Paris, Théâtre de l'Athénée, CANTICLES - Benjamin Britten, IOCO

Die Canticles: fünf Kompositionen, die Benjamin Britten (1913-1976) über mehrere Perioden seiner Karriere hinweg geschrieben hat, drei davon als Gedenkstücke. Die Instrumentierung jedes Stücks ist unterschiedlich und basiert teilweise auf weltlichen Texten.

Paris, Théâtre de l'Athénée, CANTICLES - Benjamin Britten, IOCO
Théâtre de l'Athénée @ Wikimedia Commons

CANTICLES - Kompositionen (1947 - 1974) - Benjamin Britten

Allan Clayton - Tenor, George Humphreys - Bariton, Christopher Lowrey - Counter-Tenor, Olivia Jageurs - Harfe, Richard Watkins - Horn, Dame Harriet Walter - Rezitation

 von Peter Michael Peters

DAS LIED DER LIEDER…

God speaks:

Abraham, my servant dear, Abraham,

Lay not thy sword  in no manner

On Isaac, thy dear darling.

For thou dreadest me, well wot I,

That of thy son had no mercy,

To fulfil my bidding.

 (Canticle II: Abraham and Isaac / Auszug)

BENJAMIN BRITTEN Büste in seiner Heimat Aldeburgh @ IOCO

Lieder der Unschuld und Erfahrung…

Die Canticles sind eine Reihe von fünf Kompositionen, die Benjamin Britten (1913-1976) über mehrere Perioden seiner Karriere hinweg geschrieben hat, drei davon als Gedenkstücke. Die Instrumentierung jedes Stücks ist unterschiedlich und basiert teilweise auf weltlichen Texten. In einer Rezension in Opera Today wird erwähnt, dass Britten die Heilige Schrift nicht als Text für seine Hymnen verwendete, die in Umfang und Struktur eher Kantaten als religiöse Hymnen ähneln, aber alle von intensiver Spiritualität durchdrungen sind“. Der Kritiker Peter Angus Evans (1929-2018) stellt fest, dass das Werk einen „Geist spiritueller Erhebung enthält, der so intensiv ist, dass seine Verwirklichung innerhalb einer ehrgeizigen musikalischen Struktur erforderlich ist“. Britten machte sich im Jahre 1947 an die Arbeit und komponierte sein CANTICLE I.: My beloved is mine, Op. 40, das erste einer fünfteiligen Serie nach einem Gedicht von Francis Quarles (1592-1644), die das Hohelied paraphiert: Indem es die Seelen aller Kreaturen  dem Schöpfer  voller Freude und Zuversicht übergibt. Unter Canticle müssen wir eine ziemlich lange Komposition durchschnittlich etwa zehn Minuten für ein einzelnes Gedicht von spiritueller Bedeutung verstehen. Für Graham Johnson (*1950), der sie brillant analysiert hat, handelt es sich tatsächlich um Miniatur-Kantaten: Von denen jede einen wahren Zyklus darstellt. Tatsächlich wird jede Episode der Gedichte spezifisch behandelt: Die religiöse Begleitung basiert daher auf abwechslungsreicheren dramaturgischen Strukturen als die traditionelle Melodie.

CANTICLE I.: My beloved is mine and I am his, Op. 40 (1947) wurde für ein Konzert zu Ehren von Dick Sheppard (1880-1937), dem ehemaligen Pfarrer der St. Martin-in-the-Fields-Church gegeben. Der Liedtext stammt aus A Divine Rapture von Quarles und basiert auf dem Hohelied. Das Lied ist für Tenor und Klavier komponiert. Ein deklamatorisches Rezitativ verkündet dann absolutes Vertrauen in den anderen, was sowohl im religiösen Sinne als auch als Siegel einer profanen Liebes-Beziehung verstanden werden kann, wie es auch die Metapher des Lied der Lieder zulässt. Das darauf folgende presto bekräftigt die Entschlossenheit, trotz der Wechselfälle des Lebens treu zu bleiben: Es ist eine aufgeregte und stürmische Episode, in der die musikalische Begleitung noch weiter von der Gesangs-Linie entfernt zu sein scheint und deren Funktion hauptsächlich rhythmischer Natur ist.

CANTICLES hier Allan Clayton, Tenor @ Peter Michael Peters

 

CANTICLE II.: Abraham and Isaac, Op. 51 (1952) wurde von Peter Pears (1910-1986), Kathleen Ferrier (1912-1953) und Britten für eine Spenden-Aktion der English Opera Group uraufgeführt. Der Text ist aus der heiligen Ligatur Isaacs entnommen, wie sie im Chester-Zyklus beschrieben ist. Das Lied ist für Tenor, Alt oder Counter-Tenor und Klavier komponiert. Wie Abraham, oder der Captain Vere in der Oper Billy Budd, Op. 50 (1951) und wie wir auch in der Oper Gloriana, Op. 53  (1953) sehen werden, opfert Königin Elizabeth I. (1533-1603) fast immer die Unschuldigen, weil sie von einer bestimmten unwiderstehlichen Kraft dazu gedrängt werden und was auch durch die Vorstellung ausgedrückt wird: Das sie von ihrer Funktion nur die Charaktere haben! Die sie davon überzeugen, ihre Taten durchzusetzen mit einer Gerechtigkeit, die zwangsläufig unvollkommen ist! Die aber das „Gesetz“ oder die „Regel“ unangetastet lässt. Wenn wir uns jedoch mit diesen beiden Opern in einem Universum befinden, in dem Gott schweigt und den Arm der menschlichen, militärischen oder monarchistischen Gerechtigkeit nicht zurückhält. Denn im Gegensatz zu dem, was in vielen Reden behauptet wird, steht das Interesse des Königs vor Gott und wir wissen, dass er im biblischen Bericht über Isaacs Opfer im letzten Moment doch noch eingreift: Um das Leben des Unschuldigen zu retten und den tiefen Glauben des Vaters zu preisen. Weder Vere noch Elizabeth I. haben eine Wahl oder sie gehen nicht einmal davon aus und beanspruchen es nicht einmal! Wenn sie ihre „Religion“ bekennen, wird diese jedes Mal durch Pflicht oder Dienst pervertiert. Und in den beiden sehr ähnlichen Finalen gewannen sie jeweils an Gelassenheit und Selbstvertrauen: Ohne jemals Reue zu zeigen oder um Verzeihung zu bitten! Die Transzendenz hingegen wirkt jedoch im Canticle und es ist einer der seltenen Momente, in denen bei Britten der Unschuldige nicht geopfert wird und auch buchstäblich nicht geopfert werden kann.

CANTICLE III.: Still Falls the Rain, Op. 55 (1954), für Gesang, Horn und Klavier, wurde im Gedenken an den australischen Pianisten Noel Mewton-Wood (1922-1953) komponiert. Der Text basiert auf Edith Sitwells (1887-1964) Gedicht The Canticle of the Rose. Dieser Canticle besteht aus einem vom Horn vorgetragenen Grundthema, gefolgt von sechs Versen: Die wiederum durch fünf Instrumental-Variationen getrennt sind. Lediglich der letzte Teil, bei dem Horn und Gesang zum ersten Mal zusammengeführt werden: Ist den drei Solisten anvertraut. Die Musik ist trotz ihrer Vielfalt von großer Strenge und gesanglicher Schwierigkeiten. Die Funktion des Horn ist ganz im Gegensatz zur Serenade für Horn, Tenor und Streich-Instrumente Op. 31 (1943) wo es die Stimme nächtlicher Reize war, ist hier überaus dramatisch, düster und verstörend. Wenn es eine Nacht gibt, dann ist es die des menschlichen Bewusstseins „so blind wie die tausendneunhundertvierzig Nägel am Kreuz!“ Das Horn wird so heimtückisch wie ein unheimliches Nebel-Horn an der obersten Schwelle des Werkes. Oder aber auch äußerst aggressiv wie es die Noten im Mittelteil beweisen! Die Partie des Tenors präsentiert sich als ein großes deklamatorisches Rezitativ, zutiefst schmerzhaft mit einer parlando-Episode: Werde ich mich auf meinen Gott stürzen? Wer wird mich hinunterziehen? Entlehnt aus The Tragical History of Doctor Faustus (1594) von Christopher Marlowe (1564-1593). Andere glissando-Passagen erinnern auf einzigartige Weise an die Rolle des Peter Quint aus der Oper The Turn of the Screw, Op. 54 (1954). Der Refrain gibt den Titel für den Canticle, er hat eine Übergangs-Funktion und ist in seiner deprimierte Süße fast obsessiv. Es ist dieselbe Süße, die wir in der letzten Variante finden und die einen auffälligen Kontrast zum Vorangegangenen darstellt. Die Wiederholung  des Anfangs-Themas im Einklang mit dem Satz: „Dann erklang die Stimme dessen, der wie das Herz des Menschen einst ein Kind war und unter den Tieren lag“ ist von beunruhigender, zeitloser Magie.

CANTICLES hier Christopher Lowrey, Countertenor; Allan Clayton, Tenor und George Humphreys, Bariton @ Peter Michael Peters

CANTICLE IV.: Journey of the Magi, Op. 86 (1971) wurde für Counter-Tenor, Tenor und Bariton nach  dem gleichnamigen Gedicht von Thomas Stearns Eliot (1888-1965) geschrieben. Es ist im Stil eines rondo komponiert und unterscheidet klar die drei Etappen der Reise. Die erste Episode beschreibt auf sehr bildhafte Weise die schmerzhafte Reise der Heiligen Drei Könige auf dem Rücken eines Kamels: Der schwere,  ungleichmäßige und schwankende Bass des Klaviers übersetzt diesen stolpernden und zögernden Schritt gequetschter, lahmer und widerspenstiger Kamele. „And the camels galled, sore-footed, refractory“, von denen Eliot spricht. Die drei Stimmen werden abwechselnd unisono oder nacheinander vorgetragen, was häufige Wiederholungen derselben Verse ermöglicht, was auf die Ermüdung  und die unendliche Länge der Wanderung der drei Reisenden schließen lässt. Das Knurren erschöpfter Kamel-Treiber und ihrer hungrigen Tiere bietet kurze ausdrucksstarke Kadenzen auf dem Klavier. Brittens Stil ist sofort stark erkennbar im Wechsel von kleinen und großen Terzen und der Begleitung, deren Noten und Akkorde in kleinen Schwärmen angeordnet sind und eine treibende Rolle spielen. Er bevorzugt auch die Stimmen, die orientalisierenden Figuren, die verträumten Melismen, wenn die drei erschöpften Charaktere inmitten durch die schmutzigen Dörfer gehen, den Sommer-Palast an den Hängen und die Terrassen heraufbeschwören. Und natürlich auch seidigen schönen Mädchen, die in der glühenden Hitze lachend Sorbet verteilen. Die sie aber leider zu  schnell verlassen müssen! Ihre Ermüdung wird mehr und mehr durch ein pianissimo-Spiel- und Gesang mit einer großflächigen Begleitung immer deutlicher spürbar: Was zur zweiten Strophe führt! Das Zittern des Klaviers, das bereits das Thema des Schluss-Gesangs zitiert, deutet eine Hoffnung an, die aber bald enttäuscht werden wird. Wir finden das gleiche Klima  der Trostlosigkeit wie am Ende der ersten Strophe, aber der ist wohl endlich gefunden. Eliot macht keine Angaben, aber wir gehen davon aus, dass die Krippe endlich entdeckt ist. Der letzte Abschnitt, dem es nicht an einer gewissen bitteren Gewalt mangelt, ist eine reflexive Rückblende auf die Heiligen Drei Könige am Abend ihres Lebends. Sie wissen immer noch nicht genau, ob ihre Wanderung sie zur Geburt oder zum Tod führten? Das Gedicht endet mit einem eher einzigartigen Wunsch: „I should be glad of another death“, unmittelbar darauf folgt das pianistische Nach-Spiel, das ganz dem pianissimo-Zitat des Antiphon Magi vidente  stellam gewidmet ist, die bei der Vesper zur Epiphanie gesungen wird. Sie beschließt den Canticle musikalisch mit einem strahlenden Ton: Voller Hoffnung und Versprechen!

CANTICLE V.: The Death of Saint Narcissus, Op. 89 (1974) wurde zum Gedenken an William Plomer (1903-1973) mit Pears  und dem Harfenisten Osian Ellis (1928-2021) kreiert. Dieses zweideutige und unruhige Gedicht hat Britten tatsächlich nur mäßig inspiriert. Das Werk  ist insgesamt  eher kühl und die nachahmenden oder evokativen Verfahren wirken ziemlich künstlich. Andererseits beendete Britten drei Jahre später, im Juli 1974 die Serie von fünf Canticles mit einer sehr kurzen Seite von weniger als acht Minuten, die aber viel origineller und persönlicher war. Noch hermetischer ist jedoch das Jugend-Gedicht von The Death of Saint Narcissus, das aus der metaphysischen Periode von Eliot stammt. Narziss stellt die Idee des spirituellen Strebens durch die Schöpfung dar und das Gedicht beschreibt das Scheitern durch eine Reihe von Metamorphosen, die der Heilige durchmacht: Der sich nacheinander in einen Baum, in einen Fisch, in ein junges Mädchen von einem alten Betrunkenen bedroht und sich schließlich als „Dancer for God“ sieht. Überraschend wird er von tödlichen Pfeilen getroffen und die leuchtende Farbe seines eigenes Blutes besiegt ihn selbst. So irrt er blutbefleckt „with his own hellish darkness in his mouth“ durch unbekannte nie endende grausame  Welten! Britten hatte sich gerade einer verheerenden Herz-Operation unterzogen, die ihn erheblich geschwächt und teilweise gelähmt hatte. Da er nicht im Stande war, diesen letzten Canticle mit Pears zu spielen, schrieb er die Begleitung für seinen Lieblings-Harfenisten um: Und zwar Ellis! Dieser einzige Umstand ist jedoch von grosser Tragweite, denn es ist der Harfe zu verdanken, dass diese Seite ihre magische Dimension erhält. Eine verführerische Stimme bietet Narziss ein unbekanntes Schauspiel an: Seinen Schatten, der sich im Sand entfaltet! Die Arpeggios der Harfe zeichnen eine eindringliche, charmante und einhüllende Figur und dann lernt er endlich langsam jeden Teil seines Körpers mit höherem göttlichen Erkenntnis auch zu spüren:

By the river

His eyes were aware

of the pointed corner of his eyes

And his hands aware

of the pointed tips of his fingers.

 (Auszug aus Eliots Gedicht The Death of Saint Narcissus)

CANTICLES hier Richard Watkins, Horn; Julius Drake, Klavier; Christopher Lowrey, Countertenor; Allan Clayton, Tenor; George Humphreys, Bariton und Olivia Jageurs, Harfe @ Peter Michael Peters

Wenn er glaubt, ein Baum geworden zu sein, wird die Harfe zum weiten Schwingen ihrer Äste, während die Gesangs-Linie sich beschleunigt und ausgedehnte kontinuierliche Motive annimmt. Fisch? Es ist dann ein Spiel mit den transparenten Obertönen des Instruments und dem gedämpften Finger-Spiel in der dunklen schwarzen Tiefe. Endlich das bedrohte junge Mädchen: Die Harfe gibt ein beunruhigendes metallisches Knistern von sich, wie das heisere Geräusch eines keuchenden Atems! Diese flüchtigen Bilder stellen eine umfangreiche Trauer-Rede dar, aber ohne besondere Traurigkeit, jedoch voller zurückhaltender Emotion. Es ist das allerletzte Werk, das  für Pears geschrieben wurde und zweifellos ahnte es Britten. Die ständig mehrdeutige Klang-Struktur, die melodische Einheit der Gesangs-Linie, die Gelassenheit vermischt mit dem Schrecken einer noch unbekannten Welt und schließlich das Gefühl eines berauschenden und auch sehr gefährlichen Tanzes machen: The Death of Saint Narcissus zu einer Art „essentieller Destillation“ des letzten  Britten! Auf diese Weise war dieses Werk, wie so oft bei den Canticles und den Church Parables es der Fall war: Ein echter Epilog für seine letzte Oper Death in Venice, Op. 88 (1971/1973).

Britten oder die unmögliche Ruhe…

Tatsächlich hatte diese Oper in den letzten zwei Jahren alle Kräfte des Komponisten mobilisiert und auch fast erschöpft. Dieses wahre künstlerische Testament, aber auch authentische intime Geständnis würde letztendlich den Schleier über das lüften: Was sich heimlich durch viele seiner Werke zog. Britten, schreibt der Musik-Wissenschaftler Humphrey Carpenter (1946-2005): „…verlässt sich auf die Botschaft der vorherigen Oper […], denn er hatte es noch nicht gewagt sich ihm zu stellen […], zu dem, was in seinem eigenen Zimmer heimlich nistet und spukt, aber Owen Wingrave, Op. 85 (1985) scheint ihm den Mut gegeben zu haben: Es zu versuchen!“ Für Britten scheint es eine dreifache Dringlichkeit gegeben zu haben: Die Notwendigkeit einer Oper, die den krönenden Abschluss seiner Karriere darstellen sollte. Desgleichen aber auch unbedingt ein letztes großes musikalisches Fresko für seinen Lebens-Gefährten zu komponieren und schließlich natürlich die Notwendigkeit: Seinem Tod zuvor kommen! Von dem er wohl wusste, dass er sehr nahe war: Wenn nicht unmittelbar davor!

 

CANTICLE - Konzert - Théâtre de l’Athénée Paris - 26. Februar 2024

Der Fluch ist gebrochen…

Erinnerung und starke Emotionen für diesen musikalischen Montag-Abend, der den Canticles von Britten gewidmet war, brillant dargeboten von dem unvergessenen Peter Grimes (1945) aus der gleichnamigen Oper von Britten, der kürzlich an l’Opéra National de Paris / Palais Garnier (siehe IOCO-Kritik!) zu sehen war mit der schmerzerfüllten Interpretation des britischen Tenor Allan Clayton. Er umgab sich mit hochkarätigen Partnern, angefangen bei dem großartigen britischen Pianisten Julius Drake.

Profan oder heilig?...

Britten komponierte diese fünf „Kantaten“ zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen Umständen und ließ sich dabei von bestimmten Stellen aus der Bibel, aber auch von Gedichten, die Liebe und Tod thematisieren: Inspirieren! Diese Vielfalt – oder auch Eklektizismus – verleiht diesem musikalischen Ensemble einen unbestreitbaren Reichtum an Worten und Noten, dem der mit dem Repertoire vertraute Clayton Bedeutung und Tiefe verleiht und dabei hilft, das Publikum zu fesseln und es den Reichtum dieser Kompositionen entdecken zu lassen.

Denn diese „Gesänge“ sind für nicht-britische Ohren völlig oder fast unbekannt! Diese kleinen „Oratorien“ werden sehr selten aufgeführt und manchmal auch aufgenommen und mobilisieren dann hauptsächlich Sänger, die zu den besten Referenzen der britischen Sprache und des Interpretation-Stils gehören. Der französische Tenor Cyrille Dubois hatte seine Bewunderer ebenfalls überrascht, als er die Canticles im Dezember 2020 bei NomadMusic aufnahm. Unbestreitbar ist, dass es sich nicht um Brittens bekanntestes Werk handelt und dass vielleicht nur der britische Tenor Peter Pears, der auch sein Lebensgefährte war, der unbestrittene Spezialist für diese großen Werke des Komponisten war: Und der auch hervorragende Dienste an den Komponisten leisten konnte! Und es war zweifelsohne eine (Wieder-) Entdeckung, dass diese Hommage eines Abends an Britten von Künstlern geboten wurde, die sich mit dieser Kunst der Poesie voll und ganz verbunden fühlten, wie auch die bewegende Musik von Britten, wohl dem  ersten großen britischen Musiker seit der Barock-Epoche: Eben der zweite Orpheus-Britannicus nach Henry Purcell (1659-1695).

 

Das Spiel von Licht und Schatten…

Eine sehr wirkungsvolle Halb-Inszenierung tauchte die Bühne in eine Art von Dunkelheit, die durch gezielte Beleuchtung durchbrochen wurde und erzeugte so einen leicht geheimnisvollen Eindruck, der zu diesen manchmal phantasievollen poetischen Gedichten beitrug: Die uns die große britische Theater- und Film-Schauspielerin Dame Harriet Walter vorlas. Das ausgezeichnete Erzähl-Gefühl und die perfekte Diktion der Künstlerin ermöglichen ein gelungenes Eintauchen in diese ganz besondere Atmosphäre, die durch die Schönheit der englischen Sprache und ihre Adäquatheit mit der besten Poesie geschaffen wird. Diese große William Shakespeare (1564-1616) -Tragödien stellt ihr Talent ganz in den Dienst dieser Gedichte oder auch Kurzgeschichten, die kleine mitunter sehr einfache Dinge erzählen oder auch als Hommage an große verstorbene Persönlichkeiten geschrieben wurden. Wie sind bereits in den Bann gezogen , als Clayton das großartige Canticle I.: „My beloved is mine and I am his“ singt, das Britten im Jahr 1947 für ein Konzert zu Ehren von Sheppard komponierte, einer charismatischen Persönlichkeit der anglikanischen Kirche, christlicher Pazifist und Herausgeber des Pazifisten-Journal „We say No!“ im Jahr 1935 und gründete dann auch später die PPU (Peace Pledge Union). Das Poem stammt von dem Dichter Quarles, der dieses Liebesgedicht auf der Grundlage von Auszügen aus dem Lied Salomons in einer der letzten wunderschönen subtilen Wort-Wendungen schrieb. Der Tenor beherrscht Brittens Farben perfekt und liefert uns eine reiche Interpretation voller Nuancen und Tiefe, die das Publikum in diese fast mystische Atmosphäre eintauchen lässt: Die auch den Abend dominieren wird! Das Timbre ist großartig, die Stimme kraftvoll und die Crescendo begleiteten die Beschleunigungen bei „Nor Time, nor Place, nor Chance, nor Death can bow / My least begehrts untot he least Remove“ und ermöglichen dem Tenor ein besonders fesselndes Spiel mit den unerschöpflichen Konsonanten zu ermöglichen. Auch Drake am Klavier vollbringt wahre Wunder als vollwertiger Partner von Clayton, indem er eine komplexe Partitur spielt und wie immer seine tadellose Technik, gepaart mit großer persönlicher Sensibilität unter Beweis stellt.

 

Die Eleganz der Harfe…

Und schon sind wir völlig überzeugt von der Qualität der Interpretation, dem Lichtspiel auf der Bühne und der gesammelten Atmosphäre des Konzerts, als direkt das Canticle V.: „The Death of Saint Narcissus“ aus dem Jahr 1974 erklingt. Clayton und seine Freunde haben sich eindeutig entschieden, die Reihenfolge des Zyklus zu ändern, um erneut eine bewegende Hommage zu erweisen, dieses Mal an den fortschrittlichen südafrikanischen Schriftsteller Plomer. Dieses Canticle wurde für Pears von Britten komponiert und begleitet von dem walisischen Komponisten  Ellis. Aber am Montag-Abend  war es die wunderschöne Harfe der britischen Harfenistin Olivia Jageurs, die dieses Duett zwischen der Stimme des Tenors und ihren Harfen-Streichen vortrug. Neben der Schönheit des musikalischen Werkes, dessen Komposition besonders berührend ist, hatten wir zwei außergewöhnliche Interpreten, die es verstanden, sowohl die musikalischen Akzente als auch die Worte des Gedichts hervorzuheben. Und doch ist der Gesang nicht einfach, voller Nuancen und erfordert die totale Beherrschung des Legato und der Tonsprünge außerhalb der Tonart, während die Arpeggios der Harfe diese ewigen Metamorphosen von Narziss und der Natur umhüllen, von der Unmöglichkeit „to live like people“ : Aber jedoch für „Those who dance with joy for God.“

 

Drei-Stimmig mit den Heiligen Drei Königen…

Das Canticle IV.: “The Journey of the Magi”, das von Britten 1971 komponiert wurde, ist ein wunderbares Chorlied für drei Stimmen, drei männliche Klangfarben – Tenor, Countertenor und Bariton – im Unisono oder im Wechsel, das alle Möglichkeiten nutzt, die ein Trio bietet, insbesondere der Kanon und die Ensembles, in denen jedes seine eigene Partitur singt. Neben der von den Künstlern geforderten extremen Virtuosität müssen wir auch dieses wahre Epos erzählen, diese Reise, dieser „cold journey! The worst season!“ war. Das eiskalte und regnerische Wetter in Paris schien angemessen und es tat überaus gut, sich an diesen großartigen Stimmen aufzuwärmen, die sich auf bewundernswerte Weise vermischten und an die Heiligen Drei Könige in der exzentrischen Manier des amerikanisch-britischen Dichters Eliot erinnerten. Clayton war von zwei anderen britischen Künstlern umgeben, die gleichermaßen Erfahrung mit den spezifischen Schwierigkeiten von Brittens komplexer Musik hatten, dem Bariton George Humphreys und dem Countertenor Christopher Lowrey und die auch für eine von großer Perfektion geprägte Aufführung sorgten. Was für ein Vergnügen, diese drei sehr unterschiedlichen und doch so verschmolzenen Klangfarben zu hören.

CANTICLES 6 - hier Christopher Lowrey, Countertenor und Allan Clayton, Tenor @ Peter Michael Peters

 

Und die Kraft des Horns…

Canticle III.: „Still falls the rain” ist vielleicht eine mehr vom bitteren Schmerz durchdrungene melancholische Melodie! Die „Kantate“ wurde 1954 zum Gedenken an den australischen Pianisten Mewton-Wood komponiert, wirkt ein wenig wie eine schmerzhafte Erinnerungs-Übung angesichts der Trauer und beschwört das Martyrium Christi. Clayton singt fast a cappella mit seiner kraftvollen und sehr wohlklingenden Stimme die ersten Zeilen von Sitwells Gedicht „The Canticle of the Rose“, das als Inspirations-Quelle diente. Nur ein paar Klavier-Akkorde unterstreichen die ersten Sätze „The rain is still fall / dark as the world of Men / Black as our loss“. Feine Jazz-Klänge aus dem Horn des großen britischen Hornisten Richard Watkins unterbrechen diesen Gesang regelmäßig, um alle Protagonisten, den Tenor und den Pianisten zu mehr lebhafteren Parts zu animieren, bevor es wieder zu einem düsteren Wehklagen kommt. Es ist zweifellos die gelungenste Interpretation dieses im wahrsten Sinne des Wortes verzaubernden Abends.

Ein ergreifendes Duett…

Mit dem Canticle II.: „Abraham and Isaac”, der das Konzert abschließt, erreichen wir eine Art unendliche Fülle der von Britten angesprochenen Stimmen und Themen. Dieses 1952 für Pears und der außergewöhnlichen Altistin Ferrier komponierte Canticle ist von der ergreifenden biblischen Geschichte The sacrifice of Isaac inspiriert und wurde erneut in einer seltenen Stimmen-Kombination von Tenor und Countertenor und natürlich  Klavier aufgeführt. In einer kleinen Produktion stehen sich die beiden Künstler in diesem schmerzhaften Dialog gegenüber. Als Gott spricht und anordnet, das zu opfern was Abraham besonders am Herzen liegt, bleibt Clayton im Schatten im hinteren Teil der Bühne, bevor er im vollen Licht erscheint, um die Rolle des Patriarchen zu singen, währen Lowrey den Isaac singt. Wut, Resignation, Flehen, extremer Schmerz, die beiden Künstler lassen uns diese tragische Episode mit der Überzeugung echter Schauspieler erleben. Und die Musik ist ständig gefärbt, sehr abwechslungsreich und nuanciert, um die Farb-Palette der widersprüchlichen Gefühle auszudrücken, die dann durch die beiden Männer gehen, bis Gott seiner grausamen Folter Gnade schenkt und seinen Befehl zurückzieht.

Wir hätten uns keinen bewegenderen und gerechteren Abschluss vorstellen können. Und es ist eine echte Ovation, die dann alle Künstler begrüßt, die diese Canticles für uns im Stil einer Kammer-Oper interpretiert haben und uns buchstäblich in das Herz des Werks eintauchen lassen und das sie noch vergrößern: Indem sie ihm seine ganze gewaltige Bedeutung verleihen! Und auch herzlichen Glückwunsch an das Théâtre de l’Athénée Paris, das mit diesen Künstlern ein solches Programm für einen äußerst gelungenen  musikalischen Montag-Abend geboten hat, auch wenn der Saal nicht ganz voll war. (PMP/01.03.2024)

Anmerkung: Der nächste musikalische Montag-Abend ist am 18. März 2024 mit Julie Fuchs, Sopran und Alphonse Cemin, Klavier mit Werken von Wolf, Ravel, Holmes, Fauré, Purcell und Sondheim.

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