Paris, Philharmonie -Grand Salle, ANNIVERSAIRE BOULEZ 100 / RITUEL, IOCO
PIERRE BOULEZ, EIN FACETTENREICHES PORTRÄT… Der französische Tänzer und Choreograf Benjamin Millepied und seine amerikanische Kompanie L. A. Dance Project, die den Klassizismus des Balletts und den zeitgenössischen Tanz verbindet, zelebrieren

27.03.2025 - A N N I V E R S A I R E B O U L E Z 1 0 0 / R I T U E L - Orchestre de Paris / Esa-Pekka Salonen, Dirigent - L. A. Dance Project / Benjamin Millepied, Choreograph - Konzert mit Werken von Strawinsky, Bartók, Boulez.
von Peter Michael Peters
In Memoriam Pierre Boulez (1925-2016) - youtube Philharmonie de Paris
PIERRE BOULEZ, EIN FACETTENREICHES PORTRÄT…
Der französische Tänzer und Choreograf Benjamin Millepied und seine amerikanische Kompanie L. A. Dance Project, die den Klassizismus des Balletts und den zeitgenössischen Tanz verbindet, zelebrieren mit dem Orchestre de Paris unter der Leitung des finnischen Dirigenten Esa-Pekka Salonen ein sogenanntes Rituel rund um drei zentrale Partituren der musikalischen Moderne.
Drei Bilder im musikalischen Gedächtnis…
Igor Strawinsky (1882-1971) hatte ein besonderes Gespür für Blasinstrumente, die er „objektiver“ fand als Streichinstrumente und konzipierte sein Oktett für Blasinstrumente (1923) als ein „reines Klangobjekt“, bei dem die Form im Mittelpunkt stand: Es besteht aus drei Sätzen, von denen der letzte eine Fuge ist.
Béla Bartóks (1881-1945) Musik für Streichinstrumente, Schlagzeug und Celesta (1937) ist sowohl frei als auch tief durch innere Symmetrien strukturiert – basierend auf dem Goldenen Schnitt – und gehört zu den Meisterwerken des 20. Jahrhunderts. Auf das fugierte Andante, das sich wie ein Fächer öffnet und schließt, folgt ein Allegro, das auf einer Folklore-Nachbildung basiert. Dann folgt vor dem perkussiven Finale das Adagio, in dem sich Harfe, Celesta und Klavier zu einer unglaublichen Textur verbinden, die den französischen Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992) sagen ließ: „Es ist, als würde Seide zerreißen…“
Schließlich steht Pierre Boulez‘ (1925-2016) Stück: Rituel in memoriam Bruno Maderna (1975) das das Orchester in acht Instrumentengruppen räumlich aufteilt und in fünfzehn subtil abwechselnde Teile gegliedert ist, in der Tradition der musikalischen Hommage – oder des „Grabmals“, das dem italienischen Komponisten Bruno Maderna (1920-1973) gewidmet ist.

Millepieds Choreografie für Rituel wurde vom Orchestre de Paris – Philharmonie de Paris, dem Los Angeles Philharmonic Orchestra, dem New York Philharmonic Orchestra und dem L.A. Dance Project in Auftrag gegeben.
Die Qual des Verlustes hat sich in eine mysteriöse Erfahrung verwandelt…
Das allgegenwärtige Werk des Komponisten und der intellektuelle Beitrag der Kulturfigur: Pierre Boulez bringt die Veranstaltung in ein Haus, dessen Grundstein er selbst gelegt hat…
… er wurde am 26. März 1925 geboren. In diesem Jahr wäre er 100 Jahre alt geworden. Ein hundertjähriges Jubiläum, das die Philharmonie de Paris feiern muss, so groß ist die Schuld gegenüber dem Mann und seiner Gründungsvision. Das Programm der Philharmonie de Paris ist mehr als nur eine Hommage, es entwirft ein facettenreiches Porträt des Meisters. In zwei Etappen: Zunächst Anfang Januar, dann während eines großen Jubiläums-Wochenendes vom 26. bis 28. März 2025. Neben dem Komponisten, einem der bedeutendsten des 20. Jahrhunderts werden wir einen Dirigenten mit einem unvergleichlichen Gehör sowie einen hervorragenden Lehrer entdecken… Kurz gesagt: Einen kompletten Musiker und einen kompletten Menschen: Immer auf der Suche!
Zur Eröffnung der Feierlichkeiten, die am 6. Januar 2025 begannen, wurde dem Ensemble intercontemporain und Ircam eine Ehre zuteil, zwei Schwester- und Ergänzungsinstitutionen, die von Boulez gegründet wurden, um der künstlerischen und musikalischen sowie wissenschaftlichen Forschung zu dienen. Die Ehre wurde auch zwei ehemaligen EIC-Solisten zuteil, dem französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard und dem französischen Cellisten Jean-Guihen Queyras. Auf dem Programm dieses Familientreffens auf höchstem Niveau stand Répons (1981), das absolute Meisterwerk von Boulez und zugleich eines der ersten Monumente elektroakustischer Musik in Echtzeit: Wie die großen Responsorien-Blätter der Renaissance schafft Répons einen Dialog über den Raum hinweg zwischen einem Instrumental-Ensemble, das im Zentrum des Arrangements steht, sechs im Raum verteilten Solisten und der Elektronik, ebenso vielen Klangakteuren, die Boulez meisterhaft zu einer Choreographie der Klänge im Raum vereint. Wir werden auch einige intimere Stücke hören, wie etwa Messagesquisse (1977) für Cello solo und sechs Celli und das treffend benannte Mémoriale (1985) für Flöte und acht Instrumente.

Zu den Meisterwerken von Boulez, die in den nächsten Wochen erklingen werden, zählen wiederum vom Ensemble intercontemporain interpretiert, Incises (1998), eine schillernde dreieckige Proliferation von Incises (1995), sowie Cummings is the Poet (1970) für gemischten Chor und Instrumental-Ensemble, geboren aus der Faszination des Komponisten für das poetische Wort und in diesem Fall für den so kühnen Dichter Edward Estlin Cummings (1894-1962), am 28. März 2025.
Weitere Orchester werden mit von der Partie sein: Das London Symphony Orchestra führt am 13. Januar 2025 unter der Leitung des britischen Dirigenten Sir Simon Rattle das mitreißende Éclat (1978) auf und das Orchestre National de France führt am 17. Januar 2025 mit dem französischen Dirigenten François-Xavier Roth die Notations pour Orchestre (1980) auf. Diese Douze Notations basieren auf einer Klavierpartitur aus dem Jahr 1944 und veranschaulichen die formale Radikalität des jungen Komponisten Boulez zu dieser Zeit sowie seinen Kompositionsprozess, bei dem er sich unermüdlich mit dem Werk auseinandersetzte.

Wir werden auch einige seltenere Juwelen entdecken können, sogar solche, von denen man mehrere Jahrzehnte lang überhaupt nichts gehört hat. So auch die räumliche Fanfare von Initiale (1987), die am 10. Januar 2025 von den Musikern des Orchestre de Paris aufgeführt wurde, neben Claude Debussys (1862-1918) Nocturnes (1900), von denen Boulez unvergessliche Versionen einspielte. Oder Polyphonie X (1951), am 26. März 2025: Dieses Werk ist die Frucht der kreativen Gärung eines jungen Boulez, frisch von der Musikhochschule, verrät aber zugleich seine Zweifel und wird durch seine Entstehung „eine ernsthafte Gewissensprüfung“ provozieren. An der Spitze des EIC wird der französische Dirigent Pierre-André Valade von dem bekannten französischen Musikwissenschaftler Claude Abromont (*1955) begleitet, um die Herausforderungen dieser wenig bekannten Partitur hervorzuheben.
Wie dieser Konzert-Workshop wird das Musikprogramm von einer Reihe Konferenzen, Treffen und Rundtischgesprächen begleitet: Es ist für jeden etwas dabei, vom Fortgeschrittenen bis zum Anfänger, wie zum Beispiel bei der unterhaltsamen Einführungssitzung „Roulez Boulez“, die sich an Jugendliche richtet. Und dabei sind noch nicht einmal alle Inhalte erwähnt, die auf der Jubiläumswebsite www.pierreboulez.org verfügbar sind: Illustrierte Biografie, Werkkatalog, Zeugnisse von Freunden und Kollegen sowie weitere Video- und Audioarchive über die Arbeit des Komponisten und Dirigenten…

Boulez selbst hätte diese pädagogische Arbeit sicherlich nicht missfallen, da er stets zukunftsorientiert arbeitete und sich unermüdlich für die Förderung der Musik und die Heranbildung neuer Generationen von Musikern und Komponisten einsetzte. Aus diesem Grund wären die Feierlichkeiten zu diesem hundertsten Geburtstag ohne die Schöpfung nicht vollständig. Die Musik von Boulez wird somit durch mehrere Auftragswerke, die zu diesem Anlass an verschiedene Komponisten vergeben wurden, ins rechte Licht gerückt. Einige, die ihn gut kannten, wie der französische Komponist Philippe Manoury (*1952) mit einer Hommage an Pierre Boulez am 17. Januar 2025 oder der schweizerische Komponist Michael Jarrell (*1958), der am 28. März 2025 die Besetzung von Cummings is the Poet für ein neues Werk übernimmt. Und andere, deren Weg sich erst kürzlich mit seinem gekreuzt hat, wie die britische Komponistin Charlotte Bray (*1982) am 6. Januar 2025.
Schließlich ist es Boulez, ein leidenschaftlicher Förderer multidisziplinärer Projekte, denn wie schon gesagt, Millepied mit seiner Kompanie L. A. Dance Project wird am 26. Und 27. März in den Mittelpunkt stehen. Sie übernahmen Rituel in memoriam Bruno Maderna, das das Orchestre de Paris unter der Leitung von Salonen für eine Hommage in Form eines getanzten Rituels in acht Instrumentengruppen räumlich aufgeteilt im Grande Salle Pierre Boulez - Philharmonie de Paris spielen wird. Unser hundertjährige Jubilar wird wieder einmal in guter Gesellschaft sein, denn er wird das Programm mit zwei Komponisten teilen, denen er selbst so oft gehuldigt hat: Strawinsky und Bartók.

Konzert im Grande Salle Pierre Boulez – Philharmonie de Paris am 27. März 2025
Sakralisierung des Rituals…
Strawinsky, Bartók, Boulez: Mit diesen drei Komponisten mit abwechslungsreichen Orchestrierungen bieten Salonen und das Orchestre de Paris eine beeindruckende Klangreise, besonders mit der erweiterten Reise in einem Rituel in memoriam Bruno Maderna, choreografiert von Millepied, der eine persönliche und einfühlsame eigene Aneignung bietet.
Die Wahl von Strawinskys Oktett für Blasinstrumente zum Auftakt des Abends ist überraschend: Dieses zu beginn der neoklassischen Periode des Komponisten geschriebene Stück war bei Boulez alles andere als beliebt… Das allein ist schon ein Grund zur Freude! Wir sind begeistert von der Interpretation der Musiker des Orchestre de Paris unter der Leitung von Salonen: Der Kontrapunkt, der die drei Sätze prägt, ist klar, die rhythmische Komplexität ist selbst in den vielfachen metrischen Überlagerungen spürbar, der Humor und die Lebhaftigkeit, aber auch eine gewisse Härte sind vorhanden.
In der Musik für Streicher, Schlagzeug und Celesta scheint der von Bartók verwendete volkstümliche Ton, der hier zu einer eigenständigen Sprache wird und das gesamte Werk durchdringt, vielleicht etwas in Vergessenheit geraten zu sein. Optisch bemerkenswert und mit einer außerordentlichen Homogenität versehen, fehlt jedoch der Interpretation dennoch ein Hauch von Begeisterung, ein Anflug von „Ungleichgewicht“. Kurz gesagt, von diesem Leben, das gerade Bartóks „imaginäre Folklore“ immer wieder mit solcher Begeisterung preist!

Mit Rituel in memoriam Bruno Maderna wird ein weiteres Universum eingeladen und durch Salonens Interpretation kraftvoll in den Vordergrund gerückt. Das Orchestre de Paris ist in acht Gruppen mit unterschiedlichen Klangfarben – Streicher, Blechbläser, Holzbläser, Schlagzeug, usw. – und dazu in unterschiedlicher Besetzung unterteilt. Zu den Musikern kommen noch acht Tänzer der Kompanie L. A. Dance Projekt hinzu. Maderna, dem diese Art von „Grabmal“ gehuldigt wird, ist hier im Hintergrund durch die gewaltige Räumlichkeit – für die sich der große Saal der Philharmonie de Paris nur sehr schwer eignet – und auch die dem Schlagzeug zugewiesene Hauptrolle: Heraufbeschworen! Diese und darunter auch der Gong, der die musikalische Rede unregelmäßig unterbricht, erinnern an andere Universen, andere Feierlichkeiten, andere Religionen. Und schließlich ist auch Strawinsky im musikalischen Material präsent, wenn auch entfernt: Ein wiederkehrendes melodisches Motiv aus Rituel tauchte in einer Hommage auf, die Boulez einige Jahre zuvor geschrieben hatte.
Es ist diese dreifache Evokation, die die Choreografie von Millepied nährt. Vier Protagonisten Lorrin Brubaker, Daphne Fernberger, Audrey Sides und Hope Spears stehen einem Tänzerpaar Jeremy Coachman und Courtney Conovan gegenüber, verbünden sich mit ihm oder antworten ihm, einzeln oder in Gruppen, in einer Geste, die zeitgenössische und auch asiatische, insbesondere indische Ausdrucksformen vereint. Indem sie die Musik mit ihren Bewegungen erweitern – Tremolo – Händeklatschen, kontrapunktische gewundene Figuren, wiederholen auch die Tänzer die fünfzehn aufeinanderfolgenden Abschnitte, wobei sie abwechselnd Duette, Trios und Ensembles spielend tanzen und sich unter die Musiker mischen. Doch stärker als die Explosion der Klänge oder die Bezüge zu ferner Musik ist hier der Einfluss Strawinskys spürbar. Durch die entschieden rohen Kostüme, durch gewisse Anleihen aus der Körpersprache, vor allem aber durch die Verwendung einer Auserwählten – und ihres letztendlichen Opfers – sakralisiert der Choreograf das Rituel von Boulez und bringt es näher an Le sacre du Printemps (1913) heran. Die Entscheidung , musikalische Gesten nicht durch Tanzgesten darzustellen, offenbart freie Körper, die zugleich geschmeidig und tief im Boden verankert sind. In der Choreografie interagiert ein Paar mit vier Charakteren, die manchmal vereint, manchmal gegensätzlich sind. Die führt zu ergreifenden Zeitlupenszenen, in denen die Protagonistin ihren Partner schlägt! Graue fließende, zerfetzte Kostüme verstärken den Bewegungsspielraum der Tänzer und betonen gleichzeitig die Primitivität dieses Rituels, an dessen Ende die Frau geopfert wird. Salonen, selbst in einer zerrissenen Jacke und Hose, trägt noch ein weiteres Detail: Einen roten Handschuh an der rechten und einen blauen an der linken Hand. Wohl eine Anspielung auf den rot/blauen Notizstift von Dirigenten wie Boulez und Maderna? Die Struktur von Boulez‘ Partitur, zwischen Versen und Antworten, steht in starkem Einklang mit der Architektur des Tanzes, zwischen Choreografie und Improvisation. Die Osmose der beiden Künste verleiht diesem Rituel den Anstrich der Ewigkeit… Vielleicht eine radikale Neuinterpretation, aber eine: Die das Herz berührt! (PMP/31.03.2025)