Paris, Théâtre de l'Athénée, Französische Melodien an einem Montagabend, IOCO Kritik, 04.12.2022
Französische Melodien der Jahrhundertwende
- Laurent Naouri, Bass-Bariton - Maciej Pikulski, Klavier -
von Peter Michael Peters
EINE ODE AN DIE FRANZÖSISCHE MELODIE
- Parfois elle quitte la cour et disparait.
- Elle laisse aux volailles pacifiques
- un moment de répit.
- Mais elle revient plus turbulente et plus criarde.
- Et, frénétique, elle se vautre par terre. (Jules Renard : Histoires naturelles - La Pintade / Auszug)
Die Kunst der Intimität und Sensibilität…
Eine reiche Auswahl von französischen geistreich erfüllten Melodien von unsterblicher Liebe über menschlich-tierische Gewohnheiten bis hin zur allerletzten Reise: träumerisch… tragisch… banal… grotesk und außergewöhnlich humoristisch… Für diesen Liederabend haben Laurent Naouri, Bass-Bariton, Maciej Pikulski, Klavier einige unumgängliche berühmte „Schlager“, aber auch sehr seltene, fast unbekannte Melodien in ihr Programm aufgenommen.
Cinq Mélodies de Venise, Op. 58, der erste große Erfolg von Gabriel Fauré (1845-1924), ein Zyklus vor den großen Zyklen, diese fünf Melodien von 1891 beinhalten: Mandoline, En sourdine, Green, A Clymène und C’est l’extase, nach Gedichten der Fêtes galantes (1866/1869) und den Ariettes oubliées (1885/1887) von Paul Verlaine (1844-1896). Fauré schrieb sie für Winnaretta Singer, Prinzessin de Polignac (1865-1943), deren Gast er während einer Reise nach Venedig war. Sie bildeten für ihn eine Art „Suite“, Chronik einer Liebe von der er bedauerte, „das letzte Kapitel (C’est l’extase) ist leider nicht wahr!“. Die musikalische Struktur des Zyklus spielt mit einer Beziehung von Tonalität und der Wiederkehr melodischer oder pianistischer Themen. Mandoline gibt die venezianische Atmosphäre wieder, die von der verträumten Barkarole von A Clymène aufgenommen wird, jedoch die anderen Melodien sind verträumt und verinnerlicht: Stürzen aus der Zeit inmitten eines liebesvollen Dialogs.
Histoires naturelles, M. 50, dieser von Maurice Ravel (1875-1937) im Jahre 1906 geschriebene Zyklus von fünf Melodien für Gesang und Klavier nach Gedichten von Jules Renard (1864-1910), sorgte bei der Uraufführung am 12. Juni 1907 im Saal Erard Paris für großes Erstaunen und viel Aufregung. Es sang die Mezzo-Sopranistin Jane Barthori (1877-1970) begleitet vom Komponisten! Im Publikum waren u.a., Claude Debussy (1862-1918) der darüber Anstoß nahm und Louis Laloy (1874-1944) gegenüber scharfe Bemerkungen über eine Kritik machte, die er als zu komplementär angesehen hatte, um dann später noch in diesen Worten auf das Thema zurückzukommen: „Unter uns, glauben Sie aufrichtig an humorvolle Musik?“ Es ist wahr, dass eine ganze Welt zwischen dem zarten Humor von Debussy und dem ziemlich rohen volkstümlichen Witz von Renard liegt und auch in seiner Beschreibung über die Verhaltungsweisen eines armen gefederten Geflügelvolkes im untersten Bereich des sozialen Scheunenviertels: Die aber jedoch denen der Menschen sehr ähnlich ist! Der Pfau wartet auf seine Verlobte, so erfüllt von sich selbst, dass ihre Abwesenheit ihn nicht berührt. Die Grille, ein „Neger“-Insekt, arbeitet mit viel Raserei und verschließt sich ebenso schnell ermüdet in ihr sicheres Erdloch. Der Schwan erschöpft sich in seiner Selbstverherrlichung, aber er ist zu dumm um sich selbst zu mästen wie eine Gans. Der Eisvogel ist verwirrt und verwechselt die Bäume mit den Angelruten, während das Perlhuhn seine Runde mit albernen Kichereien macht und dabei die Mitbewohner des tiefen dunklen Scheunenviertels äußerst verärgert. Aber trotz aller Kritik, für Ravel ist es eine ganze Welt voller Wunder und Kindheitserinnerungen, die sich später bei den Tieren in dem L’Enfant et les sortilèges (1925) wieder findet. Die Histoires naturelles, M 50, ist nicht mehr noch weniger denn das menschliche Verlangen, ein Tier zu sein (oder umgekehrt?): 1. Le Paon: „ohne Eile und edel“. 2. Le Grillon: „friedlich“. 3. Le Cygne: «langsam“. 4. Le Martin-Pêcheur: „es geht nicht langsamer“. 5. La Pintade: „schnell genug“. Diese „tierischen“ Explikationen vom Komponisten sind völlig musikalisch!
Henri Sauguet (1901-1989) komponierte mehrere Opern und zahlreiche Ballette, die ihm große Popularität einbrachten, darunter La Chatte (1927) und Les Forains (1945), sogenannte „Glücksbringer“ für den Musiker, denn diese Werke gingen um die ganze Welt. Er schrieb in allen Musikarten: Kammermusikpartituren, vier Sinfonien, Filmmusik sowie eine große Anzahl von Kantaten und mehr als 170 Melodien von 1921 bis 1982. Musik ist für Sauguet ein sechster Sinn! Vollkommen eklektisch greift der Komponist ausländische wie französische Gedichte für seine Melodien auf, deren Erfolg auf der Mischung aus Einfallsreichtum und Raffinesse, Bescheidenheit und Konzentration der Ideen beruht. Die Berühmtheit seiner Opern und Ballette warf leider einen großen Schatten auf die Melodien des Musikers: Zurückhaltend und nachdenklich, bukolisch durch Neigung, elegisch durch Temperament. Von Daniel-Lesur (1908-2002) als „der große Dichter unter den Komponisten“ angesehen, sucht Sauguet nicht unbedingt nach Neuheiten! Sondern sein großer melodischer Erfindungsreichtum, bewegt sich in einem „gemäßigten Klima“, notiert Paul Collaer (1891-1989), auch seine unerschöpfliche Sensibilität ist das Maß seiner leidenschaftlichen Impulse und dem „ausgeprägten Sinn für Reinheit“, bestätigt der Musikwissenschaftler. Deux Mélodies (1938) nach Gedichten von Arthur Rimbaud (1854-1891) vereinen Le chat I, N° 5 (Dans ma cervelle se promène…) und Le chat II, N° 6 ( De sa fourrure blonde et brune ), beide aus Six mélodies sur des poèmes symbolistes (1938). Die musikalischen Liebkosungen und katzenartige Kurven vermittelt uns die Liebe zu Katzen bei Rimbaud und natürlich auch bei Sauguet. Es ist eine Stilübung voller delikater „Katzen-Geschwätze“ in der ersten Melodie und von faszinierender „schnurrender“ Zartheit in der Zweiten.
Banalités, in fünf Melodien präsentiert diese Sammlung von 1940 alle Facetten von Guillaume Apollinaire (1880-1918) und Francis Poulenc (1899-1963). 1. Chanson d’Orkenise nimmt den Stil eines populären Chanson an: Einfacher und diatonischer Modus, harmonische Pedale, kurzes Ritornell des ornamentierten Klaviers, das das Stück wie ein Chanson in Couplets ordnet. Feine Atmosphären-Malerei, 2. Hôtel breitet sich „sehr langsam und faul“ auf den regelmäßigen phlegmatischen Akkorden des Klaviers aus. Kurze Melismen der Stimme malen den Aufruhr der 3. Fagnes de Wallonie, diese Torf- und Windsümpfe der Ardennen. „Das Leben beißt sich dort durch den Tod!“ schreibt der Dichter, von dem Poulenc einen anfänglich sehr aufgeladenen Teil dekantiert hat und bleibt so heftig wie eine Reihe von donnernden und wilden Böen. Eine Walzer-Musette begleitet die 4. Voyage à Paris, deren „Pappflöten-Musik herrlich und idiotisch ist“, aber eine grausame Realität verbergen. In dieser mit viel Geplänkel vermischten Sentimentalität stellt sich Pierre Bernac (1899-1979) seinen Worten zufolge die Stimme von Maurice Chevalier (1888-1972) vor. Die Septimen Schritte und das Wiegen des Klaviers, ausdrucksstarkes falsetto der Stimme machen diese Notenseite unwiderstehlich und ergreifend, eine der berühmtesten ihres Autors, typisch für diese „Chanson der Kriegszeit“ mit doppeltem Boden. Zwei Gedichte verflechten ihre Verse in 5. Sanglots, eines surreal bestehend aus starken und kontrastierenden Bildern, das andere eher sentimental. Poulenc folgt den Labyrinthen von Apollinaire, indem er die zweite Versreihe mit offenen oder plötzlichen starken Modulationen markiert, während die Motiv-Landschaft dieselbe bleibt. Trotz seiner deklamatorischen Tempos, seines wechselnden Rhythmus und seiner Harmonien bleibt es ein geschlossenes Universum, umgeben von zwei tonischen Pedalreihen: Wie eine Gefängniszelle, deren Insassen gegensätzlichen Gedanken ausgeliefert sind: Abwechselnd poetisch oder rational!
Les oignons, Sept Mélodies pour baryton et piano (2012) von Annick Chartreux (*1942) nach Gedichten von Georges Mogin alias Norge (1898-1990): 1. La nature… 2. L’attende… 3. La traveil… 4. Louïe… 5. Les pensées du bœuf… 6. Une question… 7. Les pensées interdites… Die Komponistin hatte immer großes Interesse an der Vertonung von Texten gezeigt, die sie als „Coup de coeur“ auswählte aus allen Epochen der Weltliteratur von Matsuo Bashô (1644-1694), japanischer Dichter des 17. Jahrhunderts bis Norge, belgischer surrealistischer Dichter über Catherine Pozzi (1882-1934). Auch Louise Labé (etwa 1524-1566), Rimbaud, oder Adonis‘ (*1930) Poème de l’amour et de la mort (1957) und Philippe Forget (1953-2021), um nur einige zu nennen. Diese Gedichte werden dann zu Melodien-Zyklen oder Melodramen (Ce soir l’ombre joue avec le mur von Nata Minor / 1919-2020) oder gar zu profanen Kantaten (Balladen von François Villon (1431-1463), aber auch für Donnez-moi la mémoire von Gedichten jüdischer Kinder aus dem Lager Theresienstadt und ermordet in Auschwitz. Die Instrumenten-Begleitung einiger dieser Werke werden sehr selten verwendet (Drei Hörner und Schlagzeug für Ballade von Villon) oder auch noch nie niemals verwendet wie z.B. für Au loin la lune et les fumées pour le thé, Haikus von Bashô für Koto, Ondes Martenot und Streichorchester (2014).
Der belgische Violinist Mathieu Crickboom (1871-1947) hat auch mehrere Werke für Gesang von großem Interesse hinterlassen, darunter unter anderem die Dix Mélodies pour chant et piano, Op. 12, komponiert zwischen 1908 bis 1916. Folgende Auzüge werden interpretiert: 1. Les deux cortèges (1911 / Joséphin Soulary / 1815-1891). 2. Solitude (1908 / Victor Orban / 1868-1946). 3. Crépescule (1908 / Orban). 5. Là-bas (1916 / Jacques Madeleine / 1859-1941). 10. Les Grotesques (1916 / Verlaine). Crickbooms große Aktivitäten als Kammermusiker, Solist, Dirigent und Pädagoge überwiegen naturgemäß seine Tätigkeit als Komponist, dennoch schrieb er einige Werke, die aus stilistischer Sicht von César Franck (1822-1890) beeinflusst sind und auch in seinem Umfeld für die technischen Möglichkeiten der Violine in den Mittelpunkt stellen.
Gesangs-Rezital - 28. November 2022 - Théâtre Athénée Paris
Abschied von der Romantik…
Von Fauré melancholisch introspektiv bis Poulenc im „Punch-Stil“ sollte die ganze Bandbreite der musikalischen Klimazonen ausgebreitet werden, aber das Rezital hinterlässt doch ein gemischtes Gefühl. Der Sänger Laurent Naouri zeigte teilweise Unzulänglichkeiten in seinem Vortrag, wohl naturbedingt an seinem altersgemäß leicht verbrauchten Instrument. Die Stimme straffte und verengte sich in den Höhen und die Interpretation wurde leicht ungenau sobald er kräftig sang. Der Ton verhärtete sich unangenehm! Der französische Bariton-Bass identifizierte dennoch das emotionale Klima jeder einzelnen Melodie und gab ihnen die nötigen Kontraste und Farben z. B. in Banalités von Poulenc.
Seine Kunst des Erzählers: Theatralisch, einprägsam und äußerst naturell verleiht dem Zyklus Cinq Mélodies de Venise von Fauré die ganze nötige expressive Deutung und auch die teilweise nötige angemerkte Härte in der vagen Unbestimmtheit dieser Melodien. Seine Diktion ist klar und seine Inspiration ist überwiegend gut gelungen: Sie verbirgt einen gewissen Charme! Die Stärke der Darbietung lag vor allem in dem theatralischen Aspekt, den der Sänger diesen Melodien einbrachte. Wechselnd zwischen ernsten und leichteren Themen kommt die schauspielerische Leistung wunderbar zum Ausdruck: Besonders in Histoires naturelles von Ravel.
Naouri bleibt z. B. bei Chat 1 und Chat 2 von Sauguet extrem statisch, entwickelt aber seine Gesten auf lebhaftere Melodien aus. Er fügt auch viel Dramatik und einen lyrischen Blick auf leichtere Themen ein. Er geht sogar so weit, zu Beginn des zweiten Teils die Bedeutung der Musik zu erklären und zu unterstreichen. Umso eindringlicher ist diese Interpretation! Eine bewundernswerte Gesangslinie, die eine zurückhaltende Emotion transportiert in den Melodien Les Oignons der Komponistin Chartreux, die gerade ihren 80. Geburtstag gefeiert hat. Und diese Bewunderung wird niemals wanken im Laufe der Interpretation! Eine besondere Erwähnung sollte für den vom Sänger wiederentdeckten Melodien-Zyklus Dix Mélodies des belgischen Komponisten Crickboom sein. Sehr zurückhaltende Interpretation für diese melancholischen Melodien! Hier übertrifft sich der Sänger vielleicht: Wir sehen dieses Drama vor uns, sein Timbre ist voll intakt, die volle Rundheit und der ebenso nötige Schutz für seine Stimme. Auch diese wunderbaren Pianissimo des Bariton-Bass dienen dieser anspruchsvollen Musik eusgezeichnet! Naouri lebt praktisch diese Texte sehr intensiv und er liefert sie uns mit Bescheidenheit und Distinktion. Was für ein toller Sänger trotzt allem!
Der polnisch-französische Pianist Maciej Pikulski schien trotz allem am Ende der eloquenteste zu sein. Sein wunderbar flüssiges Spiel bedient die französische Melodie mit einer vollendeten Kunst ohne Gleichen: Nuancen… Farben… Klima… Er war viel mehr als ein „anonymer“ Gesangsbegleiter! (PMP/01.12.2022)
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