Paris, Théâtre de l'Athénée, DIE SCHÖNE MAGELONE, Liederzyklus - Johannes Brahms, IOCO Kritik, 09.03.2023
LES LUNDIS MUSICAUX - DIE SCHÖNE MAGELONE, Op. 33 (1865) - Johannes Brahms
Liederzyklus nach dem Roman: Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence (1797) von Ludwig Tieck
von Peter Michael Peters
EINE LOVE-STORY AUS LÄNGST VERGANGENEN ZEITEN Alle meine Wünsche flogen In der Lüfte blauen Raum, Ruhm schien mir ein Morgentraum, Nur ein Klang der Meereswogen. (4. Liebe kam aus fernen Landen / Auszug)
Eine uralte Geschichte wird zu einem romantischen imperativen Kontext…
Der Roman ist ein achtzehnteiliger deutscher Text in abwechselnder Prosa und Versform, mit Texten und einem Gedicht pro Abschnitt von Ludwig Tieck (1773-1853).
Er wurde 1797 veröffentlicht und erzählt eine anonyme okzitanische Geschichte, die mindestens bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht. Der Graf Peter von der Provence verlässt sein Schloss auf der Suche nach der angeblich wunderschönen Magelone, die Tochter des Königs von Neapel. Er findet sie, sie verlieben sich und fliehen! Aber die beiden werden durch ein Unglück getrennt und Peter verliebt sich inzwischen in eine muslimische Frau, Sulima. Aber nach langen Irrfahrten sind Peter und Magelone schließlich wieder vereint und leben glücklich bis an das Ende ihrer Tage...
Die Legende wurde 1453 in französischer Sprache mit dem Titel Pierre de Provence et la belle Maguelone und 1535 in deutscher Sprache gedruckt unter dem Titel Die Schön‘ Magelone. Die Quelle resultiert aus einer Übersetzung von Veit Warbeck (1490-1534) aus dem Jahr 1527, die nach dem Tod von Warbeck als populäres Volksbuch herausgegeben wurde.
Tiecks Erzählung erschien in einer dreibändigen Sammlung von Erzählungen und Dramen: Peter Lebrecht: Eine Geschichte aus vergangener Zeit (1803). Um 1811 arbeitete Tieck an einem Drama, das auf dieser gleichen Erzählung basierte, aber er vollendete nur einen kurzen Prolog in Versen. Später erschien dann Die schöne Magelone in seinen Märchen aus dem „Phantasus“ (1845). Darüber hinaus wurden sechzehn der achtzehn Gedichte separat als Lyric-Zyklus in Des Jünglings Liebe (1831) veröffentlicht.
Zwischen 1861 und 1869 vertonte Johannes Brahms (1833-1897) fünfzehn von Tiecks achtzehn Gedichten und vertonte sie für Gesang mit Klavierbegleitung. Diese wurden 1865 und 1869 als Opus 33 des Komponisten in fünf Bänden zu je drei Liedern veröffentlicht: Romanzen aus Ludwig Tiecks „Magelone“ für eine Singstimme mit Hammerklavier.
Zurück zum frühen Mittelalter…
Der erste Brahms-Zyklus von fünfzehn Liedern, gewidmet Julius Stockhausen (1826-1906), dem berühmten Bariton, Schüler von Manuel Garcia Junior (1805-1906), Mitglied des Brahms / Joseph Joachim (1831-1907) / Clara Schumann-Wieck (1819-1896)-Kreis, der 1862 zum Leiter der Philharmonischen Gesellschaft Hamburg ernannt worden war, zum großen Unmut von Brahms, der auch als Kandidat für diesen Posten vorgesehen war. Er komponiert in Hamburg für die ersten sechs Lieder (interpretiert von Stockhausen und dem Komponisten), in Wien für die anderen neun Lieder.
Von den Geschichten von Walter Scott (1771-1832) bis zu den historischen Werken von Augustin Thierry (1795-1856), den Restaurierungen von Eugène Viollet-le-Duc (1814-1879) bis zur Errichtung von Schloss Neuschwanstein (1869/1884) von Eduard Riedel (1813-1885), Georg von Dollmann (1830-1895) und Julius Hofmann (1840-1896), den Opern Euryanthe (1823) von Carl Maria von Weber (1786-1826) bis Genoveva (1850) von Robert Schumann (1810-1856) und Lohengrin (1850) von Richard Wagner (1813-1883):
Ganz Europa ist in eine wahnsinnige mittelalterliche Mode verfallen!
Für den leidenschaftlichen Leser von Ritter-Romanen, der Brahms in der Jugend gewesen war, ist Magelone unweigerlich sein großes mittelalterliches Werk, seine einzige nie geschriebene Oper: Eine „Lieder-Oper“! In seiner frühesten Kindheit hatte Brahms eine besondere leidenschaftliche Beziehung für eine sehr alte Version, veröffentlicht in einem Volksbuch, dessen Wurzeln in einem französischen Gedicht aus dem 13. Jahrhundert von Bernard de Trèves (1406-1490), „Kanoniker de Maguelonne“ in einem damaligen sehr berühmten Bistum, zu finden war. Wie bei Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/1796), Tieck fügt in seinem Prosa-Roman siebzehn Romanzen in Versen ein, indem er auch die günstigeren Ritter- und Liebesgeschichten favorisiert als die mittelalterlich Scholastik. Aus diesen Momenten einer Meditation leitet Brahms seine fünfzehn Romanzen ab, deren Worte nicht im französischen Sinne zu verstehen sind, sondern in der germanischen Akzeptanz der erzählenden Balladen. Wie sie Schumann in seinen Sammlungen von Romanzen und Balladen (1849) veranschaulicht, oder auch Carl Loewe (1796-1869) in seinen vielzählenden Balladen-Suiten. Auch versucht Brahms keineswegs die Kunst der Troubadoure mit ihren cansos (Liebeslieder) oder ihren sirventès (Gesänge von Kreuzzügen, Politik, usw.) wieder herzustellen, im Gegenteil es ist in der Tat das Nordische, das in dieser südlichen Saga zum Ausdruck kommt: Die von Languedoc bis nach Neapel und sogar über Babylon führt! Um der Handlung zu folgen, ist die Kenntnis von Tiecks Roman nicht überflüssig und bei einem Konzert ist es unbedingt wünschenswert, die Lieder mit dem Text zu verflechten, der sich wie ein Recitativ um eine Opernarie windet. Die Ausführungs-Schwierigkeit sind noch durch die Anwesenheit von vier poetischen Charakteren erhöht, die mindestens zwei Stimmen erfordern: Eine männliche und eine weibliche! Da zusätzlich zu den zwölf gesungenen Romanzen des Helden Graf Peter von der Provence, Ritter und Troubadour, die erste einem anonymen Troubadour anvertraut wird, die elfte an Magelone und die dreizehnte an Sulima.
Der Zyklus ist in gewisser Sicht sehr logisch aufgebaut: Sehr lang, kraftvoll, episch und vereint mit stark typisierten Liedern, die eine einzigartige Struktur besitzen und jeweils an ihre eigene Erzählung angepasst sind. Hier schließt sich Brahms an Franz Liszt (1811-1886) an! Vom strophischen Ausschnitt bis zur großen Balladen-Rhapsodie in mehreren kontrastierenden Abschnitten, die schon seine Rhapsodien für Klavier ankündigen. Von seltener Schönheit und Intensität gehen die Gesangspartien von Sanftheit zur Erdigkeit, von heftiger Verzweiflung zu Kontemplation über. Was das Klavier betrifft, so ist es weit davon entfernt sich mit ungeheuerlichen Akkorden zu begnügen wie z.B.: Die Laute von Peter zu imitieren! Im Gegenteil setzt es eine Textur ein, die so reichhaltig wie ein Wagner-Orchester ist: Das nicht nur den Text erklärt, sondern auch die gesamte Handlung andeuten wird, die sich zwischen jeder Romanze entfaltet. So viele musikalische Pracht hat vielleicht auch einen großen Mangel, den Zuhörer noch über seine Aufmerksamkeitsspanne hinaus anzusprechen. Dies ist zweifellos der Grund, warum dieses großartige Werk – Hugo Wolf (1860-1903) war einer der wenigen Bewunderer – als Fehlschlag bezeichnet wurde, obwohl es ein wahres Reservoir melodischer und rhythmischer Erfindungen ist. Was vielleicht an dieser schweren bernsteinfarbigen Prachtkette aus nordischen Balladen fehlt, ist der fließende Rhythmus von Die schöne Müllerin, D. 795 (1823) von Franz Schubert (1797-1828) oder die aphoristische Mehrdeutigkeit der Dichterliebe, Op. 48 (1840) von Schumann. Jedoch die Üppigkeit des Zyklus führt gewissermaßen zu einem Explosionsgrad des Liedes: Unweigerlich zum symphonischen Lied von Gustav Mahler (1860-1911) und Arnold Schönberg (1874-1951).
Johannes Brahms: DIE SCHÖNE MAGELONE - 15 Romanzen nach Gedichten von Ludwig Tieck
- Keinen hat es noch gereut
- Traun! Bogen und Pfeil
- Sind es Schmerzen, sind es Freuden
- Liebe kam aus fernen Landen
- So willst du den Armen?
- Wie soll ich die Freude
- War es dir, dem diese Lippen bebten
- Wir müssen uns trennen
- Ruhe, Süßliebchen, im Schatten
- Verzweiflung
- Wie schnell verschwindet
- Muß es eine Trennung geben
- Geliebter, wo zaudert
- Wie froh und frisch mein Sinn sich hebt
- Treue Liebe dauert lang
Liederabend - 6. März 2023 - Théâtre de l’Athénée, Paris - im Rahmen des Zyklus
LES LUNDIS MUSICAUX…
Der vielleicht berühmteste und charismatischste französische Bariton unserer Zeit wagt sich für diese von einer mittelalterlichen Legende inspirierten Liederreihe in das Brahms-Repertoire vor. Die Romanzen der schönen Magelone erzählt die Abenteuer des Grafen Peter von der Provence, der sich in Neapel in die Königstochter verliebt und mit ihr flieht. Um keine Details dieses romantischen Liebes-Freskos zu verlieren, umgibt sich Stéphane Degout mit seinem bevorzugten französischen Pianisten Alain Planés, der französischen Mezzo-Sopranistin Marielou Jacquard, aber auch mit dem französischen Schauspieler Roger Germser, der das Werk von Brahms vervollständigt, indem er Auszüge vorliest, die nach einem anonymen Original-Manuskript aus Coburg (1453) von Elisabeth Germser in ein modernes Französisch erstellt wurden.
Das Werk könnte vielleicht auch von einem Interpreten gesungen werden. Hier aber wechseln der Bariton und die Mezzo-Sopranistin ihre Lieder ab, um jeweils Peter oder Magelone zu verkörpern, bis zu ihrer Wiedervereinigung im letzten Stück: Das somit zu einem Duett wird. Es ist die Mezzo-Sopranistin, die mit einer Stimme von bescheidenem Volumen beginnt, aber jedoch von einem wunderschönen seidigen Legato begleitet wird und sich gleichzeitig auf die vielen Konsonanten der deutschen Sprache stützt, ohne jedoch die Linie zu erzwingen. Der Gesang ist flüssig, voller Emotionen mit trägen Passagen in der Bruststimme auf den tiefen Tönen. Die Höhen sind prägnant und funkelnd! Die Partitur bietet ihr auch die Möglichkeit zwei Charaktere zu spielen: Magelone und Sulima, die Tochter des Sultans von Ägypten. Was sie auch brillant ausführt!
Stéphane Degout leiht dem Grafen Peter von der Provence seine Stimme: Einem festen Character, der sowohl sentimental als auch unerschrocken sein kann. Es ist bemerkenswert, wie seine Interpretation die Register variiert zwischen dem intimen Gesang oder dem introspektiven Lied mit zurückhaltenden Gefühlen in einer tiefen Stimme oder auch in heroischeren fast opernhaften Szenen: Die mit Phrasen in donnernden fortissimo gipfeln. An diesem Abend mobilisiert er seine Bass-Bariton- Stimme mit tiefer und samtiger Schwärze, aber auch seine tiefen Höhen, die in den Nebenhöhlen gedämpft sind und gesäumt von strahlenden Obertönen. Er macht den Eindruck eines Interpreten, der auf der absoluten Höhe seiner stimmlichen Mittel ist und auch dem wichtigen Text äußerst viel aufmerksam schenkt.
Im Hintergrund bildet das Klavier von Alain Planès die Kulisse für diese ritterliche und mittelalterliche Liebesgeschichte. Es zeigt die Wut der aufschäumenden Wellen, ahmt die Akzente einer Laute oder den Galopp eines Pferdes nach. Mit einem lebhaften Spiel färbt er die Gefühle, erweckt die Personen zum Leben und unterstreicht ihre Charaktere. Der Pianist beweist ein akribisches Zuhören und begleitet seine Interpreten in jeder kleinsten Nuance.
Das Konzert wird mit einer Art von Szenographie gegeben: Zwei Tische auf beiden Seiten der Bühne, an denen der Geschichten-Erzähler und die beiden Sänger zwischen ihren Interventionen sitzen werden. Die von Roger Germser entwickelte Beleuchtung verblasst fast unmerklich, als das Unglück die beiden Liebenden trifft. Aber sie kommen für das letzte Wiedersehen zurück!
Um dem Publikum für seinen großen Applaus zu danken, bieten die beiden sympathischen Sänger als Zugabe ein weiteres Stück von Brahms und zwar ein Duett: Die Nonne und der Ritter, Op. 28, Nr.1 (1860) nach einem Gedicht von Joseph von Eichendorff (1788-1857) aus 4 Duette, Op. 28 (1860/62), was in stiller Andacht sehr intensiv vorgetragen wurde und das dazu mit einer sehr gedämpften wunderschönen Tiefe der Mezzo-Sopranistin endete. (MPM/07.03.2023)