äußerst kontrolliert und nie provokativ, es wurde positiv aufgenommen. Das Publikum applaudierte mit begeisterten Ovationen! Brava… Bravo… (PMP/ 07.04.2025)