Paris, Paris-Vincennes, FESTIVAL LES NOCTURNES CLASSIQUE 2023, IOCO Kritik, 06.09.2023

Paris, Paris-Vincennes, FESTIVAL LES NOCTURNES CLASSIQUE 2023, IOCO Kritik, 06.09.2023
Paris – Vincennes / ORIENT-OKZIDENT hier vl Moslem Rahal, Hakan Guengoer, Jordi Savall, Waed Bouhassoun, David Mayoral, Dimitri Psonis Peter Michael Peters
Delta-Szene Parc Floral - Paris-Vincennes © Wikimedia Commons
Delta-Szene Parc Floral – Paris-Vincennes © Wikimedia Commons

FESTIVAL LES NOCTURNES CLASSIQUE 2023

« O R I E N T   – O K Z I D E N T »  – Ensemble Hespérion XXI –

von Peter Michael Peters

  • Jordi Savall / Ensemble Hespérion XXI
  • Laute, Leier& Musikalische Leitung
  • Waed Bouhassoun, Gesang & Oud
  • Moslem Rahal, Ney-Hackbrett
  • Hakan Güngör, Rohrflöte & Gesang
  • Dimitri Psonis, Santur & Chitarra moresca
  • David Mayoral, Tamboure, Tambourine & Gesang

ÖST-WESTLICHER DIWAN IN EINER SPÄTSOMMER-NACHT…

  • IN DAMASKUS – EIN LIEBESLIED
  • Schenke deine Liebe der Frau deiner Jugend:
  • Entzückendes Reh, aufblühende Gazelle.
  • Möge ihre Brust ihn in jedem Augenblick stillen
  • und ihre Liebe ihn für immer berauschen.
  • Gedicht (Auszug) von Qays Ibn Al-Mulawwah Al-Madjnun)

Wo die Musik kein Exil kennt…

Die Musiker des Ensemble Hespérion XXI spielen im Rahmen der Nocturnes des Festivals du Parc Floral in einer flauen Spätsommernacht im Bois de Vincennes-Paris. Der weltberühmte katalanische Musiker Jordi Savall (*1941) wird das von ihm selbst im Jahre 1970 gegründete Ensemble leiten. Der Komponist des Soundtracks für den Film Tous les matins du monde (1991) von Alain Corneau (1943-2010) wird außerdem von der sehr bekannten syrischen Sängerin und Komponistin Waed Bouhassoun (*1979) und folgenden Musikern begleitet: Moslem Rahal (Syrien), Hakan Güngör (Türkei), Dimitri Psonis (Griechenland) und David Mayoral (Spanien). Ein von Hespérion XXI angebotenes Welt-Musik-Konzert, gespielt auf Original-Instrumenten der jeweiligen Epoche und bei der die Musik kein Exil kennt

Dialog zwischen der Instrumental-Musik des antiken christlichen, jüdischen und muslimischen Hispaniens, Okzitaniens und des mittelalterlichen Italiens mit der Musik Marokkos, Israels, Persiens, Syriens, Afghanistans, Armeniens und des ehemaligen Osmanischen Reiches.

Paris - Vincennes / ORIENT-OKZIDENT hier vl Moslem Rahal, Hakan Guengoer, Jordi Savall, Waed Bouhassoun, David Mayoral, Dimitri Psonis © Peter Michael Peters
Paris – Vincennes / ORIENT-OKZIDENT hier vl Moslem Rahal, Hakan Guengoer, Jordi Savall, Waed Bouhassoun, David Mayoral, Dimitri Psonis © Peter Michael Peters

P  R  O  G  R  A M M

Shaoui (Syrien) / Alba (Castellani/Berber) / Ô Aube Ya fajr – Syrisches Lied / Erotôkritos – Byzantinischer Tanz / Mowachah: Billadi askara min aadbi lama – Arabisches Lied.

König Nimrod – Sephardisches Lied / In Damaskus – Syrisches Liebeslied (Text: Qays Ibn Al-Mulawwah Al-Madjnun (645-688 n. J. C.) / Der vierte königliche DruckDas Manuskript des Königs (Paris, 13. Jahrhundert) / Mowachah: Flyachia – Arabisches Lied.

Laili Djân – Afghanisches Lied / Ya Mariam el bekr – Hymne an die Jungfrau Maria (Syrisch/Libanesisch) / Koniali  Türkisch – Griechischer Tanz / Ya bour dayienne – Arabisches Lied und Tanz / Makâm-Uzzäl Sakîl „Turna“ Semâ’î  ( Türkisch / Mss. M. Cantemir (324).

Lamento di Tristano – Trecento mss. (Italien, 13. Jahrhundert) / Ce Brun Hal asmer – Traditionelles syrisches Lied / Rotundellus – Alfonso X. der Weise / CSM 105 (1221-1284) / Saltarello – Trecento mss. (Italien, 13. Jahrhundert) / ‚Al maya,‘ al maya – Arabisches Lied und Tanz.

Savall leitet mehrere Ensembles für historische Musik, darunter u.a.: Hespérion XXI, Le Concert des Nations und La Capella Reial de Catalunya. Er ist wohl einer der vielseitigsten Musik-Persönlichkeiten seiner Generation. Er begann seine Ausbildung am Musik-Konservatorium von Barcelona, wo er die später sehr berühmte Sopranistin Montserrat Figueras (1942-2011), seine zukünftige Frau, kennenlernte. Während eines Aufenthalts in Paris, wo er die Manuskripte von Marin Marais (1656-1728) entdeckte, wandte er sich dann der Viola da Gamba zu. Außerdem gründete er 1997 sein eigenes Musik-Verlags-Label Alia Vox. Er hat zahlreiche internationale Auszeichnungen gewonnen und erhielt auch berufliche Anerkennung von der katalanischen und spanischen Regierung.

Waed Bouhassoun c Festival Classique au Vert NEU4
Parc Floral – Paris Vincennes hier Waed Bouhassoun © Festival Classique au Vert

Im Jahre 1974 gründeten Savall und Figueras mit Lorenzo Alpert und Hopkinson Smith die Gruppe Hespérion XX, ein Ensemble für Alte Musik, das das musikalische Erbe vor dem 19. Jahrhundert wiederherstellen und verbreiten wollte. Die historischen Kriterien und die Original-Instrumente sind die Prämissen dieses Ensemble. Mit mehr als 60 veröffentlichen CDs gibt die Formation mittlerweile Konzerte auf der ganzen Welt und nimmt regelmäßig an allen internationalen Festivals für Alte Musik teil. Im Jahre 2000 änderte Hespérion XX seinen Namen in Hespérion XXI. Der Name Hespérion leitet sich von einem klassischen griechischen Wort ab, das sich auf die Völker der italienischen und iberischen Halbinsel bezog.

Dialog der Seelen…

Das Ergebnis ähnelt weniger einem typischen Crossover-Experiment als vielmehr einem transmediterranen Eintopf mit eng verwandten Stilen. Auf dieser Instrumenten-Kombination klingen Tänze aus dem italienischen Trecento, sephardische Romanzen, persische klassische Musik und spanische Tänze des 13. Jahrhunderts, als wären sie aus einem Guss. Der Zweck von Orient-Okzident besteht darin, zu veranschaulichen, wie eng die Musik des Mittelmeer-Raums kulturell miteinander verbunden ist, trotz der Spaltung seiner Völker und Religionen in christliche, jüdische und arabische Lager. Dass es in den Regionen des Nahen Osten täglich Krieg gibt, während dies geschrieben wird, lastet einwandfrei schwer auf den Gemütern dieser Musiker. Auch ist es zweifelhaft, dass einer von ihnen der Illusion unterliegt, das ihre musikalischen Bemühungen mit Orient-Okzident diese grausame Situation wohl verändern wird. Den tödlichen Zusammenstoß von arabischen Extremismus, rechtsgerichtetem Zionismus, westlichen Ölinteressen und ungenierten Imperialismus zu stoppen und die Region von ihrer brutalen Gewalt zu befreien, ist ein etwas zu hoher Auftrag, den diese acht Musiker trotz ihrer Exzellenz leider nicht erfüllen können.

Parc Floral - Paris Vincennes hier Jordi Savall © Festival Classique au Vert
Parc Floral – Paris Vincennes hier Jordi Savall © Festival Classique au Vert

Nichtsdestotrotz ist Orient-Okzident allein auf musikalischer Basis ein großartiges Erlebnis. Das ist es einwandfrei! Der kulturelle Austausch, der die einzigartige Mischung der hier erlebten Elemente erschafft, scheint fast alle Lücken der alten Musik-Quellen zu füllen. Hier ist beispielsweise ein viel satteres Lamento di Tristano zu hören, als wir es gewohnt sind und wenn unsere Ohren natürlicher auf den Klang eines türkischen Makam wie Uzal Sakil „Turna“ eingestellt wären, könnte der Eindruck vielleicht ähnlich sein. Indem wir diese Elemente – Instrumente, erhaltene Texte und erfahrene Spieler – zusammenbringen, erhalten wir ein vollständiges Geschmacks-Menü traditioneller mediterraner Musik, wie sie wohl einem Reisenden in einer Zeit bekannt gewesen sein könnte, bevor es zu diesen grausamen Konflikten zwischen den reichen Kulturen in so großem Maßstabe leider Gottes kam.

Jeder, der traditionelle Welt-Musik liebt, sollte diese überzeugenden Kulturwerke hören, trotz der Präsenz von klassischen Musikern, die dieses Material größtenteils in alten Musik-Traditionen interpretieren und wiedergeben. Orient-Okzident ist mehr als nur ein historischer Überblick oder eine zeitgemäße Aufführung, es ist ein echtes Werk des musikalischen Humanismus, das grösser ist als die Musik oder auch die Musikalität selbst, das versucht kriegerische Gegnerschaft mit ihrer Erinnerung an gemeinsame Interessen und Geschichte wieder erreichen will.

Als Musik jedoch ist Orient-Okzident unendlich faszinierend, rhythmisch belebend und rundum eine umwerfende und glaubhafte Manifestation des Frieden unter den Völkern…

Konzert in der Delta-Szene – Parc Floral Paris-Vincennes – 30. August 2023

Die Wiege der europäischen Musik…

Der katalanische Musiker mit seinen Freunden begleitete das begeisterte Publikum auf einer musikalischen Reise durch viele Jahrhunderte und zeigte an gespielten Musik-Beispielen den orientalischen Ursprung unserer sogenannten europäischen Musik. Diese raffinierten rhythmischen Klänge, die wohl am Anfang für unser Hörgefühl äußerst fremd klangen, sind auf jeden Fall die Wurzeln unserer heutigen Musik. Ob wir wollen oder nicht, es ist eine feststehende Tatsache! Ob wir Richard Wagner (1813-1883), Giuseppe Verdi (1813-1901), Ludwig van Beethoven (1770-1827) oder Mick Jagger (*1943) mögen: Der musikalische Ursprung ist im Orient!

Trailer – Orpheus XXI : Avec la Syrie | Einführung mit Jordi Savall
youtube Philharmonie de Paris
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An diesem leider nicht so lauwarmen Abend mit einer schon sehr starken frischen herbstlichen Briese durchzogen, wurden wir jedoch von einer an Herz und Seele gehenden musikalischen Wärme angeheizt und verwöhnt. Wenn die syrische Oudistin und Sängerin Waed Bouhassoun mit ihrer tiefen warmen Altstimme das traditionelle Lied Ô Aube Ya faijr aus ihrem Heimatland vorträgt, ist der Hörer unweigerlich auf das Tiefste innerlich ergriffen und vielleicht mit ein wenig Imagination  erinnert er sich an diese sagenumwobenen mysteriösen Tempelsängerinnen aus Mesopotamien oder Babylon. Er muss nicht einmal den Text verstehen, denn die Musik und der Vortrag allein sagt alles! Wie bei den meisten orientalischen Liedern fängt es ganz leise fast unhörbar an mit einem Musiker oder mit einem Sänger und langsam ergänzend setzten die anderen Instrumente ein. Langsam erhöht sich der Melodienstrom und wird ständig stärker und intensiver bis zum endgültigen Höhepunkt: Der dann in einem gewaltigen Vulkanausbruch endet, ja man könnte sogar sagen, wie ein großer musikalischer Orgasmus…

Mehrmals am Abend fing Jordi Savall mit seiner Laute eine leise Melodie zu spielen an und nach und nach setzen seine Freunde mit ihren eigenen Instrumenten ein. Diesmal waren es überlieferte Gesänge und Tänze ohne Notenbeispiele aus dem Hochmittelalter wie zum Beispiel La Quarte Estampie Royal oder auch das eindrucksvolle Lamento di Tristano, verglichen mit den am gleichen Abend vorgetragenen traditionellen orientalischen Liedern zeigten sie keinerlei Unterschied in der musikalischen Struktur und Interpretationsweise. Savall selbst erinnerte an einen der ersten namenlosen Minnesänger oder verwegenen Kreuzritter einer längst verloschenen Zeit. Es war einwandfrei der Übergang und die Vermischung von orientalischer und okzidentalischer Spielweise: Er zeigte uns einmal mehr die ganze natürliche Schönheit und die fremde erotische Vermessenheit von Tausendundeiner Nacht: Das unausweichliche Spiel von Liebe und Tod!

Einer der ältesten Mitglieder dieser Orient-Okzident-Musikgruppe ist der griechische Santur-Spieler Dimitri Psonis. Dieser äußerst sympathische Musiker spielte mit seinem türkischen Kollegen, dem Kanun-Flötenspieler Hakan Güngör eine griechisch-türkische Volksweise Koniali: Hier hörten wir eindrucksvoll und deutlich diese schon genannte Vermischung von einander fremden Zivilisationen! Die Rohrflöte von Güngör erinnerte sicherlich an den nur am Nachmittag spielenden und tanzenden Pan im durchsonnten blumigen Arkadien bei der Verfolgung einer der unzähligen Nymphen. Psonis‘ Zitter erinnerte an die unendlichen Lamentos mit reichen sehnsüchtigen Tönen: Die durch die kalte sternenreiche Pariser Nacht schwebend klangen.  Auch ist es sehr interessant zu bemerken, das auch noch heute die griechische Tradition deutlich den orientalischen Musik-Kern in sich trägt. Natürlich war es auch politisch bedingt durch die mehrere jahrhundertalte osmanische Herrschaft über Griechenland! Das Parallel finden wir auch im Byzantinischen Reich und später in Spanien…

Der syrische Ney-Hackbrettspieler Moslem Rahal spielte mit einer unvergleichlichen Handfertigkeit dieses seltene und schwierige Instrument. Er interpretierte mit seiner syrischen Kollegin Waed Bouhassoun einen tieftraurigen melancholischen Tanz Ce Brun Hal Asmar und später dann das syrische Lied Al Maya, al maya. Das Ney ist wahrscheinlich das älteste Musikinstrument unserer langen Kulturgeschichte, denn man fand in den ägyptischen Pyramiden Fresken-Malereien davon: Zarte lotusblumenhafte Spielerinnen musizierten und tanzten für den großen mächtigen Pharao Ramses II. (1303/04-1213 v. J. C.) Auch hier das gleiche Musik-Schema mit einem extrem leisem Anfangs-Moment bis zum explosiven fast unerträglichen Höhepunkt mit der gesamten Musikgruppe. Man könnte fast von einer plötzlichen Übertretung der Seelen in eine andere Welt…, in eine andere Dimensionen reden! Der Gott Amon hatte hier wohl mitzureden und zeigte das unendliche Sternenfirmament mit der am frühen Morgen aufsteigenden Sonne! Re ist wieder geboren wie an jedem Morgen!

Der weltberühmte jüdisch-spanische Tambour-Spieler David Mayoral gehört schon sehr lange der Gruppe Orient-Okzident an, sein rasantes und tiefsinniges quirliges Spiel bringt das kleine „Etwas“ in diese so reiche und einfallsreiche kosmopolitische Musik ein. In der byzantinischen Tanzmelodie Erotôkritos entfaltete er sein ganzes großes und geniales Talent, er drängte sich keinesfalls auf wie oft Schlagzeuger in der heutigen sogenannten westlichen Musik. Er entwickelte eine wahrhafte Kunst der dezenten und sensiblen Observierung seiner Kollegen: Er bringt nur das kleine schon erwähnte „Etwas“ in die gemeinsame Interpretation und zusammen wird es im wahrsten Sinne eine mythische Exploration in die ungeahnten Gefilde  einer schon erweiterten musikalischen Seelenverwandtschaft. In der Rotundellus des Alfonso X. der Weise ist er auf natürlicher Weise in seinem Element: Hier vermischen sich auf natürliche Weise christliche und jüdische Traditionen in einer andalusischen  Musiklandschaft des 13. Jahrhunderts unter osmanischer Herrschaft. Vergessen wir auch nicht das der Tambour, das Instrument des Taktes, des Tempos, der Exzitation ist und das er in allen Zeiten und Kulturen wohl das wichtigste Instrument war! Was wäre die griechische Tempel-Priesterin Iphigenie bei einer Opferung ohne das gewisse Tam…ha  Tam ma ha…! Sie wäre nicht mehr als eine blutrünstige Mörderin ohne mythologischen Hintergrund!

Für eine gemeinsame Zugabe hatten die Musiker mit Savall ein tiefsinniges und vielsagendes Stück gewählt: Das überaus tragische sephardische Wiegenlied Kônig Nimrod! Diese Melodie wurde mit verschiedenen Parolen und in zahlreichen Sprachen seit vielen endlosen Zeiten gesungen für das einschlafende Kind… für das kranke Kind… für das tote Kind! Sie hat sich auch überliefert in der jiddischen Kultur in Ost- und Zentral-Europa und wird wahrscheinlich vielen der in Auschwitz grausam ermordeten Kindern verholfen haben in das Jenseits mit inneren Frieden einzukehren?

Dieses Konzert an einem nicht so lauen Spätsommer-Abend hat vielleicht doch noch einigen von den vielen gefolterten, kranken und einsamen Menschen geholfen: Um doch noch eine so schwer bombardierte Brücke zu überqueren oder eine von Minenfeldern unüberwindliche Grenze in Frieden zu passieren. Die Musik bringt vielleicht ein wenig Hoffnung und Versöhnung zwischen den verfeindeten Brüdern? Die Hoffnung bleibt! Aber was ist Hoffnung ohne die Hoffnung? Die Musik bleibt natürlich eine Art Medikament für eine eventuelle Überlebenschance… Aber wie lange noch? Seelen-Dialoge…?      (PMP/04.09.2023)