Paris, Opéra National - Salle Bastille, FAUST - Charles Gounod, IOCO

FAUST - Paris: So hatte sich Johann Wolfgang von Goethe eine Vertonung seines Opus summum wohl nicht vorgestellt! Dem Dichter-Fürsten, der einer musikalischen Übersetzung seiner Faust-Tragödie durchaus aufgeschlossen war, galt Wolfgang Amadeus Mozarts ....

Paris, Opéra National - Salle Bastille, FAUST - Charles Gounod, IOCO
Opéra Bastille, Paris © Uschi Reifenberg

OPÉRA NATIONAL DE PARIS - SALLE BASTILLE / 02.10.2024 - Charles Gounod: FAUST (1859), Oper in fünf Akten. Libretto von Jules Barbier und Michel Carré

 von Peter Michael Peters

NICHTS! AUSSER DER SUCHE NACH DEM ABSOLUTEN…

RONDE DU VEAU D‘OR

Le veau d’or est toujours debout !

On encense

Sa puissance,

D’un bout  du monde à l’autre bout !

Pour fêter l’infâme idole

Roi et peuples  confondus,

Au bruit sombre des écus,

Dansent une ronde folle

Autour de son piédestal!...

Et Satan conduit le bal. (Akt / Szene 3 /Auszug / Rondo des Méphistophélès)

FAUST by Charles Gounod (Chœur des soldats) youtube Opéra National de Paris

Wer ist die zentrale Figur im Faust von Gounod…?

So hatte sich Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) eine Vertonung seines Opus summum wohl nicht vorgestellt! Dem Dichter-Fürsten, der einer musikalischen Übersetzung seiner Faust-Tragödie durchaus aufgeschlossen war, galt Wolfgang Amadeus Mozarts (1756-1791) ästhetisch umfassender Zugriff des Don Giovanni, K.527 (1787) als Ideal. Der ohnehin faustische Charakter von Ludwig van Beethoven (1770-1827), der das Projekt tatsächlich ins Auge fasste, ohne es jemals konkret in Angriff zu nehmen, hätte Goethes Zustimmung sicher gefunden. Denn eine Musik zum Faust, so Goethe zu Johann Peter Eckermann (1792-1854), muss auch „das Abstoßende, Widerwärtige und Furchtbare“ sinnlich erfahrbar machen, oder anders gesagt, ihr Gehalt und ihr Charakter müssen sich dem Geisteskosmos der Tragödie gewachsen sein. Während Hector Berlioz (1803-1869) in La damnation de Faust, Opus 24 (1846) dieser ästhetischen Forderung  zumindest nahekam, wahr ähnliches bei einem Meister des innigen Wohlklangs, wie Charles Gounod (1818-1893) es war: Nicht zu erwarten. Dass ausgerechnet sein Faust die bei weitem erfolgsreichste Komposition über dieses Sujet wurde, wäre nur dann eine Ironie der Musikgeschichte, hätte Gounod tatsächlich Goethes Tragödie vertont. Das aber ist nur sehr bedingt der Fall!

Die direkte Vorlage war eine Goethe-Adaption für ein Boulevard-Theater: Michel-Antoine-Florentin Carrés (1821-1872) Faust et Marguerite (1850), ein drame fantastique, das Jules Barbier (1825-1901) zunächst allein zum Libretto umarbeitete, später gesellte sich Carré hinzu (1855/56). Für die Walpurgisnacht-Szene des 5. Akts sowie für die Dom-Szene des 4. Akt griff Barbier passagenweise wörtlich auf Gérard de Nervals (1808-1855) Übersetzung des Goethe’schen Faust zurück. Beides fehlt in Carrés Theaterstück! Von Anfang an bestand die Absicht die Perspektive zu verengen. Das gewaltige Ideen-Drama sollte lediglich als Handlungsgerüst dienen, als Ausgangspunkt für eine Liebesgeschichte mit satanischer Beteiligung. Eine gängige Opernpraxis, wenn man nach geeigneten Stoffen Ausschau hält. Das als Präambel zu akzeptieren, scheint unerlässlich, wenn man Gounods Werk so erfahren will, wie es gemeint ist, als eine grand opéra zwischen Liebe, Tod und Teufel. Der aus dem Jahr 1855 stammende Plan Gounods und Carrés nahm 1856 durch die Initiative Léon Carvalhos (1825-1897), des Direktors des Théâtre Lyrique Paris, konkrete Formen an. Bis März 1857 lagen die drei ersten Akte komplett vor. Der Fortgang wurde dann mehrmals unterbrochen, zunächst durch Gounods Projekt der Oper Ivan le Terrible (1856/57) und der Komische Oper nach Jean-Baptiste Poquelin genannt Molière (1622-1673) Le médecin malgré lui (1858) und dann durch Carvalhos Zögern wegen eines Faust-Konkurrenzstückes am Théâtre de la Porte Saint-Martin. Im September 1858 hatte Gounod schließlich das Werk abgeschlossen. Sehr zum Leidwesen des Komponisten strich Carvalho währen der Proben die Partitur ziemlich rücksichtslos zusammen, der musikalisch schmerzlichste Verlust dürfte die seither verschollene Wahnsinnsarie Marguerites gewesen sein, die den letzten Akt eröffnen sollte. Die Uraufführung am 19. März 1859 wurde trotzdem zu einem überwältigen Erfolg, das Werk wurde bis 1868 über 300 Mal gegeben.

FAUST - Szenenphoto mit Marc Diabira, Stumme Rolle (Faust alt) und Statisten als diabolische Geister © Franck Ferville)

 Als Carvalho aufgrund finanzieller Probleme sein Theater schließen musste, erwarb die  Opéra Impérial die Rechte, deren Direktor Émile-César-Victor Perrin (1814-1885) Gounod mit einer Umarbeitung beauftragte, die auf die Erfordernisse des Hauses zugeschnitten war. Neben zwei neuen Musiknummern: Das Couplet des Méphistophélès im 4. Akt sowie die Ballettmusik der Walpurgisnacht-Szene war die entscheidende Änderung die Überführung  der  bis dahin gesprochenen Dialoge in Orchester-Rezitative. Die Arbeit war im November  1868 abgeschlossen, am 3. März 1869 kam das Werk in dieser Form heraus und wurde unmittelbar als gültige Fassung anerkannt, auch wenn die Dialog-Version noch 1932 ein letztes Mal neu einstudiert wurde.

So ist Faust alles andere, als ein in sich geschlossenes Werk, viel eher ein mixtum compositum aus mehreren Gattungssträngen. Zur opéra-comique tendirent sind die Couplets Méphistophélès: „Ronde de veau d’or“, „Vous qui faites l’endormie“ und „Minuit ! Minuit“ sowie jene eigenständige musikalische Kontur erhalten. Der grand opéra gehören die Rezitative und das Ballett an sowie jener hochfliegende Tonfall der Dom-Szene und des Schlussbildes. Diese Mischform von opéra-comique und lyrique einerseits und grand opéra andererseits spiegelt zwar die Krise der einzelnen, vormals eigenständigen Gattungen wider, zeigt aber ebenso Gounods originellen Zugriff auf das Sujet wider und auf die Wirklichkeit des Theaters. Ein Traditionalist, der nach vorne blickt! Vor allem der 3. Akt, der ja von allen Fassungsfragen unberührt ist, stellt eine eigene kompositorische Dramaturgie dar. Die musikalisch verzahnte Folge von Cavatine, Lied, Quartett und Duett ist im Bereich der französischen Oper ohne Vorbild und steht quer zu allen anderen Gattungen. Auch die Technik der „Erinnerungsmotivik“ im Zusammenhang mit Marguerite – etwa im letzten Akt, wenn sie, den Tod vor Augen, der ersten Begegnung mit Faust gedenkt – weist eher auf Jules Massenet (1842-1912) und Giacomo Puccini  1858-1924) voraus, als dass sie sich auf Traditionen stützen könnte.

FAUST - Szenenphoto mit Alex Esposito (Mephistopheles © Franck Ferville

 Sicher war Gounod kein Revolutionär des Musiktheaters! Aber seine Kraft der Melodik, die klug disponierte Instrumentation und sein untrügliches Gespür für ebenso dezente wie treffsichere Bühnenwirkungen, stellen ihn in die erste Reihe der französischen Opernkomponisten. Mit dem Faust schuf er eine Liebesoper von romantischen Schmelz und suggestiver Überredungskunst – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Obwohl das Werk erst nach Ablauf eines Jahrzehntes (1858/68) sein heute anerkanntes Gesicht erhielt, ist es alles andere als ein Konglomerat der schönen Melodien. Vielmehr bleibt in jedem Moment der große dramaturgische Atem spürbar.

 Überraschenderweise war bereits der ersten (Dialog)-Fassung des Faust von 1859 jene Ausstrahlung beschieden, die das Werk zu einem der größten Erfolge der gesamten Opernliteratur machte. Nahtlos konnte daran die – von da an als gültig  angesehene – (Rezitativ) Fassung anknüpfen, die Gounod 1868 für die Pariser Oper erstellte. Bis heute zählen die Pariser Theater (u.a. Salle Garnier, Salle de la rue Pelletier, Salle Ventadour) nahezu 3000 Aufführungen des Werkes. Dieser atemberaubenden Statistik  nur unwesentlich nachstehend folgen die berühmte Covent Garden Opera London und die New Yorker Metropolitan Opera. Die Besetzungslisten lesen sich wie eine einzige Sängerlegende. Genannt seien nur Giacomo Lauri-Volpe (1892-1979), Enrico Caruso (1873-1921), Giuseppe di Stefano (1921-2008) und Placido Domingo (*1941) in der Partie des Faust. Nelli Melba (1861-1931), Lotte Lehmann (1888-1976), Victoria de los Angeles (1923-2005), Mirella Freni (1935-2020) und Kiri te Kanawa (*1944) als Marguerite. Victor Maurel (1848-1923), Fjodor Schaljapin (1873-1938), Alexander Kipnis (1891-1978), George London (1920-1985), Ezio Pinza (1892-1957), Nicolai Ghiaurov (1929-2004) und Ruggero Raimondi (*1941) als Méphistophélès. Kein Sänger, der nicht in seiner Partie die Chance eines persönlichen Triumphes hätte.

FAUST - Szenenphoto - Pene Pati (Faust) und Alex Esposito (Mephistopheles) ©Franck Ferville

 Im Vergleich dazu kann der deutschsprachige Raum erst in jüngerer Zeit einigermaßen mithalten. Die steigenden Aufführungszahlen sind aber eher eine Folge der Internationalisierung der Sänger-Stars, denn so ganz haben die tiefgründigen Deutschen die „Trivialisierung“ ihres Faust-Heiligtum noch nicht verdaut. Daran kann aber die 1976 von Fritz Oeser (1911-1982) vorgelegte „Neue kritische Gesamtausgabe“ dauerhaft etwas ändern. Der Alptraum aller Germanisten feiert glänzende Erfolge in der DDR: Leipzig (1976), Ost-Berlin und Zwickau (1977), in der Bundesrepublik: Kassel (1978), Nürnberg (1979), München (1980), Hamburg (1985) sowie in Österreich: Salzburg (1980) und Wien (1985).

FAUST - Szenenphoto mit Pene Pati (Faust) und Amina Edris (Marguerite) © Franck Ferville

 FAUST - Wiederaufnahme, l’Opéra National de Paris - Salle Bastille, 02.10.2024

 

„Verschwende die Sterne…“, Faust, eine spektakuläre Oper…

Faust ist schlechthin der ewige Mythos, der seit dem 15. Jahrhundert die Zeit im guten und im bösen überstanden hat. Der Geheimrat Goethe verlieh ihm mit seinem bahnbrechenden und gründenden Werk den Adelsbrief. Einige Jahrzehnte später nach vielen Theater- Musik-Adaptationen im Laufe der Zeit spielten die Librettisten Barbier und Carré eine entscheidende  Rolle dabei: Dass Gounod wohl sein größte Oper komponieren konnte! Wenn wir uns heute noch zu diesen Gräueltaten äußern müssten, die diese Autoren am Originalwerk angerichtet haben, können wir jedoch nicht bestreiten, dass es auch an ihren gewählten Worten zu verdanken war, dass Faust sich so schnell als wesentliche Säule an der Opéra National de Paris und auch weltweit etablieren konnte.

 Wenn die Entstehung tatsächlich 1859 im Théâtre Lyrique Paris stattfand, so landete die Oper doch auf halben Weg zwischen der opéra-comique und der grand Opéra in eine ungewollte Gattungs-Schublade und  wird somit als sogenannte „Halbfigurenoper“ beschrieben. Aber knappe zehn Jahre später wurde sie gewissermaßen mit großem Pomp neu umgemodelt und verpackt uraufgeführt an der Musique Académie Imperiales! Bei dieser Gelegenheit ergänzte Gounod auch den Teil der Walpurgisnacht pflichtgemäß laut Pariser Tradition mit einem großen Ballett.

 Stärken und Exzesse…

Gounod selbst hat seine Partitur während eines Großteils seines Lebens immer wieder überarbeitet, so dass wir der Opéra National de Paris nicht die Schuld für eine Version mit Auslassungen geben können. Dies hindert uns jedoch nicht daran, die Reduzierung der Walpurgisnacht auf ein Minimum und das völlige Verschwinden der großartigen Ballettmusik zu bedauern, denn wie wir bereits schon erwähnten, sie wurde komponiert für diese Szene und sollte somit auch das Recht haben ihren gebührenden Platz einzunehmen. Allerdings passte dieses gewissermaßen lange starre „Standbild“ nicht so gut zur Regie-Dynamik des deutschen Regisseur Tobias Kratzer, l’enfant terrible des aktuellen  Regietheaters. Aber dennoch einer seiner großen Vorteile ist dank der Verwendung von Videos, eine Homogenität der Handlung und eine unbestreitbare Fließfähigkeit im Ablauf von Szenen, Akten, und Passagen, die Gounods Faust schon immer problematisch machten. Die Produktion erblickte mitten in der Covid-Krise das Licht der Welt und wir müssen zugeben, dass diese Ritte über dieses leere Geister-Paris damals wie heute ein gewaltiges packendes und auch philosophisches Erlebnis waren. Kratzer schien uns zu sagen, dass der Teufel nach Belieben in der „Stadt der Lichter“ umherwandern könne und dass ohne ihre Bewohner. Er erlaubte sich sogar ein ketzerisches Augenzwinkern, als er andeutete, dass er es war der die Cathedrale Notre-Dame in Brand gesteckt hatte. Anschließend erinnerte auch er daran, dass in diesen Zeiten der Epidemien die Bewegung der Menschen nur auf ihr Wohnhaus und dem Spielplatz nebenan beschränkt sei. Allerdings bleibt der Kriegs-Kontext, der im Faust wichtig ist und ohne den die Szene der „unsterblichen Herrlichkeit“ unverständlich wird, hier doch ein wenig auf der Strecke. Es sei denn, wenn wir glauben, dass die große Leistung der jungen Leute darin besteht, während der Covid-Zeit singend den 100-Meter-Bereich zu verlassen…

FAUST - Szenenphoto - Florian Sempey (Valentin) und Marina Viotti (Siebel) © Franck Ferville

 Auch wenn sich heute der Kontext der Schöpfung verschoben hat, ist es nützlich sich daran zu erinnern, um die Relevanz der Überblicke von Faust und Méphistophélès zu würdigen, die uns nur als Spielereien   erscheinen könnten. Die Eleganz der Idee dieses Teufels, der die „Guten“ manipuliert und filmt, ist ein Kontrapunkt zu den Fähigkeiten eines Regisseurs, der mit einem Verweis auf den Film Rosemary‘s Baby (1968) von Roman Polanski (*1933) und seinen Exzessen mit der Echographie-Szene und den vielen Schwierigkeiten dieser Geburt, die an die Grenzen unserer Vorstellungskraft geht. Und auch wenn das alles gewalttätig ist, müssen wir uns an die Legitimität der Szene erinnern, in der das Kind gewaltsam ertrunken wird und dass das dazu auch noch passend während der Walpurgisnacht gezeigt wird. Da die musikalischen Seiten dieser Szene verschwunden sind, bleibt nur noch eine dürftige Anspielung im Text: „Son pauvre enfant,ô Dieu! Tué par elle…!“ und auch das Video ermöglicht es uns, die Bedeutung wiederherzustellen und diesen für das Drama wesentlichen Aspekt nicht zu vermeiden.

 Andererseits gibt es ein echtes Problem und die Beobachtung, dass die Ideen des Regisseurs, so amüsant oder attraktiv sie auch sein mögen, nicht immer relevant sind: Wenn sie eindeutig im Widerspruch zur Musik stehen! So leiden sowohl in den Szenen in Marguerites Wohnung als auch vor allem in der U-Bahn die Stimmen grausam unter der Inszenierung und dass besonders bei der zarten sensiblen Stimme der ägyptischen Sopranistin Amina Edris als Marguerite erscheint dann mehr als sie tut, denn sie „leidet wirklich unter der Lautstärke“.

 Die Auseinandersetzung mit der Rolle des Faust für einen Tenor wie der aus Samoa stammende Pene Patti entspricht zweifellos einem folgerichtigen und grundlegenden Schritt, für einen Sänger mit diesem gewaltigen Stimm-Spektrum. Dieser Oper mangelt es nicht an Schwierigkeiten und sie hat, wie viele andere Werke des 19. Jahrhunderts den Nachteil, dass sie nach der Natur des jeweiligen Interpreten beurteilt wird. Für diese Rolle hat der samoanische Tenor kurzen Prozess gemacht! Indem er sich sofort vom stimmlichen als bester aktueller Faust behauptet, erzwingt er in diesem Repertoire eine Form der Vorherrschaft, die offensichtlich noch bestätigt werden muss. Darüber hinaus ist es beunruhigend festzustellen, dass die Leichtigkeit dieser Stimme von einer Art Bescheidenheit und Natürlichkeit begleitet wird, z. B. als er bei der Begrüßung ohne Umschweife auf seine Frau zuging, um sie zu küssen… als wollte er sie von allen diesen Schrecken abwehren, die er ihr aber schon zugefügt hatte. Mit Pati werden wir also die Macht zu schätzen wissen, auf die er bei Bedarf zurückzugreifen weiß und dass – das müssen wir zugeben – nicht ohne seine Kollegen in den Schatten zu stellen. Wir werden diese souveräne französische Aussprache, diesen unaufdringlichen Eifer bei der Konstruktion des Charakters, diese Homogenität der Stimme in allen Registern, diese unendlichen piano-Klänge oder einen schillernden Einsatz der gemischten Stimme in einem „Salut, demeure chaste et pure…“ bewundern.

Unser einziges b-Moll in der Interpretation ist leider die physische körperliche Erscheinung des Sängers, denn er ist wirklich nicht glaubwürdig in der Rolle des verjüngten Faust und das noch besonders mehr in der Inszenierung von Kratzer.

FAUST - Szenenphoto mit Amina Edris als Marguerite © Franck Ferville

 Als Marguerite dürfte Edris größere Schwierigkeiten gehabt haben, sich mit der wohl schwierigsten Rolle der Oper zu identifizieren, da die Darstellerin sich mit dem Abstieg der Heldin in die Hölle auseinandersetzen muss. Ein reines junges Mädchen, dann verführt, dann geschwängert, nach und nach von allen verflucht, Mörderin ihres Kindes, nach und nach dem Wahnsinn verfallend, die Partitur ist wirklich ein sehr schwieriger Hindernis-Parcours! Edris begegnet der Schmuckszene zunächst recht zaghaft und leidet unter den akustischen Nachteilen der zur U-Bahn-Szene gewordenen Kirchenszene, wie wir schon sagten. Das hindert sie jedoch nicht daran, mit einem sehr schönen „Il revient pas“ und dieser so schwierigen Schlussszene, in die sie sich mit aller Kraft hinein stürzt um nach und nach an Fahrt zu gewinnen. Wir haben daher keinen Zweifel daran, dass die Sopranistin bei den Folge-Aufführungen noch mehr und mehr Sicherheit finden wird. Auf jeden Fall ist sie eine sehr glaubwürdige Marguerite vom Äußerlichen, vom Schauspielerischen und dazu noch eine betörende Stimme. Als Méphistophélès macht sich der italienische Bass Alex Esposito die Figur zu eigen und spielt mit seiner Stimme, um in diese teuflische Rolle einzudringen, die eher manipulativ als wirklich beängstigend ist. Dennoch stößt es an seine Grenzen und es mangelt manchmal an der Weite, wenn es darum  geht, bei Schlüssel-Melodien wie „Le veau d‘or“ das Licht völlig zu erobern.

 Der französische Bariton Florian Sempey ist mit der Rolle des Valentin vertraut und da er sowohl an Komödien als auch an Tragödien gewöhnt ist, ist er auch mit allen Aspekten  der Figur in seinem Element, vom jungen Basketballspieler aus der Vorstadt bis zum aus dem Krieg zurückkehrenden Soldaten. Der Bruder hatte Ekel und auch starke religiöse Vorurteile an der Schwangerschaft seiner Schwester und wurde dann auch noch von Faust provoziert und getötet. Auch wenn die Cavatine zu Beginn „Avant de quitter ses lieux“ schon sehr gut gelungen ist, zeigt er in der Todesszene dann das ganze Ausmaß seines dramatischen Talents.

 Die schweizerische Mezzo-Sopranistin Marina Viotti ihrerseits ist gewissermaßen ein Luxus-Siebel. Die Sängerin, deren Brillanz mit ihrer schon bei anderen Gelegenheiten erwähnten großartigen Carmen (1875) von George Bizet (1838-1875) oder unter den enthaupteten Aristokraten während der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele das breite Publikum beeindruckte, findet hier eine ihrer Transvestiten-Rollen, die sie bis ins kleinste Detail der Verkleidung liebt, das sie bis zur Unkenntlichkeit macht. Und es ist wieder einmal ihre makellose Interpretation, sowohl was die Schauspielerei als auch der Vortrag dieser stets berührenden Arien „Faites-lui mes aveux“ und „Versez vos chagrins dans mon âme!“in der Rolle dieses unsterblich verliebten Jungen, der mit viel Solidarität der armen leidenden Marguerite helfen will.

 Wir zählen nicht mehr, wie oft wir die französische Mezze-Sopranistin Sylvie Brunet-Grupposo in der Rolle der Dame Marthe, dieser „etwas erwachsenen“ Nachbarin, würdigen durften und wir freuen uns umso mehr sie in dieser vertrauten Figur wieder zu sehen, die in der selten komödiantischen Rolle diesmal nicht nur wie ein  ein Avatar wirken konnte, sondern ihr wirklich zusätzliche Seele zu verleihen. Abschließend freuten wir uns, einen Neuzugang begrüßen zu dürfen: Den jungen armenischen Bass Amin Ahangaran, Mitglied der Troupe Lyrique de l’Opéra National de Paris,  der in der kleinen aber doch schon wichtigen Rolle des Wagners das erste Mal die Bretter betreten durfte: Die die Welt bedeuten!

 Wir wussten natürlich bereits, dass das Orchester und der Chor l‘ Opéra National de Paris nie besser sind, als wenn sie  die französischen Oper des 19. Jahrhunderts interpretieren, wohl eines  ihrer „Lieblingsfächer“. An diesem Abend bietet uns der Chor unter der Leitung seines italienischen Chorleiters Alessandro Di Stefano eine mehr als umwerfende Demonstration, sowohl auf der Bühne im Walzer oder bei der Rückkehr der Soldaten als auch abseits der Bühne in der „Metro-Szene“, beides durch seine Kraft, die Homogenität seiner Emission und die erstaunliche Klarheit der Koordination in der Aussprache.

 Das Orchester unter der Leitung des französischen Dirigenten Emmanuel Villaume strebt nach demselben Exzellenz-Niveau. Der ganze Reichtum und die Opulenz, manchmal etwas übertrieben, von Gounod sind vorhanden. Die Art und Weise, wie er das Orchester während des Liebesduetts und dann während der „Metro-Szene“ zum Grollen bringt und den Raum völlig durchdringt, ist bewundernswert und erinnert daran, wie sehr Gounod selbst seinerzeit seinen Teil zur Verbesserung des Orchestergefüges in der Oper beigetragen hat. Das Gleiche gilt auch für die Walpurgisszene, in der Faust und Méphistophélès in Paris einmarschieren bzw. besser „einreiten“. Dies geschieht niemals zu Lasten der Darsteller, immer gewissenhaft respektiert und hörbar, immer mit Sorgfalt begleitet.

Wir nahmen auf jedem Fall an einem phantastischen Faust teil – ja man kann sagen einen Faust der Superlative – angefangen von den einfallsreichen nie gesehenen Regie-Einfällen. Den wunderbaren Interpreten und dazu natürlich ein Traum-Orchester. Wir sind sofort bereit diesen ungewöhnlichen Ritt in den Lüften über das verblüffende leere  Paris zu erneuern… (PMP/09.10.2024)

Kartenbestellungen und Auskünfte auch unter: www.operadeparis.fr   oder 33 / 892 899 090