Paris, Philharmonie de Paris, Diana Damrau - Jonas Kaufmann - Helmut Deutsch, IOCO Kritik, 15.04.2022
LOVE SONGS – Robert Schumann - Johannes Brahms
Diana Damrau, Sopran - Jonas Kaufmann, Tenor - Helmut Deutsch, Klavier
von Peter Michael Peters
TIEF EMPFUNDENE UND HINREISSENDE DARBIETUNG
Als Johannes Brahms (1833-1897) Robert Schumann (1810-1856) am 1. Oktober 1853 traf, spielte er ihm seine Klavierkompositionen und seine ersten Lieder vor. „Ein Genie“, schwärmt der Ältere, überzeugt seinem Erben begegnet zu sein. Doch wenn das Lied im Werk der beiden Musiker einen wichtigen Platz einnimmt, von dem es die intimsten Gefühle widerspiegelt, offenbart es doch auch eine andere Auffassung von poetischen Texten.
Für die Liebe einer Frau…
Als Schüler von Friedrich Wieck (1785-1873) ab 1828 lernte Schumann dessen Tochter Clara kennen und knüpfte bald eine zärtliche Bindung zu dem 9-jährigen Kind. Dann verwandelt sich Zuneigung in geteilte Liebe. Aber Schumann träumt von unzugänglichen und zur Fleischwerdung bestimmten Gestalten. „Junge Mädchen sind eine Mischung aus Engel und Mensch“ erklärte er 1839. Im folgenden Jahr zitiert er Ave Maria (1825) von Franz Schubert (1797-1828) im Klaviernachspiel von Widmung (1848). Viele seiner Lieder vergleichen die geliebte Frau mit einer Heiligen. Im Jahre 1851 haben ihn die Verse von Elisabeth Kulmann (1808-1825) begeistert, weil diese mit 17 Jahren verstorbene Dichterin für ihn ein fast himmlisches Wesen darstellte, ein Wunderkind wie Clara zwanzig Jahre zuvor war.
Als Schumann die Hand seiner Geliebten sucht, stößt er auf die Verweigerung von Wieck. In Saxen verlangt man in dieser Zeit die Zustimmung beider Elternteile zur Genehmigung einer Eheschließung und so leitet Schumann daraufhin ein Gerichtsverfahren ein, es war die einzige Möglichkeit die Verweigerung zu annullieren. Abseits von Clara, die Wieck ihm zu sehen untersagte, komponierte er 1840 einen außergewöhnlichen Liederstrauß: Mehr als 130 Nummern, inspiriert von seiner Muse. Solche Liebesgaben erfüllen Clara mit viel Freude und sie antwortet, nachdem sie das Lied Der Nussbaum (1840) erhalten hatte: „Es ist das zärtlichste Lied, das man sich vorstellen kann, so ganz natürlich und auch nachdenklich: Ich habe es heute schon mehrmals gesungen. Ich weiß nicht, wie viele Male und ich liebe es.“
In seinen Liedern vertraut Schumann nicht nur seine Hoffnungen an, sondern projiziert sich auch in das tragische Schicksal der Liebenden in dem Lied Tragödie (1840). Durch mehrdeutige Harmonien und instabile Rhythmen vermittelt es den Eindruck von trügerischem Schein und ständig wechselnden Stimmungen. Am 1. August 1840 entschied das Gericht endgültig zu seinen Gunsten. Am 11. September, dem Vorabend ihrer Hochzeit, bietet Robert seiner Braut Clara die Lieder des Zyklus Myrthen (1840) als Geschenk an, eine Brautkrone aus Gedichten verschiedener deutscher und angelsächsischer Autoren. Hatte ihn die Intensität seines Kampfes gebrochen? „Du meine Seele, du mein Herz…“ singt es in Widmung (1840) am Anfang des Zyklus. Im Oktober 1840 gesteht Schumann, dass „das Gleichgewicht ständig zwischen Freude und Schmerz schwankt“. Aber einige Wochen später schöpfte er wieder Hoffnungen, indem er von einer Verschmelzung von Seele und Natur träumte in Stille Tränen (1840).
Die großen Themen der deutschen Romantik spiegeln auch die intimen Gefühle von Brahms wider: Manchmal zuversichtliche Liebe in Geheimnis (1877), Weg der Liebe (1858), Die Boten der Liebe (1874), oft enttäuscht oder zumindest gequält Serenade (1877), Versunken (1877-79), Ach, wende diesen Blick (1871); nachts, förderlich für Vertraulichkeiten in Geheimnis (1877), Von ewiger Liebe (1857), O komme, holde Sommernacht (1871); die Situation in der Natur, Spiegel der Seelenstimmungen in Verzagen (1877), Meerfahrt (1884), Meine Liebe ist grün (1893). Aber der Musiker wird niemals eine der Frauen heiraten, die er liebt, weder Julie Schumann (1845-1872), noch Agathe von Siebold (1835-1909), die Inspiration für Weg der Liebe (1862), Die Liebende schreibt (1847) und Sehnsucht (1858-68). Entweder werden seine Gefühle nicht erwidert oder er zögert sich zu binden und gibt am Ende auf. Oder die Geliebte kehrt ihm den Rücken, entmutigt durch das Aufschieben und seiner Unentschlossenheit. Könnte es anders sein? Seine einzige wahre Liebe widmet Brahms der vierzehn Jahre älteren Clara Schumann (1819-1896). Die Kluft könnte ihn an den Altersunterschied zwischen seinen eigenen Eltern erinnern, da seine Mutter siebzehn Jahre älter war als sein Vater. 1893 vertonte er Meine Liebe ist grün. Das Gedicht seines Patensohns Felix Schumann (1854-1879) inspirierte ihn zu einem seiner glühendsten Lieder, das er Clara widmete. „Ich liebe dich mehr als mich selbst, mehr als jeden anderen und mehr als alles auf der Welt“ schrieb er ihr. Aber seine Leidenschaft reimt sich auf eine große Hingabe gegenüber Robert und seiner Witwe, daher auch unerreichbar. Was Clara betrifft, sie bleibt ihrem Ehemann über den Tod hinaus treu. Wenn sie von dem jungen androgyn wirkende Musiker verblüfft war, als er 1953 in ihr Leben platzte, lag das wohl daran, dass er eine Art idealen Sohn verkörperte.
Die Lieder von Schumann und Brahms sind vor allem Ausdruck eines männlichen „Ich“. Aber sie geben von Zeit zu Zeit auch Frauen eine Stimme, jedoch in Versen männlicher Dichter: Jemand (1840), Liebeslied (1848), Er und sie (1849) und Liebster, deine Worte (1849) bei Schumann; Therese (1877-79) und Die Liebende schreibt (1858-68) bei Brahms. Ein paar seltene Dichterinnen, wie Kulmann schlüpfen hier und da hinein. Was Marianne von Willemer (1784-1860) betrifft, so wurden ihre Gedichte bis in die 1870er Jahre Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) zugeschrieben. Als Schumann Lied der Suleika (1840) komponierte, dachte er, dass er den Autor des Faust (1790) vertonte.
Poesie und Wahrheit
Während Schumann Gedichte von den größten Dichtern seiner Zeit vertont, wählt Brahms oft Gedichte von zweitrangigen Poeten. Wenn er sich ein paar seltene Texte von Heinrich Heine (1797-1856) Meerfahrt, Joseph von Eichendorff (1788-1857) Anklänge (1853) oder Goethes Serenade und Die Liebende schreibt ausleiht, scheint er zu befürchten, dass ihre Perfektion seine Vorstellungskraft mehr hemmen als anregen würde. Darüber hinaus überträgt er das allgemeine Klima der Texte – nicht ihre Details – in einen kammermusikalischen Geist, der dem seiner Instrumentalwerke ähnelt. Er bekräftigt auch seine Vorliebe für den Volkston: Kurze Sätze, reduzierter Tonumfang, diatonische Gesangslinie ohne grosse Intervalle, Silbenfluss, einfache Rhythmik, manchmal farbige Harmonisierung der Modalität. Brahms nutzt diese Eigenschaften für Texte in der mündlichen Überlieferung, wie Weg der Liebe (1858) übermittelt von Gottfried von Herder (1744-1803), Vergebliches Ständchen (1881-82) und Sehnsucht (1891) gesammelt und herausgegeben von August Ferdinand Kretzschmar (1848-1924) und Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1803-1869), aber auch für Gedichte von zeitgenössigen Autoren wie Therese von Gottfried Keller (1819-1890).
Obwohl Schumann mit dem Volkston weniger selbstverständlich umgeht als sein jüngerer Kollege, zeigt er sich ab 1849 bemüht, ein breiteres Publikum anzusprechen. Die Kategorien Liederspiel (1849), zu der Op. 74 und Op. 101 gehören, bekräftigt den Wunsch nach Unmittelbarkeit. Dies sind Sammlungen, die zum spielerischen Üben mit der Familie oder mit Freunden gedacht sind und Stücke für variable Besetzungen: Einzelstimme, Duo oder Vokalquartett enthalten und oft nach Gedichten populären Ursprungs wie die Volkslieder und Romanzen der Spanier übersetzt aus dem spanischen von Emanuel Geibel (1815-1884) für Op. 74.
Aber der Schmerz bleibt lauernd im Schatten. „Es wird dunkel“ schrieb Schumann an den Violinisten Joseph Joachim (1831-1907) am 6. Februar 1854, drei Wochen bevor er sich in den Rhein stürzt. Ab 1849 war allmählich die Dämmerung in seine Lieder eingedrungen. Resignation (1850) verwendet eine für seinen späten Stil charakteristische chromatische Harmonie. Bleibt dann doch noch die Hoffnung auf einen Stern, der ihn zu den himmlischen Höhen führen würde? Mein schöner Stern (1849)! Dann aber kommt der dunkle Auftakt zur ewigen Nacht: In der Nacht (1849), die den Traum von einer Seelenverschmelzung der ewigen Zeit trotzt.
Lieder-Rezital - 3. April 2022 - Philharmonie de Paris
Der dunkle und schöne Ton des Tenor Jonas Kaufmann fing die Introspektion von Schumann ein und verzahnte sich mit den wunderbaren Gesangslinien der Sopranistin Diana Damrau für einen hinreißenden Abschluss mit Brahms.
Die Natur der Liebe, wie sie in Liedern und Duetten von Brahms und Schumann erforscht wurde, war das Thema des jüngsten Konzerts in der Philharmonie de Paris von Jonas Kaufmann und Diana Damrau, das sorgfältig vom Pianisten Helmut Deutsch programmiert wurde und eine effektive Fortsetzung ihrer fast dramatisierten Aufführung von Hugo Wolfs (1860-1903) Italienisches Liederbuch (1891-1896) im Jahre 2018 bildete. Weniger offen theatralisch als das frühere Konzert und folglich nachdenklicher im Ton hatte das neue Programm viel von ihm gemeinsam und dennoch wurde alles scharf differenziert: Mit Liedergruppen von jedem Komponisten, die sorgfältig zu Erzählungen von Liebe, Verlust, Verlangen und Bestätigung gestaltet wurden. Anders als sein Vorgänger jedoch – der uns immerhin ein in sich geschlossenes Werk bescherte – stellte dieses Rezital das wenig Bekannte dem Vertrauten gegenüber und nahm sich gelegentliche Freiheiten mit dem Letzteren. Die Duette beider Komponisten sind echte Raritäten und oft faszinierend. Schumanns Tragödie, das eine katastrophale Flucht darstellt, die die Geliebten wehrlos im Exil zurücklässt, ist wunderbar strukturiert mit einer Strophe für jeden Sänger, bevor sich die beiden Stimmen in trauriger Betrachtung von Vergangenheit und Zukunft verweben. Brahms Die Boten der Liebe, mit dem das Konzert zu Ende ging, ist absolut hinreißend mit seinen ineinandergreifenden Gesangslinien, die unendliche Zuneigung und stille Zufriedenheit vermitteln.
Zweideutiger war jedoch die Entscheidung von Kaufmann und Damrau, Duette aus Liedern zu gestalten, indem die Dialoge ursprünglich für einen einzelnen Interpreten gedacht waren, was die oft übersehende Derbheit der Lieder noch viel deutlicher machte. Manchmal übersehen wir das Lied von Brahms Vergebliches Ständchen, das aber die Spannungen seiner außerordentlichen Von ewiger Liebe zerstreute. Zum größten Teil sangen sie hervorragend! Kaufmann war in besonders guter Form, sein dunkler und schöner Ton, vorbildlich seine dynamische Beherrschung, als er wunderbar die Introspektion von Schumann in Resignation einfing. Desgleichen Brahms Waldeinsamkeit und dann auch durch das stetige Crescendo von Stille Tränen aus Schumanns Kerner Lieder eine außerordentliche ständige Intensität bewahrte. Damrau brauchte einige Minuten, um sich zu beruhigen und zu konzentrieren: Es gab ein paar Momente am Anfang, in denen ihre Ausdrucksweise untypisch abglitt. Später dann schenkte sie uns Wunderbares – Schock und Traurigkeit in der zweiten Strophe von Tragödie und eine tief empfundene hinreißende Darbietung von Schumanns Lied der Suleika. Mit über zwei Stunden war dies ein sehr langes Programm und Deutsch spielte unermüdlich und durchweg mit großer Subtilität und dramatischer Zurückhaltung.
Warum eine Europa-Tour mit Lieder-Marathon…?
Ja, wir fragten uns nach allem, warum vierzig Lieder und Duette in einem Rezital? Warum riesengroße Säle für einen Liederabend? Wir vermissten die beglückende Intimität des Liedes und des Gesanges. Uns fehlte der enge persönliche Kontakt mit dem Poeten, die feine musikalische Verbindung mit dem Komponisten. Ja, es war nur eine sentimentale gigantische Show mit populären Love Songs: Ein demagogischer zugkräftiger Titel! Oder war es nur eine großangelegte geldbringende Großveranstaltung? (PMP/10.04.22)
---| IOCO Kritik Philharmonie de Paris |---