Paris, Théâtre de l'Athénée, Deutsche - Französische Lieder zu Seelen-Landschaften, IOCO Kritik, 06.02.2023
Deutsche und Französische Lieder - Reisen durch Seelen-Landschaften
- Sandrine Piau, Sopran, David Kadouch, Klavier -
von Peter Michael Peters
VOYAGE INTIME…
In einer intimen Reise werden wir den beiden französischen Künstlern Sandrine Piau und David Kadouch folgen: Im ersten Teil ist es eine romantische innere Reise durch die deutsche tiefgründige Seelen-Landschaft. Der zweite Teil ist grundsätzlich die gleiche romantische Reise, dasselbe Thema, aber mit einer weniger düsteren, mehr auflockernden französischen Seelen-Verwandtschaft.
- Lied der Mignon I
- Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,
- Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht,
- Ich möchte dir mein ganzes Innere zeigen.
- Allein das Schicksal will es nicht. (Schubert / Goethe - Auszug)
TONARTEN EINER REISE I: Das Versprechen neuer Horizonte, neuer Begegnungen, Reisen in all ihren Formen war der rote Faden dieses Lieder-Abends. Es ist die Reise zwischen Welten, zwischen vergangenen oder bereuten Freuden, zwischen den Toten und den Trauerfällen… Für den Beginn einer romantischen inneren Seelenreise ist wohl kein anderer Komponist besser geeignet als Franz Schubert (1797-1828). Wie für den Zyklus Gesänge des Harfners aus Wilhelm Meister, D 478, Op. 12 (1822), behandelt der Komponist nur einmal eines von den Gedichten der Mignon „Kennst du das Land“, D 321 (*) im Jahre 1815, um dann viele Jahre später daran weiter zu arbeiten und das auch im Zusammenhang mit drei anderen Gedichten von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) um einen Zyklus zu komponieren. Aber dieser wird erst elf Jahre später abgeschlossen sein und nach beträchtlicher Arbeit werden bestimmte Texte mehrere Version haben. Das Lied „So lasst mich scheinen“, Op. 62/3 (1826) (*) aus Vier Gesänge aus Wilhelm Meister, D 877 (1826) wurde schon 1816 wieder Arbeit genommen (Mignon II, D 469), aber von diesen frühen Werken sind nur noch zwei unvollständige Skizzen erhalten. 1821 kehrt Schubert gleichzeitig mit dem vorhergehenden Lied (Mignon II, D 727) (*) darauf zurück. Wohl bekannt sind sicherlich die fast nie erfüllten Sehnsuchts-Reisen der deutschen Romantiker für Italien. Aber schon der Geheimrat von Goethe war in das Land wo die Zitronen blühen sehr verliebt und wir kennen alle seinen Ausspruch „Rom sehen und sterben“! Aber natürlich war Goethe auch sehr empfänglich für düstere Albtraum-Reisen: Sein wilder nächtlicher galoppierender Traum durch dunkle Wälder mit einem Vater und seinem Kind und einer mehr als angsterfüllenden und aufwühlenden Musik von Schubert bringt uns auch heute noch stark zum Schaudern: Erlkönig, D 328 (1815) (*) . In einer explosiven Hochstimmung komponiert: „Plötzlich setzte er sich hin und im Handumdrehen, so schnell man schreiben kann, war die grandiose Ballade auf dem Papier“. Zweifellos eine verschönerte Erinnerung, jedoch mehr als eine Reflexion einer kreativen Dringlichkeit. Hier verabschieden wir uns von dem großen Dichter, bleiben aber noch für eine weitere Reise an der Seite von Schubert. Mit dem neuen Weggefährten Matthias Claudius (1740-1815) begeben wir uns auf eine letzte ungewollte Reise ohne Widerkehr: Der Tod und das Mädchen, D 531 (1817) (*) ist eines der bekanntesten Lieder von Schubert und ist auch von einer besonderen und beeindruckenden Einfachheit. Wir kennen wohl alle den Grund: Das junge Mädchen stößt dieses liebeshungrige Wesen von sich ab, das sie aber im Grunde doch anzieht! Desgleichen der Tod, der mit viel Ernst und Sanftheit darauf besteht, das sie sich als seine Freundin in die Arme schließen lässt und somit wird auch ihr endgültig der erwünschte Frieden gegeben werden. Eine naive volkstümliche Einfachheit, die jedoch äußerst rührend ist und sehr zu Herzen geht!
Ein anderer großer Lieder-Komponist war Franz Liszt (1811-1886), dazu mit einem langen produktiven Lebensalter gesegnet, aber im Gegensatz zu Schubert, unternahm er viele große Reisen in seinem wirklichen Leben und weniger in sehnsüchtigen Traumvisionen. Hier erzählt er mit seinem Mitreisenden Friedrich von Schiller (1759-1805) die traurige Geschichte eines von Träumen verlorenem Kind, das in die wässerigen Untiefen gezogen wird: Der Fischerknabe (1859) (*). Eine fließende, melodische und einfallsreiche Barcarole mehr und mehr musikalisch verziert, um dann plötzlich von einem bösen Zauber überschattet (gleiche Atmosphäre wie im Erlkönigs oder in der Lorelei / 1841) wird: „Liebes Kind, sei mein! Ich ziehe den Schläfer an! Ich ziehe ihn herunter in die Tiefen!“ flüstert die eiskalte Sirene.
'Voyage intime' von Sandrine Piau & David Kadouch youtube Alpha Classics [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Clara Schumann-Wieck (1819-1896) war nicht nur eine Sonntags-Komponistin, wie es viele frauenfeindliche Musik-Wissenschaftler lange wissen wollten. Aber ganz im Gegenteil es war eine großartige Ausnahme-Pianistin und auch eine äußerst inspirierte Komponistin. So laden wir sie also auf unserer Seelenwanderung mit dem großen Heinrich Heine ( 1797-1856) zusammen ein. Sie liebten sich beide, Nr. 2 (1841) (*) aus Sechs Lieder, Op. 13 (1844), versammelt Lieder von 1840 bis 1844. Immer in sensiblen musikalischen Voluten gewölbt beginnt der Zyklus mit zwei Gedichten von Heine, die Robert zu Weihnachten 1840 in einem einzigen Guss von Clara angeboten wurden. Zu Lied Nr. 1 & 2 notiert Robert Schumann ( 1810-1856) am 28. Juni 1942: „Sie hat zu meinem Geburtstag zwei Lieder komponiert, die die vollkommensten sind die sie bisher geschrieben hat.“ Das Lied Lorelei (1843) (*), eine phantastische Geschichte einer singenden Sirene, die alle Seeleute in die Tiefe des Rheins lockt, ist wohl das meist vertonte Gedicht aller Zeiten, denn viele Komponisten wurden von der bösen Nixe musikalisch verlockt. Ein melancholischen Scherzo Nr. 2 für Klavier (1841) (*) beendet diese Reise-Sequenz.
Die letzte Fahrt bringt zwei seelenverwandte Reisende zusammen: Hugo Wolf (1860-1903) und Eduard Möricke (18O4-1875). Drei Lieder: Auf ein altes Bild, M 23 (*); Begegnung, M 8 (*) und Verborgenheit, M 12 (*) aus 53 Gedichten von Möhricke (1888/1892) werden zum Abschluss der ersten Reise von unseren Künstlern interpretiert. Zweifellos „das feinste lyrische Temperament seit Goethe“, so beschrieben von Fernand Mossé (1892-1956) und seit Ende der 1830er Jahre als solcher auch in seinem eigenen Land anerkannt, doch führte dieser schwäbische Pfarrer Möricke ein fast zurückgezogenes Dasein, im auffälligen Gegensatz zu seinem phantasievollen inneren Leben. Auch Wolf erkannte sofort diese authentische Psyche eines Enzyklopädist und eines überaus großen Dichtertalents. Als heidnischer Mystiker glaubt dieser Pastor ebenso an Gott wie an Kobolde, Dämonen und Gespenster! Wolf eignet sich einen Dichter an, dessen Sensibilität ganz unmittelbar mit der seinen in Resonanz trat: Mehr als jeden anderen umarmte er Möricke als „seinen“ Dichter, der mit gleicher Freude Wirklichkeit und Traum, Natürliches und Phantastisches kreierte.
- La mort des Amants
- Nous aurons des lits pleins d’odeurs légères,
- Des divans profonds comme des tombeaux,
- Et d’étranges fleurs sur des étagères,
- Ecloses pour nous sous des cieux plus beaux. (Debussy / Baudelaire – Auszug)
TONARTEN EINER REISE II: Von der Suche nach einem phantasievollen, aber unzugänglichen Ort bis hin zum endgültigen Übergang zum Tod zeichnet wir die Landkarte unserer Sehnsüchte, unserer Hindernisse, aber auch der schönen Auswege, die uns das Leben bietet… Nach unserer erfrischenden Pause wechseln wir mit unserer Reise in das nächste Jahrhundert! Wir folgen Henri Duparc (1848-1933) und Charles Baudelaire (1821-1867) auf ihren sehnsüchtigen und liebestollen Wegen. Hier zwei seiner vielgerühmten und weltbekannten Melodien: L’invitation au voyage (1870/71) (*) und La vie antérieure (1876) (*). Komponiert während der Belagerung von Paris, orchestriert um 1892, wird diese wunderbare „Einladung“ auf Wunsch des Dichters (Les Fleurs du mal / 1857) der „geliebten Frau“, in diesem Fall ist es der jungen zukünftigen Madame Duparc gewidmet, der Sängerin und Pianistin Ellie Mac Swiney (1845-1934). Von den drei Strophen mit Refrain behält sich Duparc nur die beiden impressionistischsten, die von „nassen Sonnen“, „verschwommenen Himmeln“ und „untergehenden Horizonten“ im „hyazinthen-goldenen“ Licht einer holländischen Landschaft, die so eindrucksvoll für den äußerst talentierten Aquarellmaler war. Für La Vie antérieure (Spleen et Idéal /1857), eine „Art gesungenes Gedicht“, orchestriert vor 1894 und nicht ohne Schwierigkeiten in 1911 revidiert, gewidmet an Guy Ropartz (1864-1955). Die Zerstörung von Recueillement (etwa 1885) macht dieses Meisterwerk umso mehr zu einem authentischen melodischen Testament von Duparc, denn der Komponist erwähnt, dass er Skizzen seiner zukünftigen Oper La Roussalka (1870) teilweise verwendet hat, die aber auch ebenfalls zerstört wurde.
Die zweite Etappe unserer Reise ist in Begleitung der sehr talentierten Lili Boulanger (1893-1918), die leider viel zu früh diese Welt verlassen hat. Sie komponierte den Zyklus Clairiéres dans le ciel (1913/14) nach Gedichten von Francis Jammes (1868-1938). 6. Si tout ceci n‘est qu’un pauvre rêve (*) und 8 . Vous m’avez regardé de tout votre âme (*). Ende 1913 war Boulanger sehr begeistert von Tristesse (1905) von Jammes, aus der sie dreizehn Gedichte auswählte und den allzu düsteren Gesamttitel durch den oben genannten Titel aus der Sammlung des Dichters ersetzte. Trotz des leuchtenden Titels, unterstreicht Jacques Chailley (1910-1999), stellt dieser Zyklus wie Frauenliebe und Leben (1840) von Schumann, eine dramatische Reise von der jubilierende Freude bis zur tiefsten Verzweiflung dar. Zum Abschied Cortège, Sonate für Klavier (1914) (*) von der inspirierten Komponistin.
Claude Debussy (1862-1918) komponierte den Zyklus Cinq Poèmes de Baudelaire (1887-1889) mit Auszügen aus Les Fleurs du mal, Nouvelles Fleurs du mal (1866) und Les Épaves (1866). Die Wahl des Dichters, einer der ersten großen Verteidiger von Richard Wagner (1813-1883) in Frankreich und die Widmung an Léon Dupin (1872-1931) trugen dazu bei, den damals als sehr unerwünschten Charakter der Musik des Bayreuther Komponisten zu bestätigen. Le Jet d’eau (*), Recueilement (*) und La Mort des amants (*), drei Melodien die einwandfrei mit der Tristan-Atmosphäre die tiefe Zuneigung von Debussy zu Wagner in diesen Jahren bestätigen.
Als krönender Abschluss eine letzte Melodie von dem weitgereisten „französischen“ Liszt. Mit acht Melodien ist der romantische Löwe zusammen mit Goethe die beste Inspirations-Quelle für den Komponisten, der mit großer Sorgfalt darauf achtete, die verbale Metrik seiner Gedichte zu respektieren. „Zwei Jungfrauen: Poesie und Musik: Zwei Schwestern, sie machen uns einen unendlichen Gedanken von Anmut und Zartheit…“, schrieb Victor Hugo (1802-1885). Comment disaient-ils (1842) (*), ein bündiges und bereits ein „musikalisches“ Gedicht, das ursprünglich den evokativen Titel Autre guitare (1840) hatte, daher die quasi Chitarra-Angaben in der zweiten Version. Der Wunsch, zu dieser so exquisiten Anmut etwas hinzuzufügen, ermutigte Liszt in beiden Versionen, den weiblichen Rat in feiner Form zu wiederholen: „Fühlen, schlafen, lieben“ und zum Schluss auch unendlich verwöhnt zu werden“. Erklärung: (*) Von den Künstlern interpretierte Werke an diesem Abend!
Lieder- und Melodien-Abend - 30. Januar 2023 - Théâtre de l’Athénée Paris
Im Rahmen Les Lundis Musicaux, die den musikalischen Reisen in all seinen inneren und äußeren Formen gewidmet war, fanden sich die Sopranistin Sandrine Prau und der Pianist David Kadouch für einen Lieder– und Melodien-Abend zusammen.
Aus einigen wenigen Worten, die nach den ersten interpretierten Stücken von Schubert vom Pianisten gesprochen wurden, kündigte er gewissermaßen die Farben des Abends an. Die Idee zu diesem Programm entstand, als jede Reisen dringend abgeraten oder auch sogar unmöglich wurde. Wir denken aber, wenn ein Künstler, ein Musiker sich erst durch Covid an (s)ein Inneres erinnert oder besinnt, ist das eher ein großes Armutszeugnis und nicht ein geniales künstlerisches inspiriertes Innenleben. Aber das steht auf einem anderen Blatt!
Die Detailarbeit, sowohl die intensive Suche als auch Auswahl für die Programmgestaltung dieses Abend resultiert eindeutig aus einer gemeinsamen Liebe für die Literatur. David hatte bereits Gelegenheit gehabt, dies auszudrücken, insbesondere während seiner thematischen Arbeit über die Person der Madame Bovary (1856) von Gustave Flaubert (1821-1880). Sandrine zeigt die gleiche Affektion für Worte, Zeilen und der Schreibfeder, man lese nur ihre geschriebenen Seiten über verinnerlichte Reisen…
Aber von einem Übergang in den Tod zu sprechen, könnte jedoch leicht unangemessen erscheinen, da die Sängerin scheinbar nicht von der Zeit beeinflusst wurde und immer noch die volle Kontrolle über ihr kostbares Instrument behalten hat. Die Länge des Atems ist immer noch signifikant und das gehaltene Vibrato wird bei bestimmten langen Tönen in den extremen Höhen sehr üppig, ohne jedoch jemals Maßlos zu werden. Der Rhythmus ist immer vorhanden, die Vokale sind klar und die Aussprache der deutschen Sprache ist mehr als gut.
Mit Ausnahme der extremen Tiefen des Ton wird die Projektion sehr betont, aber besonders in den hohen Tönen wird sie äußerst veranschaulicht. Die Technik bleibt agil und die Intensität der Klangfarbe zieht das Publikum sichtlich in ihren Bann. Jenseits dieser rein vokalen Elemente erlaubt ihr das Programm, erzählerische Qualitäten zu zeigen, die über einfache Theatralik hinausgehen. Bemerkenswert ist, dass die Mimik, die Gestik und die Bewegungen der Büste keinen Impakt haben, weder mit dem Atem noch mit dem Klang und die Wiedergabe zahlt daher nie den Preis für diese große Intensität.
Das Klavier von David klingt wie ein buntes Glasfenster, das eine Kirche beleuchtet. Alles ist darauf ausgelegt, mit Sandrine in totaler Symbiose zu stehen: Die Präzision, die leichte und gemeißelte Berührung, das Herz am richtigen Platz um jeder Variation von Intensität und Emotion zu folgen. Wichtig war für sie beide, immer zusammen in völliger Harmonie zu enden! Der Pianist wird an diesem Abend auch zwei Solo geben, das Scherzo Nr. 2 von Schumann-Wieck, sowie Cortège von Boulanger, die er mit einer präzisen Klarheit ohne Sentimentalitäten spielte, um diesen Stücken keine akademische Wiedergabe zugeben.
Da das Publikum die Künstler immer wieder im Laufe des Abends herzlich beklatschte, bedankte sich das Duo schließlich mit zwei Zugaben. Das ultimative Lied war das unbeschreibliche und ergreifende Wiegenlied Wiegala der tschechischen Komponistin und Dichterin Ilse Weber (1903-1944), die als Hilfskrankenschwester im Konzentrationslager Theresienstadt arbeitete und dort den inhaftierten Kindern es jeden Tag vorsang. Bevor diese im Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurden! Diese Darbietung destillierte eine sehr große ergreifende Emotion im völlig stillen atemlosen Théâtre Athénée. Die erste Melodie 3. La Reine de coeur aus dem allzu selten gegebenen Zyklus mit sieben Melodien La Courte Paille, FP 178 (1960) von Francis Poulenc (1899-1963) nach Gedichten von Maurice Carême (1899-1978) wurde freudig vom Publikum begrüßt und applaudiert.
Wir möchten nur eine kleine sehr persönliche Bemerkung vorstellen: Trotz aller Schönheit des Vortrags fehlten in dieser Interpretation der beiden Künstler die verschiedenen unendlichen Tonfarben, die sprichwörtliche Dramatik: Von Lied und Melodie. Das unerklärliche Etwas, die unweigerliche kribbelnde Gänsehaut oder auch der eiskalte Schauer im Rücken! Das ganz große Erlebnis! Wo war es? Ja! Wir wissen leider eine Lied-Interpretation ist etwas Besonderes und die größten Opernsänger der Vergangenheit und Gegenwart sind oft daran gescheitert. Dieses gewisse Etwas, dieser innere Geist, diese Präsenz ist nicht jedem gegeben: Man ist wohl damit geboren! (PMP/05.02.2023)