Paris, Théâtre de l'Athénée, CUPID and DEATH - Chr. Gibbons, M. Locke, IOCO Kritik, 02.12.2021

Paris, Théâtre de l'Athénée, CUPID and DEATH - Chr. Gibbons, M. Locke, IOCO Kritik, 02.12.2021

Théâtre de l'Athénée

Théâtre de l'Athénée, Paris © Wikimedia Commons
Théâtre de l'Athénée, Paris © Wikimedia Commons

CUPID and DEATH -  Christopher Gibbons, Matthew Locke

- Was wäre, wenn die Liebe und der Tod ihre Kräfte vertauschen …? -

von Peter Michael Peters

Die im 16. Jahrhundert in England geborenen „Masken“, oder besser gesagt "masks", hatten die Eigenschaften Musik, Gesang, Theater und eine sehr hochtrabende Dekoration im Dienste einer wichtigen Persönlichkeit zu vermischen, dessen Qualitäten gepriesen wurden. Alles Elemente, die später im musikalischen Barock-Gestus aufblühen werden…

Cupid and Death in fünf Aufzügen ist eines der faszinierendsten Musikdramen des 17. Jahrhunderts und vor allem die einzige mask vor der politischen Restauration, deren Text und Partitur vollständig überliefert sind. Die Texte sind von James Shirley (1596-1666) signiert, einem der renommiertesten Dramatiker dieser politisch unruhigen Zeit für seine vielen dramatischen Werke von der Komödie bis zur Tragödie einschließlich vieler masks bekannt. Die Musik wurde von Christopher Gibbons (1615-1776) und Matthew Locke (1621-1677) geschrieben: Zwei Komponisten, deren farbenfrohe Werke bei Henry Purcell (1659-1695) und seinen Zeitgenossen unbestreitbare Spuren hinterlassen haben.

CUPID and DEATH am Theatre de l´Athenée youtube Theatre de l´Athénée [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Das Libretto von Shirley – inspiriert von den Fabeln des Äsop (620-564 v. J.C.) - erzählt wie die Pfeile von Cupid und Death, die beide im gleichen Gasthaus wohnten, vom Gastwirt ohne ihr Wissen vertauscht wurden: Das Ergebnis ist ein völliges Chaos! Die Natur beobachtet mit Entsetzen, wie die Welt durch eine Reihe grotesker Ereignisse auf den Kopf gestellt wird: Junge Liebende beginnen zu sterben, während sich alte Menschen Hals über Kopf ineinander verlieben und geschworene Feinde küssen sich versöhnlich. Letztlich ist Merkur vom Himmel herabgestiegen, um die natürliche Ordnung wiederherzustellen. Er bestraft Cupid und Death und führt die Natur ins Paradies, wo die ermordeten Liebenden nun in Harmonie leben.

Die Intrige entwickelt sich durch einen gesprochenen, mit Tanz und Musik verbunden Dialog. Obwohl in der Tradition der masks verwurzelt, ist Cupid and Death dramatischer als die masks vor der Gründung des Commonwealth. Es behält jedoch ein breites Ausdrucks-Spektrum von komischen Dialogen bis hin zu grotesken Tänzen, über tragische Rezitative, leichten Liedern und besinnlichen Chören bis hin zum feierlichen Abschlussgesang. All dies neigt dazu, Cupid and Death als eine perfekte Präfiguration dieser hybriden und inhärent englischen Form der „dramatick opera“ zu machen. In diesem vereinen sich masks, Text und Musik, bildende Kunst und Tanz, um eine universelle Geschichte von Liebe-und-Tod in einer auf den Kopf gestellten Welt zu erzählen.

Theatre de l´Athenee / CUPID and Death © Alban Van Wassenhove
Theatre de l´Athenee / CUPID and Death © Alban Van Wassenhove

Diese mask fasziniert über ihr dramatisch geniales Libretto und ihre resolut innovative Musik hinaus durch mehrere Aspekte. Erstens, seine Entstehung in einem bestimmten politischen Kontext: Es wird erstmals 1653 präsentiert, als der portugiesische Botschafter in London weilte, um mit Oliver Cromwell (1599-1658) den Frieden zu verhandeln. Die Produktion wurde 1659 auf dem Militärgelände von Leicester Fields wieder aufgenommen. Das puritanische Theaterverbot während des Commonwealth und des Protektorats war daher nicht absolut, denn nicht einmal für das Werk eines Dramatikers, der im Bürgerkrieg den Royalisten diente und bekanntermaßen Sympathien für die Katholiken hatte. Neben dem politisch-faszinierenden Hintergrund von Cupid and Death, sprechen auch seine reichen Quellen und historischen Wurzeln unsere Fantasie überaus reich an. Das Libretto von Shirley wurde kurz nach der Präsentation von 1653 und auch erneut in 1659 veröffentlicht. Das musikalische Material ist nur die Partitur dieser letztgenannten Aufführung, in der die handschriftliche Version von Locke erscheint, sowie mehrere Vokal- und Instrumentalstücke von Gibbons. Die Existenz einer autographischen Partitur neben zwei phantastischen dramatischen Texten im Bereich der Musik des 17. Jahrhundert erscheint uns ein großer Luxus zu sein.

Trotzdem warf der Mangel an musikalischem Material für die Produktion von 1653 eine Reihe von Fragen auf, die die Musikwissenschaftler jahrzehntelang verblüfften. Zum Beispiel: Wie sah die Partition 1653 aus und in welcher Beziehung steht sie zu Lockes späterem Autograph? Bis heute wird allgemein angenommen, dass Locke die Partitur von Cupid and Death für die Wiederaufnahme von 1659 überarbeitet hat, um mehr Musik für ein umfangreicheres Libretto zu komponieren. Diese angeblichen Ergänzungen umfassen drei Szenen mit kontinuierlichen Rezitativen: Das früheste erhaltene Beispiel eines erweiterten dramatischen Rezitativs in englischer Sprache!

Eine alte musikalische Form neu entdecken…

Zu einer Form, die es schon in der Vergangenheit gab, die Theater (insbesondere Komödie), Tanz, Bühnenbild, Kostüme und Musik harmonisch verband: Die englische mask! Wenn sie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verschwand, so machte dieses Genre eine Blütezeit am englischen Hofe von der Renaissance bis zur Restauration von Charles II (1630-1685), bevor sie der Semi-Oper Platz machte.

Theaterkomödien, einige Vokalarien, Instrumentalmusik, Kritiken und Kommentare der Zeit: Die Schnipsel sind zahlreich und lassen erahnen, welch faszinierenden Erfindungsreichtum diese Shows hatten, sicherlich inspiriert von den französischen Hofballetten (die Franzosen sind nie weit von den Engländern entfern und umgekehrt!). Vor allem aber furios karnevalesk: Die große Ernsthaftigkeit schlüpft in drei Sekunden in die schlaksige Burleske, dem englischstem Humor und der Planet kann blitzschnell die Drehrichtung ändern!

Wie waren diese masks? Wie kam es zur Koexistenz von Musik und Theater? Wo wurde die Instrumentalmusik platziert? Was erzählte die Vokalmusik dramaturgisch? Wir brauchten zumindest ein Beispiel für eine mask komplett… Zum Glück gab es eine und zwar unser Cupid and Death!

Shirleys Stück strotzt nur so vor guter Laune, Bissigkeit und Humor; die Musik von Locke und Gibbons ist absolut fantastisch. Die Synapsen dieser beiden Genies waren nicht wie die unseren verbunden: Ihre Sprache verblüfft durch den alles überragenden Theatersinn! Die Arien reichen gerade aus, um die Sänger hören zu lassen und ohne das Theater zu beschweren, die Harmonien sind so erhaben wie diskret, der Tanz ist immer mit der Bühne verbunden, die großen Geschichten sind so intensiv wie reine tragische Monologe. Locke hat die gesamte Musik eigenhändig abgeschrieben (man musste lediglich die Zwischenstimmen in seinem Stil neu komponieren) und die Partitur für die heutige Aufführung ist fertig: Die Rekonstruktion auf Papier ist also möglich! Die Herausforderung besteht nun darin, sich alles vorzustellen, was wir nicht kennen, um diesem faszinierenden Werk zu dienen und vor allem den Geist der mask spürbar zu machen! Cupid and Death ist ein experimentelles Stück, das zu einer Zeit entstand, als Librettisten und Komponisten die Möglichkeiten der englischen Oper erkundeten. Auf den ersten Blick mögen uns Form und Thema dieses eigentümlichen faszinierenden Werk fremd erscheinen. Aber die mask hat den Test der Zeit bestanden und eignet sich perfekt für eine Lektüre im 21. Jahrhundert. Seine bescheidenen Proportionen – seine Gesamtlaufzeit beträgt etwa 90 Minuten – machen es zu einem idealen Versuchsstück, um das moderne Potenzial des hybriden Musikdramas des 17. Jahrhunderts zu erkunden. Also fangen wir an! Vorhang auf!

Theatre de l´Athenee / CUPID and Death hier die Taverne © Alban Van Wassenhove
Theatre de l´Athenee / CUPID and Death hier die Taverne © Alban Van Wassenhove

CUPID and DEATH - 18. November 2021 - Théâtre de l'Athénée  Louis-Jouvet, Paris

Das Ensemble Correspondances mit seinem musikalischen Direktor Sébastien Daucé hat uns schon mehrmals mit seltenen und unbekannten Werken aus der Vergangenheit überrascht. Diesmal haben die talentierten Musiker mit ihrem Pfeil ins Volle getroffen, denn Cupid and Death hat sich ohne weiteres in unsere heutige Welt eingewöhnt. Unser Planet ist mehr als zuvor auf den Kopf gestellt und dreht sich mehr und mehr in die falsche Richtung! Diese geistreiche und humorvolle englische mask ist mehr als ein kunterbunter Klamauk, jedoch mehr ein trister Spiegel unserer heutigen Zeit und noch mehr uns selbst. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass wir uns mit Liebe und Tod vereint in einen katastrophalen Traum einwiegen lassen. Aber gottseidank träumen wir mit Musik und viel Spaß und winden uns geschickt zwischen den Beiden hervor! Aber wie lange noch?

Theatre de l´Athenee / CUPID and Deat © Alban Van Wassenhove
Theatre de l´Athenee / CUPID and Deat © Alban Van Wassenhove

Die amerikanische Regisseurin Emily Wilson hat vereint mit dem holländischen Regisseur Jos Houben eine waghalsige verdrehte theatrale Musikshow kreiert: In einem Sammelsurium von gefundenen Gegenständen aller Art zusammengestellt als kuriose verstellbare Kulissen von der argentinischen Bühnen- und Kostümbildnerin Oria Puppo ausgedacht, denkt man natürlicherweise mit viel Nostalgie an vergangenes billiges Jahrmarkts- oder Rummeltheater. In all dieser Unordnung spielen, singen, deklamieren, laufen, rennen, tanzen, fliegen, klettern, drehen und wälzen sich die demaskierten und maskierten Schauspieler und Sänger rund um das Spiel von Liebe und Tod. Das 17. Jahrhundert trifft das 21. Jahrhundert ohne Hemmungen in der heutigen Bekleidung mit Mini-Rock und zerrissenen Jeans. Es ist eine fabulöse Augenweide von akrobatischem Schauspiel und ein Ohrenschmaus an köstlicher Musik für das Publikum. Eine kostbare Entdeckung, von der wir nichts versäumen wollten und so drehten sich gewissermaßen unsere Augen gierig um sich selbst, aber nicht in verkehrter Richtung.

Mit der quecksilbrigen turbulenten Gemeinschaft von sieben Schauspielern und Sängern, die gleichzeitig mehrere Rollen übernahmen, werden wir ohne in Einzelheiten zugehen die gesamte Mannschaft in einem beurteilen: Liselot De Wilde, Perrine Devillers, Sopran; Lucile Richardot, Mezzosopran; Fiamma Benett, Schauspielerin; Antonin Rondepierre, Tenor; Nicholas Merryweather, Bariton; Yannis François, Bass. Alle Solisten waren als eine Gemeinschaft fest zusammen geschmiedet, keiner war besser oder schlechter, alle hatten außergewöhnliche Qualitäten. Diese englisch-französische Musenfamilie schoss ihre Pfeile mit großer Lust in alle Richtungen: Es trällerte sopranhaft in höchsten Höhen mit Cupid im Streit, die Natur schrie in tiefsten Mezzo-Lagen empört ihre große Arie, tenorhaft im hohen C verwandelte der Death die Liebe, von Himmelshöhen stieg Merkur bassartig auf die tiefe Erde, der Kammerherr schauspielerte vom Feinsten die witzigsten Pointen in die Luft. In seinem Gasthaus wurde der nicht sehr pfiffige Gastwirt selbst von seinen ausgewechselten Pfeilen zu Tode geschossen! Die Welt steht auf dem Kopf und dreht sich rückwärts… Aber wir gehen überglücklich von musikalischen und theatralen Eindrücken vollgestopft nach Hause in unser Traumparadies! Das war großes elisabethanisches Musiktheater im Gewande unseres Zeitgeistes. Es gab sehr viel Applaus und unserer Meinung völlig berechtigt.        PMP/28.11.2021

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