Paris, Salle Gaveau, VIVALDI - der HERRLICHE - Konzert, IOCO Kritik
VIVALDI - der Herrliche - Herbst 1727: Antonio Lucio Vivaldi (1678-1741) war 49 Jahre, als er seine Oper Orlando furioso, RV. 728 (1727) im Teatro Sant‘Angelo vorstellte. Venedig von 1727 war eine faszinierende Mischung: Eine Republik mit komplexen Regeln, ein großes künstlerisches Zentrum
VENEDIG 1727: MUSIK UND GESELLSCHAFT…
Opern-Arien und Violinen-Konzerte von Vivaldi, Legrenzi, Gasparini, Marcello, Bach …
Adèle Charvet, Mezzo-Soprano, Théotime Langlois de Swarte, Violine, Justin Taylor, Cembalo, Ensemble Le Consort
von Peter Michael Peters
Sovvente il sole risplende in cielo
piu bello e vago se oscura nube già l’offusco.
E il mar tranquillo quasi senz’onda
talor si scorge se ria procella pria lo turbo.
(Arie aus Andromeda Liberata /Auszug / Vivaldi)
Das Venedig von 1727 ist aus damaliger Sicht eine faszinierende Mischung: Eine Republik mit komplexen Regeln, ein großes künstlerisches Zentrum in dem sich christliche Nächstenliebe mit viel Unterhaltung, Oper mit Karneval, Kastraten und Diven vermischt!
Herbst 1727: Antonio Lucio Vivaldi (1678-1741) war im Alter von 49 Jahren, als er seine Oper Orlando furioso, RV. 728 (1727) der Öffentlichkeit im Teatro Sant‘Angelo vorstellte. Ohne es zu wissen, verbrachte der Prete rosso wohl seine letzten wohlhabenden Jahre vor dem langsamen Niedergang der 1730er Jahre, die durch die verhängnisvolle Konkurrenz der neapolitanischen Opern hervorgerufen wurde. Dann auch noch die Emigration nach Wien: Wo er 1741 starb! Unterdessen erlebte die Serenissima Repubblica ihre letzten großen glorreichen Jahrzehnte mit äußerst vielen betäubenden und sehr schwindelerregenden gewaltigen Feierlichkeiten und Vergnügungen, um ihren unvermeidlichen militärischen, wirtschaftlichen auch und erbärmlichen Niedergang so besser zu vergessen. Nachdem sie zwei Jahrhunderte lang nichts mehr produziert hatte, lebte die Königin der Meere oder das Große Weltwunder, wie man sie nannte, nur noch von ihren Einkommen und Renten. Somit wartet sie ohne Illusionen auf den Moment ihres endgültigen Sturz in den Abgrund: Der 1797 eintreten wird! Dennoch ist noch immer ganz Europa über das einmalige künstlerische Feld fasziniert und desgleichen auch erobert von dem gewaltigen Charme dieser Stadt. Die Musiker wie Tomaso Albinoni (1671-1751), Benedetto Giacomo Marcello (1668-1739) oder Vivaldi sichern ihr einen internationalen musikalischen Ruf ohne jegliche Rivalen, die vielleicht nur noch auf der großen künstlerischen Berühmtheit eines Giambattista Tiepolo (1696-1770), eines Giovanni Antonio Canaletto (1697-1768) oder eines Francesco Guardi (1712-1793) überboten werden konnten.
Seit seiner frühen Kindheit lebte Vivaldi mit seinen Eltern und seinen Schwestern zusammen und gründete mit ihnen eine Art kleines Familien-Unternehmen, in dem jeder sein eigenes Geld zahlte, um seinen musikalischen und sozialen Aufstieg zu fördern und zu erleichtern. Sein Vater, Giovanni Battista Vivaldi (1655-1736) war seine wertvollste Stütze! Er fungierte als sein musikalischer Berater, Reisebegleiter, Kopist uns Co-Direktor des Teatro Sant’Angelo. Vater und Sohn waren bis 1736, dem Todestag des Erstgenannten unzertrennlich! Im Jahre 1727 lebte die Familie fünf Jahre lang in einer Wohnung am Fuße des Ponte del Paradiso, an einem extremen Ende des Campo Santa Maria Formosa. Drei Jahre später zogen sie nach Calle Bembo, dem letzten Wohnsitz des Prete Rosso vor seiner endgültigen Abreise nach Wien.
Das Venedig von Vivaldi…
Das Venedig, das der Komponist der Oper Orlando furioso kannte, war fast acht Jahrhunderte lang die Hauptstadt einer unabhängigen Republik von der Größe der Bretagne, die nie einen inneren Krieg erlebt hatte, geschweige einen Aufstand oder eine Revolution. Seine Währung, der venezianische Dukat ist eine der stabilsten in ganz Europa und hatte sich seit fünf Jahrhunderten kaum verändert. Die Bevölkerungs-Zahl näherte sich an die 140.000 Einwohner-Grenze, was heute vielleicht bescheiden erscheint, damals aber den zweiten Platz nach Neapel auf der italienischen Halbinsel einnahm. Die Serenissima ist eine oligarchische Republik, in der sich seit Jahrhunderten mehrere Groß-Familien die Macht teilen. Nur diese republikanische Aristokratie konnten für sich beanspruchen eine Funktionen in den verschiedenen Staats-Räten zu haben oder auch den Zugang zum privilegierten Dogen-Amt. Eine Familie wie die der Vivaldis, die wie 90 % der Bevölkerung bescheidener Herkunft war, wurde damals völlig vom politischen Leben ausgeschlossen. Darüber hinaus wurde bei der Wahl des Dogen alles getan, um den Zugang des einfachen Volkes zu den höchsten Staatsämtern zu verhindern. Nur eines der zweitausend Mitglieder des Großen Rates, die allesamt den großen Patrizier-Familien angehörten, konnte die höchste Position beanspruchen. Eine der komplexesten Wahlen, die wir je erlebt haben, ermöglichte es, die Fraktion und jede politische combinazione zu meiden. Ein etwa zehnjähriges Kind, der ballottino, zog dann die 30 Namen-Lose unter den Mitgliedern dieses Rates! Dann begann die lange Prozedur: Diese 30 Adligen zogen das Los, die 40 wählten, die 12 zogen, die 25 wählten, die 11 zogen, um schließlich die 41 zu wählen. Anschließend hielt man eine echte Konklave ab, in dem die 41 gewählten Beamten ihre Meinung sagen mit einer Mehrheit von 25 zu wählen: Im besten Fall konnte dies in einer einzigen Abstimmung geschehen, dies wird bei Pietro Grimani (1677-1752) im Jahr 1741 der Fall sein. Aber es konnte auch 68 Runden erfordern wie für Carlo Contarini (1580-1656) im Jahr 1665! Bei der Uraufführung des Orlando furioso war es der Doge Sebastiano Mocenigo (1662-1732), der fünf Jahre lang die Geschicke der Serenissima leitete: Er war der siebte Doge seit der Geburt von Vivaldi! Für alle Venezianer war es ein friedliches Dogen-Mandat: Das sich wohl eher auf die Wiederbelebung der Volkswirtschaft, auf die Verbesserung der Stadt, auf die Wiederherstellung des Campanile, auf die Pflasterung des Piazza San Marco oder sich auch die Förderung vieler kultureller Institutionen konzentrierte. Der neue Doge gründete auch die Accademia delle Arte und die Società Letteraria Universale.
Liturgie, Oper und Karneval…
Das Musik-Leben war natürlich das Zentrum der venezianischen Aktivitäten in den 1720er Jahren und war seine beste „Visitenkarte“ in den Augen von ganz Europa. Die Elite dieser Aktivität stellten die jungen talentierten Musiker der vier Ospedali: Pietà, Mendicanti, Incurabili, Ospedaletto dar, diesen Wohltätigkeits-Häusern, die einige ihrer sehr talentierten Waisenkinder an die Musik heranführten, während die anderen sich mit Hand-Arbeiten und Reinigungs-Arbeiten beschäftigten. Der Name Vivaldi ist untrennbar mit der Ospedale de la Pietà verbunden, für das er zwanzig Jahre seines Lebens gearbeitet hatte: Meist vollständig oder auch nicht! Dank ihm wuchs der Ruhm junger Musiker und Sänger so spektakulär, dass es zum obligatorischen Treffpunkt für vorbeikommende Musik-Liebhaber wurde. Kein Prinz, kein Intellektueller, der Venedig besuchte, hätte auf keinen Fall einen Gottesdienst oder das Anhören eines Oratoriums in der Cappella de la Pietà verpasst, sie war ganz in der Nähe an der Riva auf dem heutigen Gelände des Metropol-Hotels gelegen. Hinter Gittern platziert, blieben die figlie del coro für den Blick anderer nahezu unsichtbar! Man unterscheidete sie mehr als man sie sehen konnte, was jeder Zeremonie ein fesselndes Geheimnis verlieh und die Fantasie männlicher Zuschauer sehr anregte. Für sie wird der Prete Rosso die schönsten Partituren seiner Konzerte oder seiner Kirchen-Musik schreiben: Liturgisch oder auch nicht!
Die Oper war seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts das andere sogenannte Flagg-Schiff der Republik. Erinnern wir uns daran, dass es sich um ein venezianisches Theater handelte: Das San Cassiano, das erstmals 1637 seine Pforten für die Öffentlichkeit öffnete. Eine echte Revolution! Seit diesem Tag konnten alle Schichten der Gesellschaft dieselbe Oper sehen, indem sie eine einfache Eintrittskarte bezahlen! Aber es kommt natürlich nicht in Frage: Feine Patrizier und elende Schurken (?) nebeneinander zu setzen! Daher die kluge Aufteilung der Gesellschaft nach einem gut kontrollierten Plan, der noch in der Zeit von Vivaldi galt: Im Parterre drängten sich die kleinen Leute der Gondeliers und Zimmer-Mädchen stehend, zahlten aber sehr wenig Eintritt. Auf dem ersten und zweiten Balkon waren die Adligen in eleganten Logen untergebracht, die gemietet oder für astronomische Summen gekauft wurden. Je höher man die Stockwerke erklimmt, desto beliebter wurden die sozialen Kategorien: Bis hin zum berühmten „Taubenschlag“! Aus dieser Anordnung im Raum ergab sich auch ein bestimmtes Verhalten des Publikums, das wir uns heute nur noch sehr schwer vorstellen können. Jeder kam und ging im Parterre, ging jederzeit ein und aus um sich nur in den großen Momenten der Schau zu konzentrieren: Wie zum Beispiel die Arie des berühmten arroganten Kastraten oder der skandalumwitterten Prima Donna zu hören. Auch die Haltung der Adligen konnte man absolute nicht vorteilhafter nennen! In den Logen aß man schmatzend Sorbet, trank oder spielte laut Karten, um sich während der Rezitative die Zeit totzuschlagen. Man konnte sogar mit einem Vorhang seine Loge verschließen, um sich besser mit einem schönen Geschöpf zu isolieren und sich ganz anderen Freuden als der Musik hinzugeben. Aus dieser Trennung zwischen den Gesellschafts-Schichten resultierten unzählige unangenehme Vorfälle: Die oft fröhlichen Spott-Rufe des einfachen Volkes wurden mit dem tollen Bespucken von den Adligen beantwortet.
Das Programm der Aufführungen war das Jahr über nicht weniger kodifiziert als die soziale Organisation in den Opernhäusern selbst. Die Oper konnte zur Zeit Vivaldis nur während dreier Karnevals-Perioden funktionieren. Vergessen wir nicht, dass die Idee des Karnevals überhaupt nicht unseren aktuellen heutigen Kriterien entspricht: Es war ein Fest das in wenigen Tagen vor dem Faschings-Dienstag die Straßen eroberte! Für Vivaldis Zeitgenossen entsprach der Karneval dem, was wir heute als die „Saison der Spektakels“ bezeichnen würden. Deshalb dauerte es fünf oder sechs Monate im Jahr aufgeteilt in drei Zeiträume, in denen alles erlaubt war: Oper, Theater, weltliche Konzerte, Glücksspiele, Marionetten und Seiltänzer. Der Karneval begann in der Regel am ersten Sonntag im Oktober und endete etwa Mitte Dezember! Er dauerte vom Tag nach Weihnachten an und endete der Überlieferung nach am Abend des Karnevals um Mitternacht! Schließlich erschien er für vierzehn Tage zur Zeit von Sensa, der Himmelfahrt, einem wesentlichen Fest des Jahres: Das die Hochzeit von Venedig mit dem Meer feierte! Auch im Dogen-Palast war das Tragen einer Maske während all dieser Monate der Feierlichkeiten erlaubt, was Zehntausenden ausländischen Besuchern den Eindruck vermittelte, das diese ideale Anonymität allen völlige Freiheit gewährleistete.
Vivaldi: Komponist und Impresario…
Die Entstehung einer Oper konnte nur in diesen drei Jahreszeiten stattfinden, die an sich recht hierarchisch waren: Es war prestigeträchtiger in der Zeit vor Faschings-Dienstag zur Aufführung eines neuen Werks eingeladen zu werden, als etwa in der Zeit von Oktober bis Mitte Dezember. Doch selbst wenn eine Beteiligung wie die Oper Orlando furioso im Herbst 1717 geschaffen wurde, spricht nichts dafür: Das sie weniger gut wäre! Oft wird ein Komponist im selben Jahr auf mehreren Bühnen und mit mehreren Werken gerufen. Er konnte sich vor dem Faschings-Dienstag nicht auf alles konzentrieren und musste stattdessen auch seine Kreationen oder Reprisen an verschiedenen Orten ausbreiten. So erging es auch Vivaldi im Jahr 1727, das für ihn sehr arbeitsreich war. Während der prestigeträchtigen Karnevals-Zeit von Januar- Februar hatte er die Möglichkeit, Ipermestra, RV. 722 (1727) in Florenz und Farnace, RV. 711 (1727) in Venedig zu geben. Im Frühling kommt Siroe, re die Persia, RV. 735 (1727) im Reggio d’Emilie an die Reihe und schließlich wurde sein Orlando furioso im Herbst wieder in Venedig aufgeführt. Hinzu kam im selben Jahr die Veröffentlichung einer Sammlung von Konzerten: La Cetra (1727), sowie die Entstehung der Serenade: L’Unione della pace e di Marte, RV. 694 (1727) und auch das Te Deum, RV. 693 (1727), geschrieben anlässlich der Geburt von Zwillingen am Hofe von König Louis XV (1710-1774) im August.
In seinem Lieblings-Theater, dem Teatro Sant‘Angelo fanden die meisten seiner Kreationen statt. Gott weiß jedoch, dass es in Venedig nicht an Theatern mangelte! Von den sechzehn Theatern, die im 17. Jahrhundert manchmal nur für wenige Jahre entstanden, blieben aber elf zu Lebzeiten von Vivaldi während der Maskenzeit bestehen, darunter sieben für die Oper. Unter ihnen gehörte das Teatro San Giovanni Grisostomo, das wohl prestigeträchtigste von allen: Der Familie Grimani. Hier traten die besten Sänger der Zeit auf, wie zum Beispiel der Kastrat Nicola Broschi, genannt Farinelli (1705-1782), der in den 1720er Jahren vier Spielzeiten lang dort auftrat. Vivaldi wird auch einige seiner „Schlager“ in seine pasticci auswechseln! Oder sogar die Faustina Bordoni (1697-1781) und auch Francesca Cuzzoni (1696-1778), zwei der berühmtesten prime donne, die das 18. Jahrhundert kannte.
Jedoch achtzehn seiner Werke schuf Vivaldi doch im bescheideneren Teatro Sant’Angelo, wo er zu verschiedenen Zeiten auch die Funktion des Impresarios, genauer gesagt des direttore delle opere hatte. In der Tat eine schwere Aufgabe, die er offenbar sehr gut bewältigte, wenn auch nicht ohne finanzielle Sorgen! Aber jedoch mit der wertvollen Hilfe seines Vaters doch noch recht gut zurechtkam! So sehr das Teatro San Giovanni Grisostomo auch heute noch unter dem Namen Teatro Malibran zu bewundern ist, bietet das Theater des Prete Rosso diese Möglichkeit nicht mehr. Es wurde zu beginn des 19. Jahrhunderts abgerissen und befand sich am Grande Canale, rechts von der Anlegestelle Sant’Angelo. Auf der angrenzenden Etage über dem campiello wohnte in einem Salle Anna Giro (1710-1748), die Lieblings-Sängerin des Komponisten und ihre Schwester. Wenn es zu Vivaldis Zeiten nicht an Klatsch und Anspielungen über die seltsamen engen Beziehung mangelte, die ein Priester zu einer sehr jungen und schönen Sängerin pflegen konnte, die nie von seiner Seite wich und alle seine Titelrollen sang. Es scheint dass niemand jemals in der Lage sein wird zu beweisen, dass zwischen Meiser und Schülerin mehr als nur eine enge Beziehung bestand (sic).
Auf jeden Fall sei wie es sei, verwaltete auf jeden Fall hier Vivaldi mit der Hilfe seines kleinen Familien-Unternehmens die Engagements der diversen Künstler, ihre Verträge, die Zusammenstellung der Aufführungen, ihre Kreation und das finanzielles Gleichgewicht. So entstand die Oper Orlando Furioso, dieses strahlende Juwel der großen Vivaldi-Produktion, das den Kastraten keinen Vorrang einräumte. Im Gegenteil zog er die Frauen-Stimmen vor, insbesondere die Mezzo-Sopranistinnen und die Altstimmen in den Vordergrund stellte! Lucia Lancetti (1702-1755) sang die Rolle des Orlando besonders atemberaubend laut Zeugenaussagen dieser Zeit, obwohl sie laut Konventionen der Epoche durchfallen müsste. Während Giro in ihrer dreißigsten Oper noch immer viel Applaus erhielt und noch einige Zeit lang zu den großen Stimmen der Serenissima zählte.
D A S P R O G R A M M:
Giovanni Legrenzi (1626-1690): 1.) ARIA – Auszug in der Intrumenten-Version aus LA DIVISIONE DEL MONDO (1675). *** 2.) SINFONIA IN H MOLL, RV. 168 (1638) *** 3.) KONZERT FÜR VIOLINE IN RE-MOLL, RV. 813 (1733) *** Michelangelo Gasparini (1670-1732): 4.) RODOMONTE SDEGNATO (1714) Arie: “Il mio crudele amor” *** 5.) L’OLIMPIADE, RV. (1734) Arie: Siam navi all’onde algenti” *** Johann Sebastian Bach (1685-1750): 6.) ANDANTE BWV. 974 (1708) nach Alessandro Marcello (1673-1747). *** 7.) FOLLIA, RV. 63 (1703) *** 8.) Konzert RV. 768 (1700) *** 9.) Konzert RV. 356 (1729) *** 10.) ANDROMEDA LIBERATA, RV. 749 (1726) Arie: „Sovvente il sole“ *** 11.) CIACONNA, RV 370 (1711) *** 12.) L’ESTATE, RV. 370 (1725) *** 13.) FARNACE, RV 711 (1727) Arie: “Gelido in ogni vena” *** 14.) LA FIDA NINFA, RV. 714 (1732) Arie: “Alma oppresso”.
VIVALDI - Konzert - Salle Gaveau Paris - 31. Januar 2024
Unnachahmlich, wütend, extravagant, verschwenderisch, ungewöhnlich…
Ohne jegliche Manieren, Liebhaber guter Weine, extrem bigott, in der Lage mit einem Blick auf die Bibel mit größten Mistrauen in eine überschwängliche Euphorie überzugehen: Es scheint das der Prete Rosso systematisch eine theatralische Spur hinterlassen wollte! Es ist wahr, dass dieser Musiker, einer der berühmtesten und einflussreichsten des 18. Jahrhunderts aus dem populären Bezirken von Castello in Venedig stammte und dessen „furchteinflößende Violine“ die Hälfte der Menschen auf den Straßen dazu brachte: „Sich gegenseitig umzubringen“, da sie von einem mysteriösen „Gefühl von Brustschmerzen“ betroffen waren (sic)! Der Maître eines Waisenhaus-Orchesters, der Impresario des berühmt-berüchtigten Teatro Sant’Angelo, der am Ende übereilt incognito Venedig verlassen wird, um im großen Elend in Wien zu sterben! Obwohl er alle Voraussetzungen für ein großes schillerndes Leben hatte! War es sein vorgeschriebenes Schicksal?
Das von dem außergewöhnlichen jungen talentierten französischen Geiger Théotime Langlois de Swarte geleitete Ensemble Le Consort, siehe Video oben, in Begleitung des extraordinären französischen Cembalisten Justin Taylor und der wunderbaren einmaligen französischen Mezzo-Sopranisten Adèle Charvet lädt das Publikum im übervollen Salle Gaveau Paris ein: Um in Venedig in die ungewöhnlichen Fußstapfen des Prete Rosso zu treten!
Das Konzert heute Abend möchte das abenteuerliche Leben von Vivaldi musikalisch erzählen und sich dabei sowohl von seiner Biografie als auch von all den Anekdoten und Legenden rund um den Prete Rosso (rothaariger Priester) inspirieren zu lassen. So spielen die Musiker sein stürmisches Violinen-Konzert in d-Moll und erinnern damit an die zweifelhafte Geschichte, nach der Vivaldi in einer sehr stürmischen lauten mondlosen Nacht geboren wurde… Es ist auch eine Gelegenheit für die Künstler, somit ein unveröffentlichtes Werk von Vivaldi und ihre eigene Rekonstruktion davon vorzustellen. Aber Vivaldi ist nicht der einzige Komponist, der an diesem Abend gespielt wird und mit einem Auszug aus La Divisione del Mondo von Legrenzi, der Maestro di Cappella in der Basilica di San Marco war, wo der Vater von Vivaldi Geige spielte, beginnt also das Programm. Bach ist auch in einer Andante für Cembalo, inspiriert von dem venezianischen Komponisten Marcello vertreten. Schließlich kommt auch die lyrische Musik ebenfalls mit glänzenden Opern-Arien von Vivaldi nicht zu kurz.
Langlois de Swarte lässt seine Energie in alle Musiker seines Ensemble Les Consort einfließen, die auch auf ihn eingehen und ihn mit ebenso viel Intensität wie Klarheit begleiten, auch die Solistin wird von ihnen mit großer Aufmerksamkeit unterstützt. Er selbst bietet ein solides Spiel, sowohl flüssig als auch klar, manchmal auch sehr hektisch, wobei er versucht die dramatische Spannung der Musik zu erhöhen, sich aber in den schönsten Momenten auch erlaubt: Zu einer gewissen Weichheit zu driften und das besonders in dem weltberühmten „Schlager“ mit dem Auszug Sommer aus dem Konzert Die Jahreszeiten. Das Publikum kann neben seiner Konzentration ab und zu auch ein Lächeln auf seinem Gesicht bemerken, während er spielt. Im übrigen herrscht bei allen Musikern eine tolle Ambiente und sie lachen oft einzeln und auch zusammen: Es ist eine besondere Freude für uns, zu sehen das sie viel Freude an der Musik haben! Das steckt angenehm an! Auch wird man davon nicht krank!
Am Cembalo demonstriert Taylor einmal mehr seine außerordentliche präzise Feinheit des Spiels, das sowohl mathematisch geordnet als auch mit einer stillschweigenden, aber dennoch echten Emotion ausgestattet ist. Es ist bereits im ersten Werk von Legrenzi präsent, das das Konzert eröffnet und mit dem Cembalo allein, ruhig und gelassen beginnt, bevor es von den Violinen übernommen wird. Was Bach betrifft, so ist es bei ihm wie eine zweite Natur und der Cembalist gewöhnte sich schon lange mühelos daran: Indem er jede Note harmonisch aber sehr deutlich und klar auswählt!
Schließlich leiht Charvet ihre vollmundige Mezzo-Stimme Vivaldi! Das Timbre ist klar, sehr leuchtend aber auch gedämpft, abgeschattet vom tiefen Bass ihres dunklen samtigen Tons. Der Prete Rosso wäre uneingeschränkt voll überzeugt und auch heiß überkopf in diese Interpretation verliebt! Denn wir wissen dass er die weibliche Stimme - und nicht nur die Stimme (!) – aber auch besonders das Timbre der Mezzosopranistin bevorzugte: Er hatte wohl nicht viel im Sinne mit Kastraten! Auch wir selbst müssen gestehen, dass wir seit ihrer emotionellen und leidenschaftlichen Interpretation als Hélène in der Kreation der Kammer-Oper Le Journal d’Hélène Berr von Bernard Foccroulle an der Opéra National du Rhin Straßburg (Siehe auch IOCO-Kritik!) im Dezember 2023 überaus überzeugt sind von ihrem außergewöhnlichen Talent. Auch wissen wir, das besonders die Interpreten der Barock-Epochen besonders gut geeignet sind zeitgenössische Musik zu kreieren! Auch hier ist die Hingabe präsent und die Sängerin fügt sich vollständig in ihre jeweilige Arie ein, besonders intensiv in der Arie: „Gelido in ogni vena“ aus der Oper Farnace, bei dem sich zu Beginn der Musik ihr anfangs lächelndes Gesicht allmählich anspannt in die furchtbare Angst der Figur versunken, bevor sie anfängt zu singen. Das zeigt einmal mehr das sie auch ein geniales dramatisch-theatralisches Talent aufweist! Man glaubt was sie interpretiert! Auch der Gesang ist natürlich sehr geschmeidig, auch wenn vielleicht die italienische Diktion nicht immer perfekt und klar ist, besonders in der letzten Arie: „Alma oppressa“ aus der Oper La fida ninfa. Aber die gewaltige Schnelligkeit und Präzision der Interpretation ist fast so wie nie gehört: Auch das Publikum bleibt nicht gleichgültig und applaudiert der charmanten Sängerin äußerst lautstark. Um kurz noch einmal zu sagen: Eine vielleicht nicht perfekte Diktion kann man erlernen, aber ein außergewöhnliches Natur-Talent und das in jeder Hinsicht kann man nicht erlernen: Man hat es oder man hat es nicht!
Auch wenn der Saal nicht ganz voll war, aber dennoch sehr gut gefüllt und das Publikum dankte den Künstlern mit stürmischem verdienten Beifall. Als Zugabe interpretierte die sympathische Sängerin die berühmte Arie: „Lascia ch’io piango“ aus der Oper Giulio Cesare in Egitto (1724) von Georg Friedrich Händel (1685-1759) mit sanfter Emotion und dann wird noch einmal die feurige Lebhaftigkeit von Vivaldi mit der Wiederholung der Arie: „Alma oppressa“ interpretiert: Das somit den äußerst gelungenen Abend festlich abschließt!
HINWEIS für in Paris anwesenden Musik-Liebhaber: Die PHILIPPE MAILLARD PRODUCTIONS bieten die ganze Saison über Konzerte, Lieder-Abende, Kammermusik-Abende und religiöse Musik an den folgenden Orten an: Salle Gaveau, Salle Cortot, Théâtre Grevin und der Kirche St. Roch.
Auskunft und Karten: www.philippemaillardproductions.fr Tel.: +33 / 01 48 24 16 97. (PMP/04.02.2024)