Paris, Opéra National - Salle Bastille, PELLÉAS ET MÉLISANDE - C. Debussy, IOCO
Opéra Bastille, Paris: Claude Debussy: PELLÉAS ET MÉLISANDE (1902), Lyrisches Drama in fünf Akten und zwölf Szenen nach einem Drama von Maurice Maeterlinck.

09.03.2025 - Claude Debussy: PELLÉAS ET MÉLISANDE (1902), Lyrisches Drama in fünf Akten und zwölf Szenen nach einem Drama von Maurice Maeterlinck.
von Peter Michael Peters
EINE FAST ALLTÄGLICHE TRAGÖDIE…
Mes longs cheveux descendent
Jusqu’au seuil de la tour !
Mes cheveux vous attendent
Tout le long de la tour !
Et tout le long du jour !
Et tout le long du jour !
Saint Daniel et saint Michel,
Je suis née un dimanche !
Un dimanche à midi ! (Szene der Mélisande / 3. Akt / 1. Szene)
PELLÉAS ET MÉLISANDE by Claude Debussy outube Opéra Paris
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entschieden sich Gabriel Fauré (1845-1924), Claude Debussy (1862-1918), Jean Sibelius (1865-1957) und Arnold Schönberg (1874-1951) für die Auseinandersetzung mit Maurice Maeterlincks (1862-1949) Drama. Das verliebte Trio aus Golaud, Mélisande und Pelléas scheint die sozialen Schichten der Zeit, sowohl die bürgerlichen als auch die Künstler, zutiefst verunsichert zu haben. Ihre große leidenschaftliche Geometrie öffnet freilich glückliche Wunden: Eifersüchtige Wut! Extreme Verzweiflung! Wahnsinnige Leidenschaft, die umso brennender ist, weil sie im Verborgenen gelebt werden muss. Die Psychoanalyse ist da und wartet darauf, den Schleier über die Arbeit des Unbewussten zu lüften, um diese gelangweilten Seelen wenn möglich: Zu heilen!
Der Wagner-Einfluss…
Die Sicht der Gesellschaft auf die verschlossenen Türen der geheimen Liebe treibt die Liebenden unwiderruflich in Richtung der Hochzeit von Eros und Thanatos. Zu Debussys Zeiten veranschaulichte ein Werk mehr als jedes andere diese Dialektik. Es ist offensichtlich Tristan und Isolde (1865) von Richard Wagner (1813-1883). Mit seinem Pelléas et Mélisande scheint Maeterlinck auf den ersten Blick zu wissen, dass er die salonhafte Version schreiben wird! Aber man muss ihm zugutehalten, dass er darauf achtet, dies zu unterstreichen: „Es gibt eine alltägliche Tragödie, die viel realer, viel tiefer und viel mehr im Einklang mit unserem wahren Wesen ist als die Tragödie großer Abenteuer“. In voller symbolistischer Inbrunst ist dieser Satz ein wahres Manifest erotischer Ästhetik des Jugendstils gewebt mit filigranen Blumen und Schlangenhaaren.
Das als mittelalterlicher Historismus getarnte intime Drama wurde von Wagner erfunden, ohne dass er sich dessen völlig bewusst war. Denn Tristan und Isolde ist die Verflechtung dreier Ehebrüche in einem einzigen Werk. Es enthält den im Mythos erzählten Ehebruch! Das des Trios bestehend aus Wagner, Agnes Mathilde Wesendonck (1828-1902) und Otto Friedrich Ludwig Wesendonck (1815-1896)! Und das von Wagner, Francesca Gaetana Cosima von Bülow-Wagner (1837-1930) und Hans von Bülow (1830-1894) während der Entstehung der Oper und in München im Jahr 1865 uraufgeführt. Der giftige Chromatismus von Tristan und Isolde wird mehrere Generationen prägen, um nicht zu sagen traumatisieren. Und dagegen schreibt Debussy seinen Pelléas, aber ohne ihn je mit Herz und Ohren verlassen zu können!

Ein englisches Schicksal…
Zwei zufällige Vorkommen sind mit Pelléas und Debussys Oper zeitgleich und allgemein entstanden. Sie entstanden in England! Die erste ist die von Fauré. Der Komponist scheint zunächst verwirrt zu sein, als er Debussys Oper hört, bevor er deren radikale Modernität begrüßt.
Während eines Aufenthalts in London erhielt der Direktor des Conservatoires de Musique de Paris einen Auftrag für die Bühnenmusik zu dem Stück von Maeterlinck. Die begeisterte Kritik, die der anglophile Stéphane Mallarmé (1842-1898) über das 1893 entstandene Stück abgegeben hatte, weckte das Interesse aller in London. Die Schauspielerin Beatrice Stella Campbell (1865-1940) entwickelte eine Leidenschaft für die mittelalterliche Heldin. Sie wollte das Werk im Piccadilly Theater mit dem nötigen Pomp präsentieren. Debussy wurde Kontaktiert, hatte aber mit schwierigen Konstruktion seiner eigenen Oper zu kämpfen und lehnte das Angebot ab. Miss Campbell sprach dann mit Fauré. Dieser freilebende Mann wurde in England von Katharine Mary Adela Maddison (1862-1929) unterstützt, einem Groupie, die aber auch seine Geliebte war. Er hatte sie auf dem Anwesen ihres Mannes in Saint Lunaire in der Bretagne kennengelernt. Die Konfiguration ihres Treffens erinnert an Wagners Schweizer Aufenthalt bei den Wesendoncks.
Pelléas et Melisande wurde in englischer Sprache im Juni 1898 im Wales-Theatre aufgeführt. Fauré dirigierte das kleine Begleitorchester. Zwei der besten Schauspieler der Zeit, Sir Johnston Forbes- Robertson (1853-1937) und Sir John Martin-Harvey (1863-1944) spielten Golaud und Pelléas gekleidet vom Maler Edward Burn-Jones (1833-1898). Faurés Musik entstand in der Atmosphäre eines präraphaelitischen Gemäldes. Die achtzehn Nummern wurden viel später zu einer Suite in vier Sätzen von Charles Koechlin (1867-1950) orchestriert. Die Vision von Fauré ist in eine elegante Melancholie getaucht, beginnend mit dem geheimnisvollen Präludium, in dem Mélisandes Thema durchsichtig in den Streichern erscheint. Die Sicilienne und das Molto adagio funebre werden bis zum letzten tragischen Finale nie aufhören melodische Nebel zu entfalten.

Weniger bekannt ist die von dem schottischen Komponisten William Wallace (1860-1940) verfasste Suite Pelleas and Melisande, das einem Bewunderer von Wagner und Franz Liszt (1811-1886) zu verdanken ist. Wallace war vor allem ursprünglich ein sehr renommierter Augenarzt, der den dilettantischen Musiker nur Sonntags spielte. Seine äußerst seltene Orchester-Suite aus dem Jahr 1897 ist unweigerlich das Werk eines genialen Schöpfers.
Von allen Musikstücken, die durch das Drama von Maeterlinck ausgelöst wurden, ist sie wohl die „Tristan-artigste“, verstärkt durch eine kraftvolle Lyrik und einen verschärften Chromatismus, der den Weg für das manchmal exzessive symphonische Repertoire von Frederick Delius (1862-1934) oder von Vaughan Williams (1872-1958) ebnet.
Die verklärte Nacht…
Im Belvedere Museum in Wien fixiert Richard Gerstl (1883-1908) in seinem nackten Autoporträt den Besucher mit tiefblauem Blick. Dieser Avantgarde-Maler war der Liebhaber von Mathilde Schönberg (1877-1923). Als 1908 ihre Affäre aufflog, erhängte er sich in seinem Atelier. Er war gerade fünfundzwanzig Jahre alt, ein wahrscheinliches Alter für Pelléas!
Schönberg hatte drei Jahre zuvor seine symphonische Dichtung Pelleas und Melisande, Op. 5 (1905) gegeben. Vorahnung auf das kommende Drama oder Ausdruck eines Zeitgeistes? Zwar mangelte es im Wiener Umfeld von Schönberg nicht an Beispielen, wenn es um Ehebruch ging. Denken wir nur zum Beispiel an Alma Mahler (1879-1964), der Männerfresserin und der Herzensbrecherin von Alexander von Zemlinsky (1871-1942), Gustav Mahler (1860-1911) und Oskar Kokoschka (1886-1980).
Tristans Duo hatte für einen Moment den absoluten Orgasmus erreicht. Alles in der Musik und im Text führt darauf hin: Spannungen und Rückwirkungen, Höhen und Tiefen, Todessehnsucht und Lebenserguss, bis hin zum Coitus Interrupts des eifersüchtigen Melot. Bei Debussy ist das lyrische Vergnügen, das sich im Innern von Golauds Schloss abspielt, ein Nachwort von Tristan. Die atemlosen Antworten von Pelléas bieten ein bescheidenes Echo davon! Wo Wagner verworren und schwülstig ist, hatte Maeterlinck sogar schon Marguerite Duras (1914-1996) vorweggenommen.

Und das Lied verflüchtigt sich in einer mit Sternen übersäten Stille…
Als Schönberg mit der Arbeit an seinem Pelleas und Melisande begann, war ihm nicht bekannt, dass Debussy seinerseits daran arbeitete. Er hatte auch Ambitionen, daraus eine Oper zu machen, gab das Projekt jedoch auf. „Ich bedauere immer noch, dass ich meine ursprüngliche Absicht nicht umgesetzt habe. Es wäre anders gewesen als von Debussy! Mir wäre vielleicht der schöne Duft des Gedichts entgangen, aber ich hätte meine Rollen singender gestaltet…“, gab er am Ende seines Lebens zu. Er inspirierte sich noch einmal an dieser Thematik für Die verklärte Nacht, Op. 4, die 1899 uraufgeführt wurde, es war gewissermaßen ein Dialog von Violinen, Bratschen und Cello, über ein Gedicht von Richard Dehmel (1863-1920). Auch ein menschlicher Dialog zwischen einer Frau, die ein Kind trägt, das sie nicht will und einem Mann, der sie begehrt und alles vergangene akzeptiert ohne sie zu verurteilen. Genau so wie Golaud die einsame traurige Mélisande und ihre kleine Tochter akzeptierte…
Das Mädchen im Turm…
Maeterlincks Drama hatte europäische Auswirkungen. Der schwedische Dichter Bertel Gripenberg (1878-1947) übersetzte das Drama und Sibelius verlieh ihm eine ganz besondere Atmosphäre, eine rauschende Noblesse. Im März 1905 dirigierte Sibelius seine Suite Pelleas und Melisande, Op. 46 wie Fauré in London ein Orchester für fünfzehn Aufführungen. Die neun verbleibenden Orchester-Momente offenbarten die ganze Komplexität von Sibelius‘ Beziehungen zur Bühne. Wir wissen, dass Sibelius sehr ängstlich und vom Alkoholismus verzehrt, viele seiner Werke zerstört hatte. Er wollte schon lange eine Oper schreiben, aber nur ein erfolgreicher Versuch wurde unternommen: Die Jungfrau im Turm (1896). Seine lyrische Ader wurde durch das Wagner-Modell gewissermaßen schnell erstickt. Sibelius war nur einmal im Jahr 1894 in Bayreuth! Somit wandte er sich dann ausschließlich der Programm-Musik zu: Insgesamt elf Tondichtungen, darunter Der Sturm, Op. 109 (1927), Kuolema, Op. 44 (1903), Das Festin des Balthazar, Op. 51bis (1907 ), Joutsikki „Schwanenweiß, Op. 54a (1915). Eine weitere abgebrochene Oper: Veneen luominen oder The Building of the Boat (1895) wird zu der großartigen Saga, bestehend aus: Die Legenden von Lemminkäinen, Op. 22 (1895/96/54/56).
Mélisande, die unerreichbare Musik…?
Fauré, Schönberg, Sibelius haben jeweils eines gemeinsam! Sie waren ruhelose Schöpfer, unsicher über ihre Werke und ihre Fähigkeiten. Ist es so, dass Pelléas, diese Tragödie der unerfüllten Leidenschaft sie verführt hat? Alle drei mussten sich mit der gewaltigen Überlegenheit von Wagner auseinandersetzen. Und es ist das Königs-Instrument, das wesentliche Englischhorn für Tristan, das Sibelius dazu aufruft, Mélisande zu malen, diese geheimnisvolle Figur, die die Melancholie des Verlangens verkörpert. Wagner hatte es seinen Zeitgenossen offenbart, Maeterlinck flüsterte es. Und der Dichter Yves Bonnefoy (1923-2016) gab uns vor seinem Verschwinden eine bewegende Definition…

PELLÉAS ET MÉLISANDE - Aufführung - Opéra National de Paris / Salle Bastille - 9. 3.2025
Ein hypnotischer und legendärer Pelléas…
Pelléas et Mélisande, basierend auf einem Theaterstück des flämischen Autors Maeterlinck, war zum Zeitpunkt seiner Entstehung ein sogenanntes lyrisches UFO. Obwohl es Debussy selbst nicht gelang, ein weiteres Werk mit einem derart hohen formalen Anspruch zu schaffen, kann dieses lyrische Drama als die erste „literarische Oper“ der Musikgeschichte angesehen werden, einer Gattung, zu der u. a. Richard Strauss‘ (1864-1949) Salome, Op. 54 (1905), Alban Bergs (1885-1935) Wozzeck (1925) und Aribert Reimanns (1936-2024) Lear (1978) gehören. Die Opéra National de Paris bietet derzeit eine Neuproduktion unter der verzauberten Regie des libanesisch-kanadischen Regisseurs Wajdi Mouawad, dem derzeitigen Direktor des Théâtre de la Colline in Paris.
Die Handlung – eine Variante von Tristan und Isolde – ist sehr einfach. In einem Wald trifft Golaud die unbekannte Mélisande, deren Vergangenheit geheimnisvoll ist. Er heiratet sie und bringt sie zum Schloss seines Großvaters Arkel, wo sie Pelléas kennenlernt. Sie verlieben sich, ihre Beziehung intensiviert sich, sehr zum Entsetzen von Golaud, der schließlich seinen Halbbruder Pelléas ermordet. Mélisande stirbt an einer Krankheit, die ebenso unklar ist wie ihre Herkunft.
Mouawad betont die psychologischen Risiken. Das Hauptproblem ergibt sich aus der unterschiedlichen Wahrnehmung zwischen Golaud, der engstirnig und oberflächlich ist und Pelléas und Mélisande, die ausgestattet sind mit ursprünglichem Selbstvertrauen, die die verborgene und imaginäre Seite von allem sehen. Sie sind in einer unverständlichen Welt verloren, in der der Tod lauert: Zwei charakteristische Themen von Maeterlinck. Es ist aber jedoch Golaud selbst, der vielleicht unwissentlich diese Interpretation hervorbringt: „Spielen Sie nicht so im Dunkeln!“ „Ihr seid doch noch Kinder…“.
Einer der prominentesten Kommentatoren Maeterlincks ist wohl der österreichische Dichter deutsch-französischer Herkunft Rainer Maria Rilke (1875-1926), dessen Sichtweise in dem ansonsten sehr hochwertigen Programm überraschenderweise nicht berücksichtigt wurde. Dennoch analysiert Rilke in mehreren Aufsätzen eine Reihe von Techniken der poetischen Sprache Maeterlincks, die sich sowohl im Werk Debussys als auch in der Version Mouawads wiederfinden. Die Sprache ist nicht der beste Weg, die Seele zu entdecken! Die Individualität der Charaktere geht in einer Szene verloren, die nicht in das Sichtfeld eines Teleskops passt. Wie eine Marionette verfügt jeder Mensch über ein begrenztes Repertoire an Ausdrücken und Gesten, das von weitem sichtbar ist. Es ist die Aufgabe des Autors oder Regisseurs, einen Ausdruck für dieses Theater ohne Bilder zu finden.
Die enorme Größe der Bühne – unvermeidlich in l’Opéra National de Paris / Salle Bastille mit ihren schwindelerregenden Ausmaßen – spiegelt sich in Mouawads präziser Regie der Schauspieler wider. Die Protagonisten sind weit voneinander entfernt, tauchen irgendwie auf, umkreisen einander, berühren sich kaum. Bei dieser Schauspielanordnung treten zwei Verhaltungsweisen auf: Erstens die von Golaud, brutal und körperlich, er ergreift Mélisande wie ein Objekt und behandelt Pelléas auf die gleiche Weise. Zweitens die der beiden Liebenden, die fast bescheiden bleiben – ihre Spiele sind die von Kindern – und sich dennoch allmählich näher kommen, bis sie sich endgültig umarmen. Das Geständnis „Ich liebe Dich“ löst bei Kindern, die mit dem Finger im Marmeladenglas erwischt werden, eine Reaktion aus… Aber Welche?
Die Szene ist dunkel, Nebelschwaden schweben über dem Boden. Die Szenografie des französischen Bühnenbildners Emmanuel Clolus ist von offensichtlichen morbiden und tiefdunklen Elementen inspiriert. Projektionen eines Waldes, eines Sees und des Meeres laufen über einen Seilvorhang. All dies ist manchmal illustrativ, da die Bilder den Reden der Figuren folgen, die später durch die Projektionen verdoppelt werden, in denen sie wie in einer Flüssigkeit schweben. Unweigerlich denken wir an Gemälde, deren Ästhetik der von Maeterlinck nicht fern ist: Der Schweizer Arnold Böcklin (1827-1901), der Belgier Jean Delville (1867-1953) oder der englische Präraffaelit John Everett Millais (1829-1896).
Zu Beginn, bevor die Musik einsetzt, hören wir Waldgeräusche, Vogelgezwitscher. Ein Monster überquert die Bühne, halb Wildschwein, halb Mensch, ein Speer steckt in seinem Rücken. Während das Motiv für das gejagte Tier später erklärt wird, sind die Soundeffekte nicht wesentlich. Debussys unglaublich farbenfrohe Instrumentalkomposition enthält alles, was man sich in der Natur oder in der menschlichen Psyche vorstellen kann. Unter der Leitung des italienischen Dirigenten Antonello Manacorda erreicht das Orchester der Opéra National de Paris eine gewaltige musikalische Intimität, den klanglichen Gradienten zwischen erdigen und luftigen Klangfarben wechselnd, die manchmal wie lackiert wirken und für die Partitur sehr spezifisch sind.
Mouawad hat auch andere visuelle Ergänzungen vorgenommen. Insbesondere für Yniold, Golauds Sohn, der mit offenem Munde zusieht, wie sein Vater Wellen der Wut an Mélisande auslässt, eine stumme Szene der Versöhnung zwischen den beiden sowie die endgültige Wiedervereinigung von Pelléas und Mélisande, die durch den Tod vereint und im Kontext der mystischen Schlusstakte der Oper in florale Wesen verwandelt werden. Ausserdem gibt es drei Charaktere, die ständig auf der Bühne herumschleichen, eine Erweiterung der drei armen Männer, die Pelléas und Mélisande bei einem ihrer heimlichen Treffen in einer Höhle überraschen. Sie sind diejenigen, die im Zentrum des Geschehens ein Massengrab errichten, beginnend mit einem Pferdekadaver, der mit Golaud in Verbindung gebracht wird. Dort wird später wiederum auch Pelléas landen!
Das leere Wort, die Abwesenheit von Zeichen in Maeterlincks Sprache, die Rilke hervorruft, mag einen Einfluss auf die revolutionäre Prosodie gehabt haben, die Debussy in Pelléas et Mélisande entwickelte, obwohl dies auch eine Reaktion auf die Werke Wagners war, die für viele Komponisten der Zeit zu einer Herausforderung und Plage geworden waren: Keine Arien, keine Rezitative, ein durchgehender gesprochener und gesungener Stil, der die wenigen lyrischen Ausbrüche unerträglich intensiv machte. Jede Figur hat jedoch ihr eigenes Stimmprofil und Debussy verschmäht auch nicht die alte Technik, die Rollen nach Alter und Qualität der Protagonisten zu verteilen, wobei die reinste und jüngste eine Kindersopranistin ist.
Der Golaud des kanadischen Bass-Bariton Gordon Bintner ist ein Riese, der oft durch seine Gewaltausbrüche überrascht. Sein Timbre ist angenehm verschleiert und im Bass manchmal gedämpft, während es unerwartete hohe Töne hervorbringen kann. Dies führt zu einem interessanten Kontrast bei seiner ersten Begegnung mit Mélisande. Die klare schnelle Stimme der französischen Sopranistin Sabine Devieilhe als Mélisande, ihre präzise Aussprache und ihr ausgeprägtes Rhythmusgefühl, die sie in ihrer Verkörperung eines verstörten, gequälten und flüchtigen Wesen zeigt, machen sofort deutlich, dass die beiden Charaktere nicht in derselben Welt leben. Der junge attraktive britische Bariton Huw Montague Rendall interpretiert einen Pelléas, der zugleich jugendlich, lässig, sogar schelmisch und von tieferen Impulsen getrieben ist. Sein Gesang ist geschmeidig, als halte er eine Kraft zurück, die nur sporadisch hervorbricht und manchmal an den Ausdruck eines erhabenen Tenors grenzt.
Am anderen Ende des stimmlichen Spektrums lassen Arkel, interpretiert von dem französischen Bass Jean Teitgen und Geneviève von der französischen Mezzo-Sopranistin Sophie Koch mit erdigen Nuancen gesungen. Der König ist schwach, aber würdevoll, sein Bass ist eher klangvoll als tief und wird gegen Ende des Werks lebhafter, wo Debussy ihm einen der offenkundigsten lyrischen Momente zuschreibt. Seine Frau erhält lebendigere Gesangslinien, die mit mehr Ernsthaftigkeit fließen als die von Mélisande und verleiht dem Gesangsstil eine weitere körperliche Dimension, die Koch überzeugend wiedergibt. Yniold, der den eifersüchtigen Verhören seines Vaters ausgesetzt ist, ähnelt einem viktorianischen Jungen, ein Aspekt, der auch in den anderen Kostümen entworfen von der französischen Kostümbildnerin Emmanuel Thomas zu finden ist. Die Kindersopranistin , Mitglied des Jugend- und Kinderchors von Radio France, Lise Harnay geht mit großer Zuversicht in die Rolle des Yniold und meistert sie hervorragend, denn ihre Bühnenpräsenz und ihre stimmlichen Anforderungen stellen für jedes Sängerkind eine Herausforderung dar. Wieder einmal ist es Rilke, der die Bedeutung der Kinder in Maeterlincks Universum hervorhebt. Ihre Reinheit und Unschuld würden sie durchlässiger für den unmittelbaren Ausdruck der menschlichen Seele machen, ohne den Umweg über Worte.
In ihrem Programmbeitrag beleuchtet die bulgarisch-französische Psychologin Julia Kristeva (*1941) dieses Versagen des Verbs. Dem gegenüber steht ein Symbol des Körpers und der Sinnlichkeit: Das Haar! Letztere spielen in mehreren Stücken aus Maeterlincks frühen Theater eine sehr wichtige Rolle: Intérieur (1895) La Mort de Tintagiles (1894). Es folgt ein Lied von Mélisande: „Mein langes Haar fällt bis zur Schwelle des Turms“, das ist der Moment, indem Pelléas sich wirklich in sie verliebt. In diesem Moment überflutet eine Haarprojektion den Vorhang. Dies ist nur eines von vielen Beispielen dieser Inszenierung, bei der ein scheinbar oberflächliches Motiv auf eine tiefere literarische und psychologische Wahrheit hinweist. Das Publikum schätzte diese Verzauberung! Und wir auch! - (PMP/11.03.2025)