Paris, Opéra National - Salle Bastille, LA VESTALE - Gaspare Spontini, IOCO

PARIS - Die Vestalin: Gaspare Spontini eroberte schnell die italienischen Theater, bevor er sich in die Kaiserliche Landschaft Frankreichs einfügte und sich als führende Figur des „napoléonischen“ lyrischen Stils etablierte…

Paris, Opéra National - Salle Bastille, LA VESTALE - Gaspare Spontini, IOCO
Opéra Bastille, Paris © Uschi Reifenberg

 LA VESTALE (1807) von Gaspare Spontini, Oper in drei Akten mit einem Libretto von Étienne de Jouy.

 von Peter Michael Peters

EIN ITALIENER IM KAISERLICHEN PARIS…

Impitoyable dieux,

Suspendez la vengeance!

Que le bienfait de sa présence

Enchante un seul moment ces lieux,

Et Julia, soumise à votre loi sévère,

Abandonne à votre colère

Le reste infortuné de ses jours odieux.

L’arrêt est prononcé, ma carrière est remplie:

Viens, mortel adoré, je te donne ma vie ! Arie der Julia / 2. Akt / 2. Szene (Auszug)

Ehrgeizig, geschickt und innovativ eroberte Gaspare Spontini (1774-1851) schnell die italienischen Theater, bevor er sich in die Kaiserliche Landschaft Frankreichs einfügte und sich als führende Figur des „napoléonischen“ lyrischen Stils etablierte…

Wie viele Pariser oder Spaziergänger, die die Hauptstadt lieben, geben sich heute damit zufrieden, den Namen Spontini mit einer Straße im 16. Arrondissement von Paris in Verbindung zu bringen! Ebenso bemerken nur wenige Menschen beim Betrachten der Fassade des Palais Garnier die Büste von Spontini in der Mitte des Gebäudes, direkt neben Ludwig van Beethoven (1770-1827) und Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791). Abgesehen von einigen sehr informierten Musikliebhabern und Musikwissenschaftlern fällt es heute der Öffentlichkeit sehr schwer sich etwa vorzustellen, dass dieser den meisten Menschen unbekannte Komponist eine der symbolträchtigsten Figuren der „napoléonischen“ Ära verkörperte: Eine Art „Star“ der Oper im französischen Kaiserreich und auch immer noch ein Teil in der „Restauration Français“, sodass seine Werke während einer langen Zeit des 19. Jahrhunderts noch immer mit gleichem Erfolg aufgeführt wurden und deren Einfluss entscheidend für das Repertoire von Hector Berlioz (1803-1869), Giacomo Meyerbeer (1791-1864) oder auch Richard Wagner (1813-1883) war.

Teaser LA VESTALE - Oper von Gaspare Spontini - youtube Opéra national de Paris

Von Jesi bis Neapel: Die ersten italienischen Erfolge…

Maiolati. Im Jahr 1939 hatte dieses kleine Dorf in den italienischen Marken, das auf der Spitze eines grünen Hügels thront, das Recht seinen Namen mit dem seines berühmtesten Bürgers zu verbinden und sich fortan Maiolati-Spontini zu nennen. War es tatsächlich so, dass der kleine Gaspare am 14. November 1774 in einer bescheidenen Familie von Handwerks-Schuhmachern hineingeboren wurde, die  noch aus Not zusätzlich eine landwirtschaftliche Fläche bearbeiteten, die sie besaßen. Die kleine Stadt in der Provinz Ancona stand damals im Schatten ihrer Nachbarin Jesi, einer reichen und imposanten Stadt umgeben von einer Stadtmauer, wo am Ende des 12. Jahrhunderts der römisch-deutsche Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen (1194-1250) geboren wurde. Doch auch in jüngerer Zeit, im Jahr 1710, der Komponist einer äußerst berühmten Stabat Mater, P 77 (1736): Giovanni Battista  Draghi genannt Pergolesi (1710-1736) wurde hier geboren.

Erst bei einheimischen Musikern und dann bei seinem Onkel, einem Priester dessen Kapelle und Presbyterium drei Kilometer von den Stadtmauern von Jesi entfernt lagen, zeigte der junge Gaspare eine außergewöhnliche große Begabung für die Musik, besonders für das Klavier und auch eine besondere Passion für… den Klang der Glocken. Wie seine drei Brüder und seine Schwester für das kirchliche Leben bestimmt, entkam er dem Priesteramt, für das er keine besondere Berufung hatte, indem er schließlich mit der Unterstützung seines Familienkreises und der örtlichen Gönner in die Pietà die Turchini, eines der vier renommierten Konservatorien von Neapel eintrat. Pergolesi, der siebzig Jahre zuvor den gleichen Weg eingeschlagen hatte,  absolvierte jedoch bei den Poveri di Gesù Christo. Der junge Gaspare wird dort zwei Jahre und neun Monate verbringen, bevor er wegen einem sogenannten „Verbrechen“ umgehend verabschiedet wird, deren Ursache wir nie wirklich erfahren werden: Disziplinarprobleme oder aufbegehrende Unvereinbarkeit mit seinen Lehrern?

LA VESTALE in Paris - Szenenphoto @ Guergana Damianov

 Ende des 18. Jahrhunderts war Neapel noch immer die drittgrößte Stadt Europas und sehr berühmt für die Diaspora von Komponisten, Musikern, Chorleitern und Sängern, die sie in ganz Europa exportierte, sodass sie sich den Ruf als „Hauptstadt der Musik“ erwarb. Sie war berühmt für ihre vier Musikinstitutionen, die einen großen Teil der Musikwelt des 17. und 18. Jahrhunderts bildeten. Von Neapel aus verließen die Kastraten wie Carlo Maria Michelangelo Nicola Broschi genannt Farinelli (1705-1782), Gaetano Majorana genannt Caffarelli (1710-1783) oder Gioacchino Conti genannt Gizziello (1714-1761), die Komponisten Nicola Antonio Giacinto Porpora (1686-1768), Pergolesi, Johann Adolf Hasse (1699-1783), Giovanni Paisiello (1740-1816) oder Domenico Cimarosa (1749-1801) und so viele andere Persönlichkeiten der Musikwelt, die sich in den großen Musikzentren und Höfen Europas ausbreiteten. Wie alle hochbegabten Schüler führt Gaspare die kleinen Arbeiten aus, die renommierte Komponisten an „Lehrlinge“ delegierten: Harmonisierung bestimmter Melodien, Schreiben von Rezitativen, u.v.a… Die Tatsache, dass er während seiner Zeit am Konservatorium die kleine Hand des großen Cimarosa zu sein schien, war für den jungen Mann eine beeindruckende Visitenkarte, um die italienischen und dann die französischen Bühnen zu erobern.

Damit  begann für ihn zwischen  1796 und 1802 eine Reihe von Triumphen auf italienischen Bühnen mit einem Repertoire, das im Wesentlichen der Opéra buffa gewidmet war. Es war zu dieser Zeit die große neapolitanische Spezialität, in der sich seine Vorgänger besonders hervorgetan hatten: Pergolesi, Leonardo Ortensio Salvatore de Leo (1694-1744), Leonardo Vinci (1690-1730), Paisiello, Tommaso Traetta (1727-1779), ohne seinen Lehrer Cimarosa zu vergessen. Lediglich die Oper Teseo riconosciuto, die in Florenz im Jahr 1798 uraufgeführt wurde, gehört zur Gattung der Opéra seria: Dort finden wir eine denkwürdige Szene aus der Unterwelt, die nur etwa zehn Minuten dauert, die aber als die erste große dramatische Szene von Spontini gelten kann, besonders für die gewaltige Intensität der Orchesterpartitur. In Florenz, aber auch in Venedig, Rom, Neapel oder Palermo lieferte Spontini mit einer makellosen Ausführung, die in einem traditionellen Repertoire aus Farcen und lebhaften Komödien bestand. Er war  ein fleißiger junger Mann, ein Perfektionist mit einem überaus, schwierigen Charakter, von sich und seinem Talent sehr überzeugt und zweifellos auch äußerst ehrgeizig. Das Leben in den italienischen Städten, hat für viele und auch für ihn nicht mehr die prestigeträchtige Ausstrahlung, die sie im 17. oder auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kannten. Es interessiert Spontini nicht! Er will wollte höher hinaus!

LA VESTALE - Szenenphoto - Julien Behr (Cinna) - Michael Spyres (Licinius) @ Guergana Damianov

 Es gab jedoch nur eine Hauptstadt, die seit Königin Marie-Antoinette (1755-1793) zu einem großen gewaltigen kosmopolitischen Musikzentrum wurde und auch viele ausländische Komponisten aus ganz Europa anzog: Paris! Gaspare beschließt daher, sich auf den Weg über Marseille zu machen und sichert sich auch diverse Empfehlungen von prominenten Geschäftsleuten und Musikliebhabern: Sie werden ihm auch in Paris nützlich sein, um wichtigen Kontakt u. a. mit dem Bankier Jean-Joseph-François Alexandre Barrillon (1762-1817) und dem Ehepaar Jacques-Rose Récamier (1751-1830) und Jeanne Françoise Juliette Récamier (1777-1849) herzustellen. Ein gewisser Ruhm als erfolgreicher italienischer Komponist ging ihm schon voraus, denn er hatte in seiner kurzen Karriere immerhin elf Opern komponiert und er brachte auch ein schmeichelhaftes Etikett als „Schüler von Cimarosa mit.

Ein umwerfendes Debüt für einen jungen Italiener in Paris…

Als Spontini im Jahr 1803 in der französischen Hauptstadt ankam, kannte er fast niemanden und wurde  von keinem Theater erwartet. Aber er verstand wohl, dass das Théâtre-Italien im letzten Jahr von Napoléon Bonaparte I.(1769-1821) neu gegründet wurde und man suchte ständig nach neuen Titeln, natürlich auch nach neuen Talenten, um seine Opern-Saison erfolgreich zu gestalten. Es wurde grundsätzlich Werken gewidmet, die in der Sprache von Dante Alighieris (1265-1321) geschrieben waren! Dank seiner Empfehlungsschreiben gelang es ihm, einen Vertrag zu bekommen und somit wurde seine bezaubernde Opéra Buffa La Finta Filosofa aufgeführt, die schon im Jahre 1799 in Neapel sehr großen Erfolg hatte. Das leicht überarbeitete Werk wurde am 13. Februar 1804 im Saal Louvois von einem begeisterten Publikum gefeiert. Glücklicherweise war an diesem Abend Joséphine de Beauharnais (1763-1814), eine große Musik- und Opernliebhaberin im Saal. In diesem Jahr 1804, in dem man bereits nur noch über die Zeremonien und Festlichkeiten sprach, die der Krönung des Kaisers vorangehen sollten. Natürlich verstand Joséphine genau wie wichtig es ist, einen großen Kreis von Künstlern um sich zu haben, die sich nach Art der Herrscher des Ancien Régime um sie scharen. Deshalb hatte sie diesen jungen Mann von fast dreißig Jahren im Visier, gutaussehend und schneidig, zweifellos etwas zu anmaßend, aber fähig Musik zu komponieren, die ihren Ohren gefiel und der eine der größten Musikschulen Europas absolvierte: Im Jahr 1804 wurde Spontini zum „Außerordentlichen Komponisten seiner Majestät der Kaiserin“ ernannt. Dieser Titel ermöglichte es ihm eine ebenso prestigeträchtige wie auch unerwartete Einbindung in das musikalische und soziale Gefüge einer Hauptstadt, die er gerade erobern wollte. Diese Unterstützung durch die zukünftige Kaiserin – die sich in eine echte Freundschaft verwandeln sollte, sogar über die Scheidung von Joséphine und Napoléon im Jahr 1809 hinaus – verschaffte ihm einen mehr als ehrenvollen Status unter den Komponisten seiner Zeit und er erhielt auch während der mühsamen Entstehung der Oper La Vestale  eine überaus wertvolle Hilfe  von Joséphine.

LA VESTALE - Szenenphoto mit Jean Teitgen ( Le Souverain Pontife), Eve-Maud Hubeaux (La Grande Vestale), Elza van den Heever (Julia) und Choristen @ Guergana Damianov

 So öffneten sich die Türen, eine nach der anderen. Nach der Opéra-Italien in der Rue Louvois kommt die Opéra Comique, die sich damals in der Rue Feydeau befand. Dort hatte Spontini einen ziemlich schlechten Start mit dem durchschlagenden Misserfolg seiner komischen Oper La Petite Maison (1804). Er kam aber äußerst schnell wieder auf die Beine und  zwei andere Titel triumphierten: Eine charmante komische Oper, wenn auch nicht sehr kommerziell betitelt Julie, ou le Pot de fleurs (1805) und ein Werk auf halben Wege zwischen Komödie und Drama, die komische Oper Milton (1804) mit einer unbestreitbaren Qualität, die auch mehrfach auf den zeitgenössischen italienischen Festivals gespielt wurde.

Nach der Opéra-Italien, die später Théâtre-Italien bezeichnet wird und der Opéra Comique, ist noch der letzte große Schritt zur Opéra zumachen, die ab Juni 1804 in Académie Impériale de Musique  umbenannt wurde. Dieses Theater befand sich damals in der Rue Richelieu, an der Stelle des heutigen Platzes Louvois, gegenüber dem Haupteingang der Bibliotheque Nationale. Es handelt sich um eine große Maschinerie mit mehr als dreihundert festangestellten Mitarbeitern, einem komplexen Betrieb, der dem Verwaltungsaufwand und den intriganten Cliquen zwischen den Mitarbeitern unterliegt. Man muss auch die Eifersüchteleien unter den verschiedenen Gruppen berücksichtigen, die seit Jahrzehnten „die französische Partei“ genannt wurde. Das heißt eine Gruppe von Handwerkern und Künstlern, die die Einmischung von Ausländern in diesem Tempel der französischen Musik nicht mit Wohlwollen sahen. Bereits schon unter Königin Marie-Antoinette hatten Deutsche und Italiener wie Christophe Willibald Ritter von Gluck (1714-1787), Niccoló Vito Piccinni (1728-1800), Antonio Maria Gasparo Sacchini (1730-1786) und Antonio Salieri (1750-1825) den Preis dafür bezahlt. Die Geschichte wiederholt sich also an diesem à priori für alle zugänglichen Ort, der jedoch von französischen Künstlern, die auf ihre von ihnen selbsternannten Vorrechte eifersüchtig waren: Tatsächlich für alle Ausländer hermetisch verschloss [sic]!

 Es würde zu weit führen, die vielfältigen Wechselfälle aufzuzählen, unter denen La Vestale leiden musste: Verschobene oder abgesagte Proben, im letzten Moment geplante Arbeiten, Brände in den Dekoration- und Kostüm-Magazinen… Alles Mögliche wurde getan, um die Probenzeiten über mehr denn zwei Jahre künstlich zu verlängern, obwohl in normaler Zeit sechs Monate gereicht hätten. Aber eines ist sicher: Bei jedem Hindernis, in jedem Moment der Entmutigung wird Joséphine „ihrem“ ernannten Komponisten zu Hilfe kommen, um Widerstände und Cliquen zu überwinden. Wenn endlich die Uraufführung am 15. Dezember 1807 war, wird der absolute und jahrzehntelange Triumph von La Vestale mit einem Libretto von Étienne de Jouy (1764--1846) tatsächlich auch der von Spontini und seiner Beschützerin sein.

LA VESTALE - Szenenphoto - Elza van den Heever (Julia) und Chor @ Guergana Damianov

Was den Geschmack des Kaisers betrifft, ist die Sache heikler! Obwohl er sich kaum für Musik und Oper begeisterte, sondern eher für die klassische Tragödie, versteht er andererseits, dass der Erfolg der Pariser Theater und insbesondere der Académie Impériale de Musique für das Image des Empire notwendig ist. Nach den Revolutionsjahren musste alles neu aufgebaut werden und Napoléon war fest davon überzeugt, dass der Ruhm der Herrschaft durch ein attraktives und abwechslungsreiches kulturelles Leben in guter Ordnung zustande kam. Er wusste auch, dass die wirtschaftlichen Erneuerungen in diesem Sinne wirklich wichtig waren, da es eine ganze Gesellschaft gewissermaßen auslaugen konnte. Die aber jedoch nach viel Unterhaltung hungerte und somit war er auch bereit, dafür sehr große enorme Summen auszugeben. Daher ist Napoléons Mäzenatentum in vielen künstlerischen Bereichen umfassend und vollständig! Er ist natürlich auch gleichzeitig ungemein kalkulierend und „interessiert“ wie ein König Louis XVI. (1754-1793), verfügt jedoch aber über weniger Fähigkeiten. Spontini ist aber nicht à priori einer seiner Lieblingskomponisten: Jean-François Lesueur (1760-1837) und Paisiello, die Musiker des Sakralen, sind überwiegen eindeutig in diesem Bereich! Aber die Überzeugung, mit der die Kaiserin ihren Schützling verteidigt und insbesondere der Einfluss, den La Vestale auf die musikalische und man könnte auch sagen, auf die politische Landschaft seiner Zeit haben wird, werden ihn somit auch zu einer angemessenen Wertschätzung seines Talents beim Kaisers einführen. Letzterer konnte jedoch niemals als ein „Hofkomponist“ leben, was aber nicht bedeuten würde, dass er oft dorthin kam und mit dem leisesten Fingerschnippen aufgerufen werden konnte: Ihre Majestäten zu „unterhalten“! Gaspare hatte stets seine Unabhängigkeit geachtet und ähnelt in keiner Weise der Sängerin Giuseppina Grassini (1773-1850) und dem Kastraten Girolamo Cresentini (1762-1846), die man durchaus als „Hofmusikanten“ in den Tuilerien bezeichnen Könnte.

Die napoléonischen Opern: „La Vestale“ und „Fernand Cortez”…

Mit seinen beiden Hauptwerken aus den Jahren 1807 und 1809 zeigt Spontini gekonnt, wie er sich sowohl in die französische Gesellschaft als auch in ein nationales Opernmodell einfügte und dabei etwas Neues erfand, das mehrere Generationen von Komponisten beeinflussen konnte. Hinzu kommt seine eigene Fähigkeit, sich in die französische Landschaft einzufügen, während dieser Bürger eines Kirchenstaates ein reines Produkt der neapolitanischen Schule war. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit eignete er sich die perfekten Kenntnisse der französischen Sprache an, die für seine sozialen Beziehungen, aber auch für das gute Verständnis der ihm angebotenen Opernlibrettos von großem Nutzen waren. Diese Integration in seine Wahlheimat vervollständigte er durch die Hochzeit mit Marie-Catherine Céleste Érard (1790-1878), der Nichte von Sébastien Érard (1752-1831), dem großen Instrumentenbauer, der bald der brillante Erfinder der Harfe mit Doppelwerk und der Doppelhemmung des Klaviers sein sollte. Im Jahr 1811 war er 37 Jahre alt und sie 21 Jahre alt. Bis zum Tod des Komponisten bildeten sie das vereinigste und liebevollste Paar, trotz oder vielleicht dank allem, was ihnen entgegenstand: Dem vulkanischen Temperament, der Großartigkeit und dem ungestümen Stolz ihres Mannes, aber die unermessliche Zärtlichkeit, die Sanftmut und beruhigende Ruhe seiner Frau. Immer wieder voller Ehrfurcht vor ihrem „großartigen Mann“! Selbst als er Paris im Jahr 1820 verließ, betrübt über die Armut des kulturellen Lebens unter König Louis XVII (1755-1795) und sich dreißig Jahre lang in Berlin niederließ. Wo er nur mit seinen deutschen Gesprächspartnern die Sprache von Jean-Baptiste Poquelin genannt Molière (1622-1673) sprach, denn Gaspare  blieb im Herzen französisch: Er machte häufige Aufenthalte im Château de la Muette in Passy, dem Wohnsitz der Familie Érard und wurde 1839 Mitglied des Instituts. Offensichtlich zeigte er auch im Bereich der Oper seinen Sinn für Adaptionen und um seinen grundlegenden Beitrag zum französischen Repertoire hinzu zufügen. Seine beiden Opern sind à priori Modelle dessen, was wir heute den „napoléonischen Stil“ nennen könnten. Sie sind das Bild dessen, der damals Frankreich regierte, bevor die grossen Rückschläge und Niederlagen begannen. La Vestale und Fernand Cortez mit ihren vielen reichen Prozessionen, ihren Militärmärschen, ihrer Heldenverehrung, ihrer Masse an Statisten und Pferden auf der Bühne, sowie für die erste der Beiden, die neoklassizistische Monumentalität der antiken Dekorationen: Bleiben unbedingt eine ideale Zusammenfassung dessen, was wir das „napoléonisches Epos“ nennen. Wie könnte man besser verdeutlichen, dass das große antike Römische Reich nun in einem neuen Napoléonischen Reich wiedergeboren wird? Nicht umsonst wird La Vestale unter diesem Regime zum Archetyp der französischen Opern-Produktionen: Der Kaiser wollte sie allen Staatsoberhäuptern und gekrönten Häuptern, die durch Paris kamen, vorführen! In diesem Werk atmet alles „die heroische Geste“ einer Herrschaft, verbunden mit der Kraft einer großen Tragödie, wie sie Napoléon, ein glühender Bewunderer des Schauspielers François-Joseph Talma (1763-1826) und den Inszenierungen an der Comédie Française, sicherlich verstand.

LA VESTALE - Szenenphoto - Jean Teitgen (Le Souverain Pontife), Michael Spyres (Licinius) @ Guergana Damianov

 Dieselbe Pracht in der Oper Fernand Cortez, das Ergebnis eines kaiserlichen Auftrags, der darauf abzielte den Versuch noch einmal zu wiederholen. Die Idee bestand darin, das glorreiche Abenteuer des Eroberers Hernán Fernando Cortés (1485-1547) aus dem 16. Jahrhundert hervorzuheben, der auch in der Lage war, unterwürfige Völker zu unterwerfen und  ihre Idole – die heidnischen Götter der Azteken – zu zerstören, wie es der Kaiser mit der spanischen Inquisition tat. Das Einzige, was Napoléon nicht vorhergesehen hatte, war die Wende in der spanischen Situation und die ersten Rückschläge, die er dort erlitt: Von einer Oper, die zum Ruhm eines Nationalhelden [sic] wurde und dann zu einem unsagbaren subversiven Werk abfiel, das das eigentliche Bild des unbesiegbaren Helden einfach untergraben hatte!  Wie erwartet wurde Fernand Cortez nach einigen Vorstellungen vom Spielplan abgesetzt!

Was bleibt ist die Musik von Spontini und was sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts uns zu sagen hat! La Vestale ist eine der letzten lyrischen Tragödien der Geschichte und ein Meisterwerk ihres Genres. Im Gegensatz zur Komplexität der Librettos der französischen Tragödie oder der italienischen Opéra seria ist die Inhaltsangabe von La Vestale absolut einfach, inspiriert von den Vorbildern von Gluck. Die Oper basiert praktisch nur auf einer Figur – La Vestale Julia – von echter Charakterstärke und absoluter Modernität in der Art und Weise, wie sie ihre Entscheidungen trifft: Sie befindet sich zwischen der Médée (1797) von Luigi Charles Cherubini (1760-1842) und der Norma (1831) von Vincenzo Bellini (1801-1835). Diese tragische Dimension, insbesondere in der großen Szene von Julia im Tempel im 2. Akt, erklärt die Bewunderung, die Berlioz für diese Oper hatte: Er stellte sie über alles auf eine Stufe mit den beiden Iphigénies (1774/1779) von Gluck und machte es zu einer wesentlichen Inspirationsquelle für Les Troyens (1890). Wie können wir nicht auch einen Zusammenhang zwischen der grossen Szene des Triumphs von Licinius im 1. Akt und der von Radames aus der zukünftigen Aida (1871) von Giuseppe Verdi (1813-1901) erkennen? Schließlich wird die Entscheidung von Spontini, eine kontinuierliche Melodie zu bevorzugen, wie Gluck es initiiert hatte, ohne Pausen oder Applaus zwischen den Szenen und auch einen gewissen Einfluss für Wagners Werke haben!

 Mit Fernand Cortez verlässt Spontini die lyrische Tragödie, um das zukünftige romantische Drama zu skizzieren. In einem völlig neuen Kontext für die Académie Impériale de la Musique - in einer mexikanischen Geschichte, die sich so sehr von den bis dahin vorherrschenden antiken Themen unterscheidet – entfaltet er ein Klangfresko von nie dagewesener Größe  und kontrastiert „gelehrte“ Musik auf sehr relevante Weise mit den spanischen Colons zur „wilden“ Musik der Azteken, verstärkt durch Tam-Tamps und starker Percussion aller Art. Mit seiner kraftvollen Orchestrierung, seiner „barbarischen“ Szene, seinen Militärumzügen, seinen Kavallerieangriffen, seinen prächtigen Chören und seinen patriotischen Ausbrüchen ohne die geringste romantische Liebesgeschichte, ein eher seltenes Phänomen, kündigt Fernand Cortez schon das Genre de la Grand Opéra an: Das mit Daniel-François-Esprit Auber (1782-1871), Meyerbeer oder Fromental Halévy (1799-1862) seinen großen Höhepunkt erreichte, wird somit bald den großen Erfolg an der Académie de la Musique machen. Viele der erfolgreichsten  Passagen aus La Muette de Portici (1828) von Auber, aus Guillaume Tell (1829) von Gioachino Rossini (1792-1868), aus Robert le Diable (1831) von Meyerbeer oder La Juive (1835) von Halévy, sind bereits in den beiden Versionen von Fernand Cortez angekündigt: Der Originalfassung von 1809 und jener von 1817 endgültig überarbeiteten! Aber wenn wir den politischen Aspekt einer Auftrags-Oper zur Ehre des Kaisers betrachten, ist es paradox, dass trotz so expliziter Verse wie „Wir werden unsterblich wiedergeboren und sterben für das Vaterland“ oder „Folgt mir, Kastilier! Marsch! Unbesiegbare Truppe, Cortez wird euch zu neuen Siegen führen“, wenn die trotz allem im „napoléonischen“ Geist komponierte Musik den Regimewechsel leicht überstehen konnte und unter König Louis XVIII., dem Erzfeind des „Usurpators“ : Doch noch ihre verdiente Weihe bekommen konnte!

Spontini und das Imperium: Welche Ergebnisse...?

Im Jahr 1810 erhielt Spontini für La Vestale den ersten zehnjährigen Opernpreis, den Napoléon ins Leben rief, um die besten Musikwerke unter seiner Herrschaft auszuzeichnen. Étienne Nicolas Méhul (1763-1817) seinerseits erhielt den zehnjährigen Opernpreis für seine komische Oper Joseph et ses frères (1807). Mit dem Sturz des kaiserlichen Regimes wird es natürlich keinen weiteren zehnjährigen Preis mehr geben. Noch bevor er Marie-Céleste heiratete, erhielt Spontini im Jahr 1810 den Auftrag, das Théâtre-Italien zu leiten, dasselbe das es ihm ermöglicht hatte, sich bei seiner Ankunft in Paris im Jahr 1803 mit La Finta Filosofa bekannt zu machen. Er wird sich in dieser Funktion hervorheben, insbesondere mit der ersten Pariser Aufführung des Don Giovanni, K 527 (1787) von Mozart in der italienischen Original-Version. Aber der langsame programmierte Sturz von Napoléon macht die Sache sehr schwierig! Gaspare hatte nach der Scheidung Joséphines vom Kaiser im Dezember 1809 nicht nur seine wirksame Beschützerin verloren, sondern er sah auch deutlich, dass der Schwung, den der Kaiser in den ersten Regierungsjahren vermittelt hatte, für immer verschwunden war. Jetzt war die Zeit für die „Opern der Umstände“ gekommen, patriotische Demonstrationen mit abscheulicher musikalischer Schwäche, die nur erbärmliche Versuche waren: Jemanden zu retten, der nicht mehr zu  retten war! Doch trotz der Erfolge, die er unter Louis XVIII. erzielte und trotz der Ehren, des Reichtums und der Titel, die ihm der König von Preussen zuteilwerden ließ, blieb Spontini dem Imperium in seinem tiefsten Inneren treu, zweifellos war es die aufregendste Zeit seines Daseins. La Vestale und Fernand Cortez seinerseits gehörten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den Juwelen der Opéra de Paris, bevor sie allmählich in Vergessenheit gerieten. Wie viele entscheidende Perioden bleiben auch diese wenigen Jahre zwischen dem Klassizismus von Mozart und den extravaganten Impulsen der Romantik schlecht verständliche Werke für die Nachwelt. Zweifellos waren die Opern von Spontini zu sehr von der Großartigkeit und den kriegerischen Impulsen eines sehr fraglichen Regimes geprägt und wurden trotz aller Neuheiten und Kühnheit, die sie ihren Nachfolgern brachten, aber jedoch mit recht sehr schnell von Komponisten wie Verdi und Wagner hinweggefegt. Deshalb ist es gerechtfertigt, das diese Oper La Vestale in der Stadt ihrer triumphalen Uraufführung, in der Opéra National de Paris / Salle Bastille und auch in ihrer Muttersprache endlich wieder zum Leben erweckt wird. Denn schon im kaiserlichen Paris hatte sie ihr Publikum wörtlich zu äußerst begeisterten und wahnsinnigen entflammten Menschen verwandelt… Warum nicht heute noch einmal? Aber bitte ohne Fanatismus und Nationalismus!

LA VESTALE - Szenenphoto - Jean Teitgen (Le Souverain Pontife), Eve-Maud Hubeaux (La Grande Vestale), Chor @ Guergana Damianov

LA VESTALE - Aufführung  in der Opéra National de Paris / Salle Bastille - 26. Juni 2024

 La Vestale entflammt das Publikum in Paris…

„Der Fanatismus ist ein Monster, das wagt sich Sohn der Religion zu nennen“, Diese Worte von François-Marie Arouet genannt Voltaire (1694-1778), projiziert auf den letzten Vorhang in l’Opéra National de Paris, fassen die ganze Bedeutung dieser Inszenierung der Oper La Vestale zusammen. Diese Produktion wurde der amerikanischen Regisseurin Lydia Steier anvertraut, die schon in der letzten Saison für ihre radikale Interpretation der Salome, Op. 54 (1905) von Richard Strauss (1864-1949) bekannt geworden war. Es markiert die Rückkehr eines Hauptwerks von Spontini, das trotz seiner gefeierten Uraufführung im „napoléonischen“  Paris im Jahr 1807 seit 150 Jahren nicht mehr auf dem Spielplan der Opéra National de Paris war. Angesichts dieses feurigen Abends fragen wir uns, warum? Sicherlich ist das Libretto nicht das spannendste: Als Licinius nach fünf Jahren von einem mörderischen Feldzug nach Hause zurückkehrt, wird er als großer Held begrüßt, beklagt jedoch, dass er seine Geliebte Julia, die inzwischen zu einer Vestalin geworden ist, nicht finden kann. Die politischen und religiösen Mächte versuchen, ihn für ihre Pläne zu begeistern, um die Kräfte einiger Idealisten zu schwächen. Fast ein Jahrhundert später wird Giacomo Puccini (1858-1924) mit Tosca (1900) nichts anderes vorschlagen. Sicherlich bietet das Libretto von de Jouy, auch wenn es sehr elegant und ausgefeilt ist, nicht viele Abenteuer – aber auch Tristan und Isolde (1865) von Wagner, der die gleiche Linie übernimmt, wird nicht viel mehr bieten. Selbst der Meister von Bayreuth wird nie aufhören begeistert zu sein und wird immer wieder die Kompositionen des Älteren äußerst hoch loben. Das Versäumnis scheint umso unfairer, denn Spontini erweist sich als ein großer genialer und inspirierter Musiker:  Mit einer Orchestrierung, die eines Gluck würdig ist, Instrumente hinter den Kulissen, Doppelchöre, Ballett, organische Kontinuität, die sich von der Abfolge unterschiedlicher Melodien befreit. Es wird nicht nur die große französische Oper skizziert, sondern auch die Wagner-Revolution ist bereits im Gange.

 

Ein Segen für Steier, die mit der Übertragung der alten Legende auf ein modernistisches totalitäres Regime erneut eine hyperrealistische und kompromisslose Vision durchsetzt. Die Bühnenbilder des französischen Bühnenbildner Étienne Pluss sind schon wahnsinnig gruselig geworden: Der Anfang gibt den Blick auf einen großen Teil einer Betonwand frei, befleckt mit Blutlachen von Leichen, die von Milizionären an den Füßen aufgehängt werden. Die bedrückende Umzäunung verschiebt sich zur Seite und gibt den Blick auf die andere Seite frei: Das große, verfallene Amphithéâtre de la Sorbonne wird sowohl als Bühne für die Militärparade im 1. Akt als auch als Tempel für die Vestalinnen dienen, die sich um das heilige Feuer im 2. Akt kümmern oder sogar ein Volkstribunal installiert sich im Finale. In dem heiligen Feuer werden auch Bücher verbrannt! Die Geschichte wiederholt immer wieder!

 

Eine militärische Gesellschaft nach außen, religiöser Fanatismus und Wissensschändung nach innen. Eine sichere Tür wird diese beiden komplementären Seiten des Faschismus vereinen! Die Liktoren und Vestalinnen werden niemals aufhören, sich unter der gemeinsamen geplanten Formel TALIS EST ORDO DEORUM (Das ist die göttliche Ordnung!) zu vereinen [sic!]. Das ist alles äußerst aktuell: Wir kennen es aus unserer nächsten Vergangenheit! Aber es kommt schon langsam und progressiver näher! Es steht schon vor Tür! Es ist fließend, relevant, eloquent und die Regie schafft es, das beruhigende Happy End auch noch zu verdrehen: Beim Vorhangfall am Ende hört man lautstarke Maschinen-Gewehr-Schüsse… La Grande VestaleJuliaLicinius… und… und… und… bumm !!!

 

Steiers Regie weist auf einen echten Stil hin, der sich in ihrer ganz eigenen Art mit einer Parallelität zu spielen scheint und zeigt auch: Bei Salome war sie „vertikal“, bei La Vestale ist sie „horizontal“! Gestern überragte die Bourgeoisie das Proletariat, heute geht sie Hand in Hand mit der fanatischen Kirche und der blutigen und mörderischen Legion. Eine authentische Signatur, die der „Grande Boutique“ (Nickname für l‘Opéra National de Paris) trotz ihrer traditionellen Buhrufe vielleicht die Treue bewahrt.

Um diesen dunklen Vorschlag zu verkörpern, kann Steier auf „Stammgäste“ der Opéra Bastille zählen, angeführt von dem vorbildlichen amerikanischen Tenor Michael Spyres: Selten wirkte ein Trunkenbold so köstlich wie sein Licinius am Fuße der Betonmauer. Der Tenor beugt seine Stimme… und was für eine Stimme, jedem seiner ausdrucksstarken Wünsche folgt sie und demonstriert auch eine Inkarnation voll und ganz. Daneben wirkt der peroxidierte Cinna des französischen Tenor Julien Behr sicherlich weniger voluminös, sein Timbre weniger gehaltvoll, aber ihre Komplizenschaft in der 2. Szene reißt den Betrachter doch leicht mit. Um die anderen wahrscheinlich zu ärgern, ist es ein autoritärer und imperialer Souverain Pontife, den der französische Bass Jean Teitgen mit seinem wohlklingenden samtigen Timbre interpretiert. Während der junge französische Bariton Florent Mbia einen überzeugenden Anführer der Liktoren und auch gleichzeitig die kleine Rolle des Konsul interpretiert.

Auf der weiblichen Seite passt La Grande Vestale zur Bühnenstatue der schweizerischen Mezzo-Sopranisten Ève-Maud Hubeaux, die sie mit Überzeugung verkörpert. Leider erreicht ihre Wut im 1. Akt nicht immer die Rampe, denn ihre begrenzte Projektion war nicht ideal für das Publikum. Die Titelrolle der Julia wurde äußerst bemerkenswert  von der südafrikanischen Sopranisten Elza van den Heever interpretiert. Ihre Klangfarben waren abgestimmt, der Text ausgearbeitet, eine Intensität in jedem Augenblick, die Sängerin entzündete sich wörtlich ohne sich zu verzehren noch zu verbrennen, um ihre Julia bis zum Ende des 2. Akt zu führen. Man dachte tatsächlich manchmal schon an Isolde!

Dennoch wäre ein mehr engagiertes Orchester und eine prägnantere Leitung des französischen Dirigenten Bertrand de Billy nicht zu viel verlangt. Da die Musiker nur zur Hälfte den epischen Charakter der Partitur annehmen, bleiben sie den ganzen Abend über wie mit zu viel Wechselstrom versorgt. Ansonsten war es ein hinreißender feuriger Abend und eine unwahrscheinliche Wiederentdeckung! Brava! Bravo! Bravissimo!  (PMP/05.07.2024)

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