Paris, Palais Garnier, Le Soulier de Satin - Uraufführung - M. A. Dalbavie, IOCO Kritik, 24.06.2021
von Peter Michael Peters
Der dritte Auftrag der Opéra National de Paris für ein neues Musikdrama nach einem literarischen französischen Werk ist an den Komponisten Marc-André Dalbavie (1961-) gegangen. Er machte es sich nicht leicht indem er das elfstündige Theaterstück Le Soulier de Satin - Der seidene Schuh (1943) von Paul Claudel (1868-1955) zusammen mit der Librettistin Raphaèle Fleury adaptierte und auf sechs Stunden einschließlich zwei Pausen zusammen schrumpfen lässt.
Die düsteren Schattenseiten eines großen Poeten
Claudel badete, wie er selbst sagte, wie alle jungen Leute seines Alters im „materialistischen Gefängnis des damaligen Positivismus“. Er konvertierte zum Katholizismus, der Religion seiner Kindheit, indem er neugierig an einer Vesper in Notre-Dame de Paris teilnahm. „Ich stand rechts neben der zweiten Säule, in der Nähe der Sakristei. Die Kinder der Domsingschule sangen das, was ich später als Magnificat erkannte. In einem Augenblick war mein Herz berührt und ich glaubte! Ich glaubte mit aller Kraft! (…) Dass all die Bücher, alle Überlegungen, alle Chancen eines hektischen Lebens, meinen Glauben nicht erschüttern konnten, um die Wahrheit zu sagen, noch berühren konnten.“ Der wichtigste Autor seiner katholischen Bekehrung ist aber Arthur Rimbaud (1854-1891), den er kurz vor dem Ereignis vom Dezember 1886 entdeckte mit den Illuminations (1886), aber besonders mit Une Saison en Enfer (1873), das den Lauf seines Lebens verändern wird. Der Einfluss dessen, den er in einem berühmten Artikel den „Mystiker in freier Wildbahn“ nannte, wird besonders deutlich in Tête d'or (1890), einem seiner ersten Stücke.
Le Soulier de Satin - Der seidene Schuh - Marc-André Dalbavie youtube Trailer der Opéra National de Paris [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
So würde ein Teil der offiziellen Biographie des großen erfolgreichen sprachgewaltigen Claudel, Diplomat, Politiker und Poet mit einem glorreichen Einzug in die ehrwürdige Académie Française aussehen. Aber wer war er wirklich? Wenn man sich ein wenig mehr mit der düsteren Schattenseite des viel verehrten Franzosen einmal abgibt! Was bleibt dann…?
Während des Spanischen Bürgerkrieges unterstützte Claudel die spanischen Faschisten. François Mauriac (1885-1970) wirft Claudel vor, das er keinen einzigen Vers geschrieben hat „für die Tausenden und Abertausenden christlichen Seelen, die der Chef der heiligen Armee (…) gewaltsam in die Ewigkeit führte“. Der Poet unterzeichnete auch mit einer Gewissenlosigkeit ohne Gleichen das Manifest der spanischen Franco-freundlichen Intellektuellen vom Dezember 1937, das in der faschistischen Propagandazeitschrift Occident veröffentlicht wurde.
Am 24. September 1940 wird er noch deutlicher: „Mein Trost ist das Ende dieses schmutzigen parlamentarischen Regimes, das Frankreich jahrelang wie ein Krebsgeschwür verschlungen hat. Es ist vorbei… die üble Tyrannei von Bistros, Freimaurern, Mestizen, Bauern und Lehrern…“ (Der Dichter veröffentlicht in Le Figaro am 10. Mai 1941 sein Meistergedicht Paroles au Maréchal, das am Vortag in Vichy vor Marschall Philippe Pétain (1856-1951) von der Schauspielerin Eve Francis (1886-1980) anlässlich einer Aufführung von L'Annonce faite à Marie (1912) zitiert wird.
Dreieinhalb Jahre später veröffentlichte derselbe Figaro ein weiteres Gedicht: Au Général Charles de Gaulle (1890-1970) in seiner Nummer vom 23. Dezember 1944. Es war einige Wochen zuvor, im Oktober 1944, während eines Vormittags im Théâtre-Français vorgetragen worden, das den Dichtern des Widerstands gewidmet war… zu denen Claudel nun gehörte! Das Mindeste ist, was wir ihm zugutehalten können, dass sich unser Freund kein Bein ausgerissen hat. Er griff das gleiche Szenario auf: Frankreich spricht und erkennt seinen legitimen Vertreter an. Pétain war der Vater; De Gaulle ist der Sohn!
Das Erstaunlichste ist, dass Claudel, alt, reich und vielmals geehrt, es nicht nötig hatte die Macht, wer immer es sei, mit so niedrigen Schmeicheleien zu überhäufen. Nein, er war ein notorischer Reaktionär und völlig überzeugt über seine Handlungsweisen: Er versteckte nicht einmal seine hypokritischen gefährlichen Gedanken…! Nein! Er sprach alles laut aus in seinen Dramen, in seiner Lyrik, in seinem Werk! Er war einfach nur ein schmutziger Mitläufer, ein Fahnenschwinger folgend dem Wind der Macht, ein Hemdenwechsler der billigsten Art. Das Vokabular der Intoleranz war ihm nicht fremd: Rassendiskriminierung, Diktatur, Faschismus, Sklaverei, usw., aber alles recht säuberlich verbrämt vom Heiligenschein der allgewaltigen katholischen Kirche. Wir mussten diesen Umweg in das Schattenreich eines umstrittenen Poeten gehen, um sein dramatisches und poetischen Werk besser zu analysieren.
Drama im Zeitalter der Konquistadoren
Das mystische Drama Le Soulier de Satin erzählt von der unmöglichen Liebe zwischen Dona Prouhèze und dem Kapitän Don Rodrigue. Die zwanzigjährige Handlung spielt in der Renaissance, zur Zeit der Konquistadoren und wird vom Autor in der Tradition des Goldenen Zeitalters in vier Tage unterteilt. Es zeigt viele Charaktere, in verschiedenen Ländern, manchmal in Dialogen zwischen Himmel und Erde, indem das Drama und das Göttliche vermischt werden. Es ist nicht frei von Ironie, Komik und Possenreißer-Spielen! Dies in einer barocken Atmosphäre. Dieses halbautobiografische Stück ist eine Liebesgeschichte und ihrer sozialen und kosmopolitischen Probleme. Claudel selbst kommentierte: „Der Schauplatz dieses Dramas ist die Welt“, er schrieb weiter: „Das Thema des Satinschuhs ist kurz gesagt das der chinesischen Legende, der beiden Sternenliebhaber, die es jedes Jahr nach langen Wanderungen schaffen, sich gegenseitig zu begegnen ohne sich jemals treffen zu können. Auf der einen Seite und auf der anderen der Milchstraße!“
« Fendre la muraille du cœur humain... »
Auch diese gefühlsvolle Redewendung stammt aus der Feder unseres Poeten: „Die Mauer des menschlichen Herzens durchbrechen…“ Was meint er damit? Die große chinesische Mauer steht noch immer trotz diverser Invasion der Jesuiten, die Berliner Mauer ist schon lange gefallen! Nein! Was sagen wir da, wir sprechen natürlich nicht in der Realität, es sind die Mauern der Intoleranz gemeint. Aber gerade dorthin können wir Claudel nicht folgen: In seinem Mammutwerk aus dem goldenen spanischen Zeitalter zitiert er die großen Eroberungen mit der berühmten Armada, die gewaltsamen Bekehrungen der Barbaren und die totale Beraubung der dritten Welt. Jedoch kein einziges Wort über die grausame Inquisition, noch über den dreißigjährigen Religionskrieg, angezettelt von der katholischen Liga. Also von welchen Mauern redet unser großes Genie? Natürlich von der Mauer der katholischen Ignoranz, die er aber nicht sehen will! Diese Intoleranz, die über viele Jahrhunderte bis heute keine Mauer gebrochen hat!
Aufführung am 13.06.2021 im Palais Garnier – Opéra National de Paris
Der 60jährige Komponist Marc-André Dalbavie verortet seine Sprache in einer metatonalen Perspektive (post-atonale), Modalität und Atonalität innerhalb einer strukturellen Organisation von Tonhöhen (den Tonleitern, die durch das Orchesterregister der Oper laufen) zusammenführt. Als bedeutender Instrumentator führte er bestimmte Instrumente der Welt, die noch immer sparsam eingesetzt werden, in das Orchester ein, wie das Becken, die Stahltrommel und das chinesische Holzblasinstrument mit dunklen und temperierten Klangriten. Gongs und andere Bonangs sind präsenter in eintauchendes Hören mit der Resonanz der langen Zeit des Ostens. An ihm sind diese glatten und sonoren Instrumentalrahmen angebracht, die den Raum literarisch in Brand setzen. Der von zehn Stunden auf viereinhalb Stunden reduzierte Umfang des Stückes hätte vielleicht eine radikalere, kontrastierende Behandlung benötigt und durchaus die dramatische Wirkung unterstützen können.
Der Komponist entschied sich für eine Orchestersprache in langen schwellenden Wogen, ohne an wichtigen Stellen die dramatische Seite mit einer hochbrausenden Welle zu erweitern. Auf denen die Sänger eine kontinuierliche Rezitation einsetzten, sofern der Text nicht gesprochen wurde. In dieser musikalischen Behandlung lauert jedoch eine furchtbare Monotonie! Prunkvoll war das Orchester unter der geschmeidigen und spannungsfreien Geste des Komponisten, der an diesem Abend das Orchestre de l‘Opéra National de Paris zusammenführte und anführte.
Die Inszenierung entspricht dem Geist des von Claudel beanspruchten Jahrmarkttheaters, in die Gattungen vermischt werden und die Kulissen mit größtmöglicher Sparsamkeit improvisiert werden. Stanislas Nordey sieht die Bühne als Malerwerkstatt aus dem 16. Jahrhundert, das die Arbeiten fortsetzt und so Künstler und Maschinisten gleichermaßen einbezieht. Monumentale Leinwände, die von Emmanuel Clolus die Details von Gemälden (insbesondere von El Greco) darstellen, werden auf der Bühne verschachtelt. Sie bilden ein bewegtes Dekor, das auf beiden Seiten verwendet wird, wobei das Bild auf der einen Seite, der Holzrahmen auf der anderen Seite sehr lebendig und vielseitig benutzt wird (sie verkörpern mehrere Rollen in der Geschichte wie auch viele der Sänger). Cyril Bothorel / Der Ansager und Yann-Joël Collin / Der Unbändige sind dazu da, uns über Länder und Meere zu führen und das Spektakel auf halbem Weg zwischen Theater und Oper zu halten. Sie kommen zwischen jeder Szene, um die eroberten Küsten anzukündigen und das Dekor hervorzuheben. Momente des Übergangs willkommen für das Publikum, wenn das Orchester die Gelegenheit hat sich einzustimmen. Die historischen Kostüme von Raoul Fernandez sind hervorragend, in Verbindung mit den Charakteren und der Farben der Leinwände in einer sehr gesuchten ästhetischen Dimension. Das Video von Stéphane Pougnand droht mit gewaltigen schönen visuellen 3D-Effekten.
Lyrischer Höhepunkt des Soulier, diese längste Szene der Oper, vereint zum ersten Mal die beiden Hauptdarsteller (glänzend Eve-Maud Hubeaux und Luca Pisaroni) und greift auf alle Reserven des Orchesters zurück. Dieses ist gleichzeitig dezent, lässt den Gesang aufblühen und ist in der Lage, kupferne Töne in die Stimmen zu bringen und sie durch die Instrumentalklänge zu brechen, was der Claudelschen Sprache ihre spektrale Farbe verleiht.
Die Besetzung ist von sehr hohem Standard und zählt eine Reihe von Künstlern, Schauspielern und Sängern, die im Detail schwer zu zitieren wären. Die Mezzosopranistin Eve-Maud Hubeaux ist eine charakterstarke Doña Prouhèze, die sich in allen Stimmlagen wohl fühlt und besonders ausdrucksstark in dieser wunderschönen Szene des ersten Tages, in der sie der Jungfrau ihren Satinschuh anvertraut. Der Bariton-Bass Luca Pisaroni / Don Rodrigue de Manacor setzt unweigerlich eine hervorragende Stimme ein und übt auch sein Talent als Mann der Bühne aus. Tapfer und erfahren in dieser Technik der Passagen zwischen gesprochenem Wort und gesungenem, Béatrice Uria-Monzon, Mezzosopran (Doña Isabel / Doña Honoria / Eine Nonne) und Vannina Santoni, Sopran, die leuchtende Doña Musique, brillieren in ihren jeweiligen Rollen ebenso wie der Bariton Marc Labonnette, die Tenöre Eric Huchet und Julien Dran, der Bass Nicolas Cavallier, der während der vier Tage auch mehrere Charaktere unterstütze. Feurig und voller Energie neben Vannina Santoni (Die Fleischerin) haucht Camille Poul, Sopran / Doña Sept-Épées (Prouhèzes Tochter) einen jugendlichen Wind am letzten Tage der Oper. Jean-Sébastien Bou / Don Camille besticht durch seine klare Sprache und seine stimmliche Leichtigkeit, dagegen fehlt es dem Tenor Yann Beuren in der besonders anspruchsvollen Rolle des Don Pélage manchmal an Stabilität. Die Figuren des Schutzengels, Saint-Jacques und Saint-Adlibitum appellieren an den eher immateriellen Bereich des Countertenors Max Emanuel Cencic. Während die rassige Stimme von Fanny Ardant aus den Lautsprechern zu uns kommt in dieser zentralen Szene des Soulier... und wo die gesprochene dem Mond anvertraute Meditation eine spirituelle Dimension ergreift: „Jeder deiner Küsse gibt mir ein Paradies, von dem ich weiß, dass es mir verboten ist“. PMP / 20.06.2021
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