Paris, Palais Garnier, PETER GRIMES - Benjamin Britten, IOCO Kritik, 13.02.2023

Paris, Palais Garnier, PETER GRIMES - Benjamin Britten, IOCO Kritik, 13.02.2023
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Opera National de Paris

Opéra National de Paris / Palais Garnier Paris © IOCO
Opéra National de Paris / Palais Garnier Paris © IOCO

PETER GRIMES (1945) - Benjamin Britten

Oper in drei Akten, mit Prolog und Epilog. Libretto Montagu Slater, nach dem Gedicht von George Crabbe The Borough

von Peter Michael Peters

  • DIE GEWALT DES UNGLÜCKS…
  • Some few in Town observed in Peter’s Trap
  • A Boy, with Jacket blue and woollen Cap;
  • But none inquired how Peter used the Rope,
  • Or what the Bruise, that made the Stripling stoop;
  • None could the Ridges on his Back behold,
  • None sought him shivering in the Winter’s Cold;
  • None put the question, - “Peter, dost thou give
  • The Boy his Food? – What, Man! The Lad must live:
  • Consider, Peter, let the Child have Bread,
  • He’ll serve thee better if he’s stroked and fed.”
  • None reasoned thus-and some, on hearing Cries,
  • Said calmy, “Grimes is at his Exercise”.   Crabbe: The Borough, Peter Grimes II (Auszug)

Crabbe und Britten: Eine gewisse gleiche Idee von England!

Benjamin Britten Büste in Aldeburgh © IOCO
Benjamin Britten Büste in Aldeburgh © IOCO

„Beim Schreiben von Peter Grimes wollte ich meine Wahrnehmung des fortwährenden Konflikts zwischen Männern und Frauen zum Ausdruck bringen, deren Existenz vom Meer abhängt.“ Benjamin Britten (1913-1976) sagte es in einem Interview, als er noch in Kalifornien im Exil lebte, dass er die Gedichte von George Crabbe (1754-1852) dank eines Artikels des Roman-Schriftstellers Edward Morgan Forster (1879-1970) entdeckte. Diese literarische Wiedervereinigung mit der Welt von Suffolk, wo er immer gelebt hatte, erweckte in ihm eine tiefe Sehnsucht nach der dunklen und aufregenden Realität der kleinen Stadt Aldeburgh. „Von Crabbe sprechen, sagte Forster, sei wie von England zu sprechen“, es sei wie eine gewisse Vorstellung von England, lokal, dunkel und erhebend, die Britten bei dem Dichter des frühen 19. Jahrhundert erkannt hatte. Es ermöglichte ihm, sich wieder an die Tradition der englischen Oper anzuschließen, die seit Henry Purcell (1659-1695) zu still war, um der Musik der englischen Sprache „eine neue Brillanz, eine Freiheit und eine Vitalität wiederherzustellen, die seit dem Tod von Purcell überraschend selten war“. La Poesie des Ortes, das Genie der Sprache, die menschlichen Leidenschaften bestimmten die Wiederbelebung der englischen Oper in diesem ersten wichtigen Werk von Britten für die Bühne.

Die Unterstützung des Dirigenten Sergei Kussewitzki (1874-1951) ermöglichte es ihm, in die Komposition der Oper einzutauchen. Er entwarf zunächst in Begleitung mit Peter Pears (1910-1986) die Hauptlinien des Librettos, bevor er den Dichter Montagu Slater (1902-1956) mit dem Schreiben betraute. Das Studium der Genese des von Philip Brett (1937-2002) gelieferten Werks offenbart eine unaufhörliche Arbeit am Text von Slater. In dem Slater anvertrauten allgemeinen Rahmen stehen Pears und Britten dem Gedicht The Borough von Crabbe sehr nahe. Sie entfernen sich allmählich, um die totale Isolation der Hauptfigur hervorzuheben. Wir wagen zu sagen: Des Helden! In Brittens Oper ist Peter Grimes in der Tat weder Held noch ein Dämon, wie Pears betonte, sondern eine gewöhnliche schwache Person im Konflikt mit der Gesellschaft, die vom Chor verkörpert wird und ihn am Ende zerstört: „Wer abseits steht, / lässt seinen Stolz sprechen. / Wer uns verachtet / Wer werden ihn vernichten!“ Für Pears ist Grimes nicht schuldig, sondern Opfer einer Gemeinschaft, deren Kodes er missachtet hat. Bei Crabbe nahm der Konflikt zwischen dem Individuum und seiner Umgebung eine andere Grausamkeit der Figur, die die Gesellschaft verkörpert.

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Die Grausamkeit von Grimes…

Der Papst der englischen Romantik, William Wordsworth (1770-1850), erklärte im Vorwort zu Lyrical Ballade (1802), dass er beabsichtigte, Ereignisse und Situationen aus dem gewöhnlichen Leben in einer Sprache zu schreiben, die der tatsächlichen Sprache so nahe wie möglich kommt. Samuel Taylor Coleridge (1772-1834) machte nach seiner Entfremdung mit Wordsworth letzteren speziell für seinen inkonsistenten Sprachgebrauch verantwortlich. Dieser Aspekt des romantischen Manifests wurde bei diesen beiden Dichtern vielleicht nicht so sehr verwirklicht wie bei Crabbe, einem Geistlichen von der Küste von Suffolk, einem Dichter am Rande des literarischen Lebens, der aber einem gewissen Ruf genoss. Das Werk, für das er bis heute berühmt ist, The Borough, wurde mit Interesse aufgenommen, als es 1810 erschien. Die Kritik betonte seinen Sinn für die Satire, die realistischen Talente des Dichters, die Emotionen, die von der Beschreibung des bescheidenen und gewöhnlichen Lebens der Gemeinschaft ausgingen.

Crabbe stellt sich einen Erzähler vor, der dem Leser das Leben dieser kleinen Stadt in Form einer Abfolge von Briefen vermittelt. Es konzentriert sich wiederum auf die verschiedenen Bewohner dieser abgelegenen Gegend, auf die Beziehungen, die sie verbinden und interessiert sich insbesondere auf bestimmte Charaktere: Peter Grimes, aber auch Ellen Orford. Dieser Erzähler ermöglicht es, die Personen auf Distanz zu halten, sie zu beobachten und das Mitgefühl oder den Schrecken des Lesers zu erwecken. Die Bewohner werden vom Erzähler analysiert und er lässt  sie auch zu Wort kommen. Wenn Britten einen der schönsten Briefe der Sammlung von der allgemeinen literarischen Architektur des Werks löste, entdeckte er somit wieder, was die Stärke von The Borough ausmacht: Die Wiederherstellung eines Universums von unerbittlicher Kohärenz, in dem sich Landschaft und Menschen vereinen.

Peter Grimes ist Teil der letzten Briefe des Erzählers, in denen die Verbrechen und der Fall bestimmter armer Menschen des Bezirks enthüllt werden. In einer literarischen Vorstellung zitiert Walter Scott (1771-1832) die Beispiele: Macbeth (1611?) und Richard III. (1633) von William Shakespeare (1564-1616), damit ist der Ton vorgegeben: Grimes ist schuldig und die Erinnerung an seine Verbrechen wird ihn am Ende Tag und Nacht verfolgen! Aber seine Grausamkeit hat eine Quelle, sein Vater, dessen Gewalt er auf seine Lehrlinge reproduziert. Peter Grimes ignoriert die Gerechtigkeit, lacht über Gesetzte und je mehr er von der Gesellschaft abweicht, um so mehr betrachtete er alle Menschen als seine Feinde. Um seiner grausamen Seele freien Lauf zu lassen, wünscht er sich einen gehorsamen Jungen, der die verletzende Maßlosigkeit  seiner Hand erträgt. Ein erster Lehrling trägt das Zeichen der Misshandlung, ohne dass die Stadt wirklich bewegt war, „…einige hörten Schreie / sie sagten ruhig: „Grimes ist in seinem Geschäft.“ Nach dem Tod des ersten Jungen wurde mit gleicher Leichtigkeit, ein weiterer gefunden. Er stirbt auch, ohne dass das Gericht daran wirklich etwas auszusetzen hat! Der dritte Lehrling wird ihm sofort zugestellt! Er erträgt geduldig die Misshandlungen von Peter Grimes, bis er im Meer ertrunken gefunden wird. Das Urteil des Bürgermeisters ist unanfechtbar: Grimes bekommt keinen Lehrling mehr.

PETER GRIMES hier Clive Bayley als Swallow © Vincent Pontet
PETER GRIMES hier Clive Bayley als Swallow © Vincent Pontet

Und Grimes, um sein Geschäft in absoluter Einsamkeit fortzusetzen, gefangen im täglichen Leben auf die erwartete Flut, der versumpften Flussmündung, den Massen von Algen, die um sein  regungsloses Boot treiben. Crabbe hängt an diesem Leben der Küste, findet alle Flügelschläge der Vögel, die Bewegungen der Aale oder die schwachen Strömungen des Meeres interessant. Die unaufhörliche Liebe zum Detail erlaubt es dem Dichter, Grimes auf seiner finsteren und einsamen Wanderungen zu folgen, in den er Beleidigungen ertragen muss, die er in Bezug auf die Fischschwärme laut ausspricht. Denn diese werden von den Möwen im Flug leicht gefangen, denn sie waren geschickter als er. Diese Beschreibungen ohne Transzendenz führen den Leser auch in das Bewusstsein der Person! Grimes tägliche Einsamkeit im aquatischen Universum, das er durchquert – und man denkt zwangsläufig an The Complaint oft the old Sailor (1798) von Coleridge – bereitet die nächtlichen Visionen vor: „Erwacht durch die Visionen von Schrecken in der Nacht / Schrecken! Von Geistern eröffnet die unvorstellbarsten dämonischen Visionen / Schrecken! Die Dämonen wären stolz sie zu erschaffen.“ Bis der Schrecken seine Vernunft vollständig ergreift und die Gemeinde ihn doch wieder aufnimmt, bis der große Zorn der Frauen dem Mitleid weicht, bis auch der Priester Bruchstücke seiner Beichte sammelt oder auch die Vision des Vaters wird enthüllt. Das ganze Ende des Gedichts liefert die halluzinierte Agonie eines Grimes, der unaufhörlich von der Vaterfigur heimgesucht wird, er ist das Opfer einer von Entsetzen befremdeten Einbildungskraft.

Crabbe klammert sich mit viel Einfühlungsvermögen an die Einsamkeit und den Schrecken des Geistes eines Mannes mit so groben Gefühlen. Wie die Figur mit der schmutzigen Seele von Scott, die im Epigraph zitiert wird, kennt Grimes weder Scham noch Reue. Aber sein Wahnsinn, erklärt Crabbe im Vorwort, kann von hoffnungsloser Not, unerbittlicher Krankheit und gewaltiger Einsamkeit herrühren und die schließlich die am wenigsten sensiblen Köpfe mit zehnfachem Entsetzen erfassen würde. Grimes Grausamkeit und sein Mangel an moralischen Gewissen spiegelt größtenteils die Grausamkeit der Welt wieder, in der er sich befindet! Die Komplizenschaft der Gemeinde, das die Spuren von Schlägen bei dem ersten Lehrling ignoriert und auch ihn ohne zu blinzeln weiter machen lässt, um sogar noch andere Jungen einzustellen, wird  Crabbe gewissermaßen suggeriert: In der Welt, in der er lebt, hat Grimes keine andere Lösung, als auf ewig dem Ruf der Gewalt nachzugeben!

Der Konflikt, der den Menschen gegen die Gemeinschaft stellt, findet seinen Ursprung auch in der Landschaft, in der anhaltenden großen ewigen Monotonie, die Crabbe sehr gut nachzubilden weiß. In den langen Beschreibungen der Flussmündung und des Meeres, in Grimes einsamen Warten angesichts des Wassers, wenn die Flut hoch ist und wenn sie niedrig ist, „…der Schlamm ist halb bedeckt und halb ist getrocknet“. Die Poesie der Landschaft, in der Crabbe nur ihre unheilbare flache Weite suggeriert, offenbart sich keine Transzendenz und kündigt, wie Forster gezeigt hatte, keine Erneuerung an. Grimes wird von der Erinnerung an seinen Vater verurteilt, von seinem Wahnsinn, von der Gemeinschaft, deren Grausamkeit er verkörpert, von dem Land, das nichts verspricht.

Die Einsamkeit des Grimes…

Benjamin Britten Gedenkmuschel am Strand von Aldeburgh © IOCO
Benjamin Britten Gedenkmuschel am Strand von Aldeburgh in England © IOCO

Durch die allmähliche Transponierung und Anpassung von Peter Grimes bleibt Britten mit Pears und Slater doch sehr sensible für die Kraft der Umgebung, für die ewigen Varianten und Schwankungen des Meeres, die Crabbe in den ersten Briefen seines langen Gedichts beschreibt. Die Kraft dieser isolierten Welt, die in ständigem Kontakt mit dem Meer steht, zeigt sich zuerst in den orchestralen Zwischenspielen, die den Zuschauer an die unausweichliche Präsenz der Naturgewalten erinnert. Alle Charaktere und der Chor sind von dieser Präsenz des Meeres, des sich drehenden Windes, der Bedrohung durch die Gezeiten bewohnt: „Der Mensch hat die Moral erfunden“, sagt John Keene (*1965), „aber die Gezeiten haben keine!“ Aber es ist auch die Architektur der Gemeinschaft, die wir in der Oper finden. Während sich der Erzähler von Crabbe abwechselnd auf die individuellen Geschichten der Charaktere konzentriert, stellt Britten die Interaktionen innerhalb der Gemeinde nach. Er findet in den Briefen den Geist der anderen Bewohner des Landes! Wenn der Chor diese gemeinsame Stimme liefert, die auch in den Briefen von Crabbe zu hören ist, stammt die Charakterisierung der Personen der Oper von anderen Passagen von The Borough: Sei es der Pfarrer, der Apotheker oder besonders auch Ellen Orford.

Ellen Orfords Aufmerksamkeit auf das Elend von Grimes ist auch aus dem Gedicht von Crabbe. Der ihr gewidmete Brief kontrastiert mit romantischen Charakteren von Frauen, wie auch das Leben von ihr selbst: Getäuscht von einem ersten Mann, der ihr ein Kind hinterlässt ohne sie zu heiraten. Verheiratet mit einem anderen, der daran stirbt weil er nicht das große Elend ihrer Lage akzeptieren  konnte und deren Kinder nach und nach verschwinden. Ellen bleibt an der Spitze einer Schule, in der sie ihre Güte zum Ausdruck bringen kann, der sie charakterisiert, bis sie von der Blindheit erfasst wird: „Und während mein Geist mit Freude auf das Ende wartet / Ich liebe die Menschen und nenne meinen Gott meinen Freund.“ Es ist diese Frömmigkeit und diese Aufmerksamkeit für andere, die Britten als dramatisches Prinzip aufstellt, der einzige Weg um die Erlösung von Grimes, der sie heiraten möchte, zum Ausdruck gebracht werden konnte. Wo Grimes bei Crabbe allein und unheilbar war, profitiert er bei Britten von der großen Aufmerksamkeit von Ellen, die versucht ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Ellens Zweifel: („Peter, hatten wir recht mit unseren Plänen? Hatten wir recht? Hatten wir recht?“), ihre Entmutigung („Wir haben falsch geträumt… / Peter! Wir haben versagt! Wir haben versagt!), ihr Versagen bei Grimes sowie des Jungen, materialisiert durch die Entdeckung des Trikot des toten Kindes, auf das sie einen Anker gestickt hatte („Jetzt zeigt meine Stickerei die Bedeutung dessen, was wir ignorieren wollten), machen Ellen zur komplexesten Nebenfigur, diejenige, die die Seele von Grimes in die Welt zurückbringen will, die aber durch ihr Scheitern die Einsamkeit der Hauptfigur verstärkt. Von der letzten Begegnung, die der Librettist zwischen Grimes und Ellen projiziert hat, behält Britten nur die Erinnerung daran in Grimes letzter Träumerei. Seine Einsamkeit ist total! Denn es ist Grimes Isolation von der Gesellschaft, die sich bereits bei Crabbe zeigt, die Britten als das Herzstück seiner Oper machen wollte. Unfähig in der Prüfung des Prologs die Wahrheit und das Mitgefühl zu verteidigen, das er sucht. Der allmächtigen Macht des Gesagten unterworfen, treibt er seine Einsamkeit auf die Spitze und versucht sich von dem Spielchen einer Gesellschaft zu erlösen, die nur die Macht des Geldes versteht: So geht er seiner gierigen Lust bis zum Tod nach, der des Lehrlings und seinem eigenen! Grimes Gewalt und Grausamkeit sind bei Britten zu einer Folge dieser von der Gesellschaft auferlegten Einsamkeit geworden. Wir verstehen dann, dass der Charakter von Peter Grimes für mehrere Interpretationen vorstellbar ist. Beharren wir auf der Banalität des Charakters, auf seiner von der Gesellschaft programmierten Zerstörung und schließen wir mit Pears: „Es gibt noch viele Grimes unter uns, glaube ich!“ Aber es gibt auch bei Grimes ein Gefühl der Revolte, der Wunsch der Macht der Stadt zu entfliehen, eine gesuchte Isolation, ein Wunsch nach Transzendenz („Wer kann entziffern / im Sturm oder in den Sternen / das geschriebene Zeichen / eines freundlichen Schicksal“), eine Fähigkeit zu träumen, die Crabbe ihm verweigerte („Ich sah in den Sternen das Leben, das wir teilen könnten“), eine verborgene Kraft, die ihn zu einer romantischen Figur macht – die von besonders John Vickers (1926-2015) auf der Bühne glaubwürdig dargestellt hatte.

Palais Garnier, Paris / PETER GRIMES hier Allan Clayton als Peter Grimes © Vincent Pontet
Palais Garnier, Paris / PETER GRIMES hier Allan Clayton als Peter Grimes © Vincent Pontet

Nach dem der von einer Küstenwache kaum hörbaren signalisierten Meldung vom Tod des Grimes ankommt, nimmt das Leben in der kleinen Stadt wieder seinen normalen Lauf auf, vergangene Ereignisse waren nur eine Fata Morgana und die Gemeinde hat es geschafft, es zu vergessen und den zu unterdrücken: Den sie nicht wollten! Und es ist auch wieder der Chor, der an die Kraft des Meeres erinnert, an die ewige Bewegung der Wellen, an das gewöhnliche Leben der kleinen Fischerstadt, die schon bereits zu Beginn des 1. Akt beschworen wurde. Als ob die Welt, bei Crabbe und bei Britten auf den Anstieg der Flut in der Trichtermündung wartet! Die Sprache von Crabbe, die ihre Kraft aus den Details der Landschaft schöpfte, aus den Wurzeln der Erde von Suffolk, wird von Slater und Britten transformiert. Der regelmäßige Rhythmus der Verse von Crabbe wird zu einer flexibleren Form, in der Britten die Akzentuierung der Emotionen auf die der Sprache legt, den Rhythmus der Sprache transformiert und je nach Anlass eine Stilisierung sucht, die Poesie oder Emotion erfordern. Nach eigenen Angaben brechend mit der Vokalkomposition der englischen Musik des 19. Jahrhunderts, stellte Britten die Poesie seiner Heimatregion wieder her, über den Konflikt der Menschen mit der Meereswelt, die er zum ersten Mal bei Crabbe gehört hat. So kommen der Dichter und der Musiker in einer poetischen Form zusammen, die von der Welt von Suffolk, von den Leidenschaften der Menschen an den Ufern des Flusses:  Eine gewisse gleiche Idee von England!

Der Name von Grimes…

An der Oberfläche ist der Konflikt den Peter Grimes erlebt: Ein Konflikt zwischen dem Individuum und der Gesellschaft und auch zwischen der Intoleranz der entfesselten Masse und der gefesselten Rebellion des Einzelgängers. Aber was ist die Ursache für die soziale Ablehnung, deren Objekt Peter ist? Seine Marginalität, so wird Britten 1944 sagen, als er seine Oper komponierte und sie vier Jahre lang mit seiner eigenen Position als aktiver Pazifist in einem Land im Krieg erklären wird. Aber ist es nicht eher seine Homosexualität die ihn damals noch an den Rand der Gesellschaft gedrängt hatte? In einem kurz nach der Premiere von Peter Grimes verfassten Artikel sah der österreichische Musikwissenschaftler Hans Keller (1919-1985) in dieser Oper den Konflikt zwischen dem Wunsch nach Unabhängigkeit und dem Bedürfnis nach Liebe, Selbstliebe und Selbsthass, die Ablehnung anderer und die Zärtlichkeit, die er nur „durch die Musik ansprechen kann, die die Interpreten auf der Bühne nicht hören“. Aber er berücksichtigte nicht die beiden singulären psychologischen Merkmale dieser Liebe: Homosexualität und den Schaden, der dem Kind zugefügt wurde.

Grimes und die Homosexualität…

Gibt es eine besondere Verbindung zwischen der männlichen Homosexualität und der Oper? Es gibt hier ein Paradox, verbunden mit einem Rätsel! Während männliche Homosexuelle einen guten Teil des Publikums ausmachen und am engagiertesten sind, zeigt jedoch die Oper selten homosexuelle Bindungen oder Praktiken auf der Bühne. Die Oper David et Jonathas (1688) von Marc-Antoine Charpentier (1643-1704) liefert fast explizit, aber nicht zugeben, eine schöne und tragische Geschichte homosexueller Liebe, die mit dem Tod eines der beiden Helden endet. Aber wir könnten kaum noch die folgenden Werke ignorieren und müssen sie zitieren: Król Roger (1926) von Karol Szymanowski (1882-1937), Peter Grimes, Billy Budd (1951) und Death in Venice (1973) von Benjamin Britten, oder sogar auch Bomarzo (1962) von Alberto Ginestera (1916-1983). Wenn wir uns weiter mit den Widersprüchen befassen, das die „homosexuellsten“ Opern ihrem Inhalt nach zum Beispiel die von Richard Wagner (1813-1883) mit einem keuschen Helden sind, der sich vor weiblichem Verlangen schützen will: Der fliegende Holländer (1843), Lohengrin (1850) und Siegfried (1876). Oder solche die auf einen heiligen Ritus wert legen und gleichzeitig eine homoerotische Anziehung zwischen den Mitgliedern derselben Gemeinschaft (die Gralsritter in Parsifal, 1882) andeuten, jedoch wird das homosexuelle Publikum weniger von diesen Werken angesprochen, als zum Beispiel von den Opern Giuseppe Verdis (1813-1901): Deren Protagonisten alle offen und deutlich von einem heterosexuellen Verlangen magnetisiert sind. Aber warum ist doch der eigentliche Höhepunkt von Don Carlo (1867) das Liebesduett – es gibt kein anderes Wort – zwischen Carlo und Posa, genau wie das von Otello (1887) mit dem Hassduett zwischen dem Mohren  und Iago?

Palais Garnier, Paris / PETER GRIMES hier Maria Bengtsson als Ellen Orford, Simon Keenlyside als Captain Balstrode © Vincent Pontet
Palais Garnier, Paris /PETER GRIMES hier Maria Bengtsson als Ellen Orford, Simon Keenlyside als Captain Balstrode © Vincent Pontet

PETER GRIMES - 1. Februar 2023  - l’Opéra National de Paris – Palais Garnier

Am Abgrund der Einsamkeit…

Im Palais Garnier ergreift die englische Regisseurin Deborah Warner die allererste Oper von Benjamin Britten Peter Grimes intelligent auf, indem sie die konsequente Wahl der Aktualisierung trifft. Es ist eine großartige Produktion, dieser Peter Grimes unter der musikalischen Leitung von dem englischen Dirigenten Alexander Soddy zu hören, der bereits an anderen Opernhäusern mit großem Erfolg dirigiert hat und der mit einer äußerst soliden Besetzungsliste das erste Mal nach Paris kommt.

Auf der Bühne wurde auch die entschlossene Entscheidung des englischen Szenographen Michael Levine getroffen, die Fabel total zu aktualisieren, indem er sie in einem zeitgenössischen Rahmen stellt. Die dokumentiert wurde mit einer Video-Repräsentation von dem australischen Video-Künstler Justin Nardella, der sich gemeinsam mit Levine mit seinen diversen Besuchen in den armen Städten an der englischen Küste inspirierte. Im Dekor finden man Fotos und andere Abbildungen von verschiedenen Werken von Britten mit einem hohem Wiedererkennungswert wieder: Docks mit verblichenen Gebäuden, mit Plastikkisten übersäte Böden, orangefarbene Nieten, abgenutzte Seile und Netze, das innere eines Pubs und seinen verblichenen Tapeten, das elende Dekor von Grimes Kabine oder sogar die rohe Betonmauer und ihrem einzigen Laternenpfahl, unter dem eine ziemliche alkoholisierte Stadt-Gemeinschaft im wilden Gebaren tanzt. Der Chor und die Solisten tummeln sich dort in heutiger aller Welt-Bekleidung ausgesucht (denn nicht kreiert!) von dem portugiesischen Kostümbildner Luis F. Carvalho in einer typisch englischen Sozialfilm-Atmosphäre. Aus dieser Sicht fällt die Ankunft des neuen Lehrlings John an einem stürmischen Abend sehr auf: Er wird von einem sehr kleinen Jungen gespielt, gewissermaßen ähnlich wie der kleine Billy Eliott (2000) in dem gleichnamigen Film von Stephen Daldry (*1960) und der auch noch keine zehn alt ist, mit einer bestickten Pudelmütze auf dem Kopf und einem handgestrickten Pullover, der die Inszenierung wesentlich mehr dramatisiert.

Ein Lied des Außenseiter…

Diese realistische Tendenz radikalisiert etwas mehr wie in dem Libretto! Es verankert den seltsamen Lebensweg des armen Grimes in der sozialen Welt, in einer Welt ohne Transzendenz, wo man hart arbeitet, wo die Hände schmutzig sind, wo die Minen erschöpft sind und wo die Tragödie nicht von oben kommt, sondern von der menschlichen Masse „Mensch“: Indem sie Gerüchte verbreiten und somit den Außenseiter radikal zu vernichten! Britten schrieb Peter Grimes im Exil in den Vereinigten Staaten während des Zweiten Weltkriegs. Sowohl die Inszenierung als auch die Partitur machen aus dem, was die vereinte Menge im Umgang mit dem Chor auf der Bühne erschreckendes zeigen kann: Eine ständig bewegende und brüllende Menschen-Masse, die im letzten Bild nach einem Lynchmord in „Hooligan“-Atmosphäre ruft! Außerdem war Britten homosexuell und das Mysterium, das sich bis zum Schluss um die Schuld von Grimes rankt, einem einsamen Mann, der seinen ertrunkenen Lehrling in einem äußerst halluzinierten Wahn nachtrauert: Das hat wohl etwas gefährliches Sexuelles an sich?

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Grimes wird in der Gemeinde als gefährlicher knabenfressender Oger wahrgenommen und auf der Bühne wird er durch den imposanten Körperbau und dem dichten Bart von dem Engländer Allan Clayton sehr natürlich und wahrheitsgetreu interpretiert. Nichtsdestotrotz – und in diesem Kontrast liegt vielleicht die ganze Einzigartigkeit dieser Interpretation – der Tenor hat eine sehr klare lyrische Stimme. Er ist wirklich für die Rolle perfekt geeignet, kann donnern und gleichzeitig manchmal den ganzen Saal mit einem hohen Spitzenton versetzen. Er bringt seine Sensibilität mit in die Titelrolle: Er ist sowohl zerreißend als auch herzzerreißend in seinem langen a capella-Monolog, genauso wie er zart sein kann, ist  er aber auch in seiner Arie im 1. Akt  in der Interaktion mit Ellen Orford äußerst schroff. Seine Stimme ist klar verankert und kraftvoll, ein kaltes Kupfer, beides brillant und farbenfroh, von vollen Höhen bis zu einer kratzigen Tiefe. Er formt seine Phrasen mit einer artikulierten Skandierung und gräbt ein feines Vibrato in seine schlanken Gesangslinien. Um ihn herum eine große Mehrheit sind angelsächsischer Interpreten: Alle überzeugend! Mit einer großen Beherrschung der Partition und des Textes in einem Werk, in dem die Diktion und der Rhythmus sehr wichtig sind.

Im Orchester-Graben dirigiert Alexander Soddy energisch das Orchestre de l’Opéra National de Paris in sehr großer Form. Er dirigiert mit einem Lächeln, manchmal mit einem kleinen Pik in der Handbewegung. So auf den Punkt gebracht, wird die Phalanx flüssig, verstörend, donnernd oder elegant und dann auch tragisch, während sich die Handlung in einer steigenden atemlosen Flut von Spannung entwickelt. Nur vielleicht dem Trinklied hätte es gut getan, etwas lebhafter zu sein um seine Brillanz zu steigern. Die Szenen wechseln sich mit reinen musikalischen Zwischenspielen ab, die allesamt kleine Wunderwerke sind, hyper-evokative Stücke ins besonders über das Meer, das Britten so sehr am Herzen liegt. In dieser Partitur gibt es aber auch Obertöne von der musikalischen Komödie und von Volksliedern inspiriert. Auch ist immer etwas unerklärliches in dieser Musik, das den brutalen Tanz einfach zum Stolpern bringt oder die Melodie dissoniert wie eine Warnung: Bleibe wachsam um die vielen Schwachen und Ausgestoßenen der Gesellschaft zu beachten und ihnen zuzuhören!

Wir wollen auch nicht den grossartigen Choeur de l’Opéra National de Paris unter der Leitung der taiwanesischen Chordirektorin Ching-Lien Wu vergessen, der für die dramatische Handlung in dieser Oper eine sehr wichtige Rolle spielte. Die Chormitglieder zeigen sich sehr gut platziert, tragen das Elend dieser Stadt und die Erschöpfung der Fischer in langen Phrasen vor, aber auch den Gemeinde-Klatsch- und Tratsch durch seine rhythmischen Kontrapunkte oder seine an Tollheit grenzende Wut in markanten Tuttis.

Die schwedische Sopranistin Maria Bengtsson als Ellen Orford, siehe Foto oben, wird zweifellos noch mehr Projektion in den folgenden Aufführungen erlangen. Denn sie überzeugte schon äußerst gut mit ihrem bewundernswerten Gesang in einer Homogenität über die gesamte Bandbreite und immer auch im Dienste des Textverständnisses. Sie bringt ihr Gepäck zur Figur von Ellen Orford mit: Einen kleinen Rucksack, den sie nie ablegt oder vergisst, aber auch ihre Technik dank der sie auf energischer Phrasierung und einem leisen friedlichen Vibrato ein brillantes Timbre schmiedet. Sie baut einen komplexen und bewegenden Charakter auf, der sowohl offen mit diskreter Freundlichkeit ist, aber auch einen durchsetzungsfähigen Charakter zeigen kann. Einen besseren Interpreten für die Rolle des Captain Balstrode wie den englischen Bariton Simon Keenlyside konnte man wohl finden. Er übernimmt die Rolle mit viel Dynamik, produziert eine echte theatralische Leistung und verlässt sich dabei auf die Lebendigkeit seiner Phrasierung. Sein dumpfer ton ist finster in den Tiefen und ungestüm in den Höhen. Mit seiner makellosen Technik und einem immer noch verführerischen Timbre, desgleichen eine besonders beeindruckende Genauigkeit in der dramatischen Linie ist er einer der Glanzpunkte des Abends.

Großer Interpret von Britten, der südafrikanische Bariton Jacques Imbrailo verkörpert hier den schelmischen Ned Keene mit einem klaren und leuchtenden Timbre und mit sehr kontrollierten Höhen, die einen perfekten stimmlichen Kontrast zu Captain Balstrode bietet. Der englische Tenor John Graham-Hall interpretiert einen Bob Boles mit religiösen fanatischen Eifer, der so wechselhaft ist wie das Wetter an dieser englischen Küste. Seine Stimme jedoch trompetet zu viel und seine methodistischen Verwünschungen stützten sich auf seine ungewöhnliche Haltung eines großen unschönen Vibrato. Als Swallow ist der englische Bass Clive Bayley zunächst sehr autoritär mit seiner wohlklingenden Stimme, klar in den Höhen und wollüstig in den Tiefen und mit einem runden Vibrato. Als guter Jurist hat er eine sehr präzise und rhythmische Sprechweise. Der englische Tenor James Gilchrist in der Rolle des Reverend Horace Adams hat eine sehr feierliche Stimme mit einem teilweise ironischen Lächeln, wie geschaffen für diese hypokritische Person! Die Rolle von Hobson  ist sehr kurz, aber melodisch äußerst wesentlich: Der englische Bass Stephen Richardson macht das beste daraus mit seiner breiten Stimme und seinem wiegenden Gesang.

Die beiden hellen und schelmischen Nichten, die von der deutsch-kanadischen Sopranistin Anne-Sophie Neher und der amerikanischen Sopranistin Ilanah Lobel-Torres mit sehr viel Musikalität, Charme und Einfühlungs-Vermögen gesungen werden. Das Nichten-Duo ist sehr homogen: Beide haben dicke und fruchtige Stimmen, die erste mit einer intensiven und beweglichen,  vibrierenden  Stimme, die zweite mit einem zentralen Grund und einem bernsteinfarbenen Ton und ein feines Vibrato. Auch gefällt uns die großzügige Erdigkeit in der Stimme der englischen Mezzo-Sopranistin Rosie Aldridge in der Rolle von  Mrs. Sedley, sie hat viel Spaß daran, mit reifer, gut hörbarer Stimme die Figur eines alten Fräuleins zu skizzieren. Dagegen hinterlässt die englische Mezzo-Sopranistin Catherine Wyn-Rogers als Auntie einen weniger guten Eindruck im Vergleich mit ihren Kolleginnen. Sie porträtiert eine distanzierte Tante mit warmem Timbre und fester Stimme, deren Phrasierungen  aber leider gewisse Silben übertönen und verschlucken lässt

Während der Dirigent seinen Taktstock gesenkt hat, steht in gleicher Zeit Peter Grimes allein auf der Bühne um sich vor dem Publikum zu verbeugen: Allan Clayton erntet den verdienten tosenden Applaus und die vielen begeisternden Rufe: Bravo…, Bravo…, Bravo…! Ebenso scheint auch das Regieteam beim Publikum eindeutig gut angekommen zu sein, was uns an l’Opéra National de Paris schon lange nicht mehr vorgekommen ist. Dieser wärme Empfang  kommt allen beteiligten Künstlern zugute, vom Chor bis zum Orchester, einschließlich aller Solisten!   (PMP/10.02.2023)