Paris, Opéra National - Palais Garnier, CASTOR ET POLLUX - J-P Rameau, IOCO

OPÉRA DE PARIS: Kehren wir zu den Quellen von Castor et Pollux zurück, einer lyrischen Tragödie von Jean-Philippe Rameau (1683-1764), die 1737 an der Académie Royale de Musique entstand

Paris, Opéra National - Palais Garnier, CASTOR ET POLLUX - J-P Rameau, IOCO
Opéra National de Paris / Palais Garnier Paris © IOCO

25.1.2025 - OPÉRA NATIONAL DE PARIs, PALAIS GARNIER - Jean-Philippe Rameau: CASTOR ET POLLUX, RCT 32 (1737) - Lyrische Tragödie mit einem Prolog und fünf Akten. - Libretto von Pierre-Joseph Bernard, genannt Gentil-Bernard.

 von Peter Michael Peters

DIE GESCHICHTE EINES GOTTES, DER STERBLICH WERDEN WOLLTE…

Ô ciel! Tout cède à sa valeur !

Il a forcé les portes du Ténare;

Et je ne puis percer l’horreur

De l’abîme qui nous sépare

Si Castor reprenait la vie et son amour…

Fureur, haine fatale,

Et vous que j’appelais pour presser son retour,

Ah! Fermez-lui plutôt la barrière du jour,

S’il doit vivre pour ma rivale ! (Arie der Phébé / 4. Akte / Szene 4)

PETER SELLARS about CASTOR ET POLLUX youtube Opéra de Paris

Die Harmonie mit einem großen „H“…

Kehren wir zu den Quellen von Castor et Pollux zurück, einer lyrischen Tragödie von Jean-Philippe Rameau (1683-1764), die 1737 an der Académie Royale de Musique entstand und von der Episode des Zwillings-Mythos inspiriert ist. Das Werk wird selten in seiner Originalfassung aufgeführt – die Partitur wurde 1754 von Rameau selbst überarbeitet -, doch weist das Werk Kühnheit, einen Sinn für Kontrast und Ausdruckskraft auf, wie das berühmte  „Tristes apprêts“, eine von Télaïre gesungene Arie, in der sie um den Tod ihres im Kampf gefallenen Verlobten Castor trauert, bevor sein Zwillingsbruder Pollux hinabsteigt, um seinen Vater Jupiter zu bitten, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Wenn diese Oper die brüderliche Liebe zelebriert, wirft sie aber auch sofort mit ihrem Prolog in den Augen des amerikanischen Regisseurs Peter Sellars eine wesentliche Frage auf: Wie kann ein Krieg und seine Begleiterscheinungen, Hass und Groll gestoppt werden?

CASTOR et POLLUX - hier Nicholas Newton (Mars) und Laurence Kilsby (L'Amour) © Vincent Pontet)

Die göttlichen Zwillingsbrüder…

In der griechischen Mythologie sind Castor und Pollux die Kinder von Leda, der Frau von Tyndareus, dem König von Sparta. Letzterer empfing Castor und Zeus war der Vater von Pollux. Der König der Götter nahm die Gestalt eines Schwans an, um ihn zu empfangen. Die Halbbrüder wurden gleichzeitig geboren, jedoch in unterschiedlichen Eiern. Das erste enthielt auch Clytemnestre, die Schwester von Castor und die zukünftige Frau von Agamemnon. Das zweite Hélène, die Schönheit am Ursprung des Trojanischen Krieges schuldig. Die etwas weniger eierlegende Religionsgeschichte betrachtet diese zweieiigen Zwillinge, auch Dioscures und Gemeaux genannt, als das Wiederaufleben der Reitergötter der sehr alten indogermanischen Religion. Die  Ashvins des vedischen Kults sind eine weitere Variante.

 

Unter der Herrschaft von König Louis XV. (1710-1774), auch genannt der Bien-Aimé, hatten Rameau und sein Librettist Gentil-Bernard (1708-1775) sich besonders für moralische Vorbilder und heroische Haltungen interessiert und so entschieden sie sich dafür: Die Großmut eines Mannes in Musik zu preisen, der auf seine Unsterblichkeit verzichtet, damit sein Bruder wieder zum Leben erweckt werden kann. Castor et Pollux, Inbegriff der lyrischen Tragödie des Rokoko, graviert in einen weichen farbigen Stein die Kluft zwischen Natur und Liebe, Pflicht und Treue, Selbstaufopferung und Eifersucht, weil zwei rachsüchtige Frauen: Phébé und Télaïre großen Ärger in die Intrige säen werden

Der Streit von 1737…

Das Werk wurde zu Rameaus Lebzeiten 254 Mal aufgeführt. Es gibt zwei Versionen. Die erste war Gegenstand eines Streits zwischen den Anhängern von Lully (den Tempel-Wächtern des Heiligtums Louis-XIV/1638-1705) und den Rameau-Anhängern! Seine Opern standen im Gegensatz zu denen von Jean-Baptiste Lully (1632-1687), die vierzig Jahre lang an der Académie Royale de Musique aufgeführt wurden. Sie repräsentierten damals das marmorne Modell des französischen Klassizismus! Aber Rameau war nicht nur Musiker, er war auch Theoretiker. Und den Musikliebhabern fiel es schwer zuzugeben, dass ein so gelehrter Mann so angenehme und innovative Musik schreiben konnte. Schließlich war Lully nur ein „Herumgewanderter“, um unter den Strahlen des „Sonnenkönigs“ zu ernten ohne gesät zu haben. Seine Nachfolger von Pascal Collasse (1649-1709) bis André Campra (1660-1744) über Jean-Féry Rebel (1666-1747) hatten nur respektvolle Themen und Variationen nach dem Vorbild der vom Superintendenten Lully erfundenen lyrischen Tragödie geschrieben.

Dieser Streit zwischen Antike und Moderne schwelte bereits auf während den Aufführungen von Hippolyte et Aricie (1733), dessen schillerndes Trio des Parquets schon die Ohren des Publikums äußerst störte. Der Kampf entbrannte mit voller Wucht mit Castor et Pollux, einem Werk, das entweder als zu reichhaltig und zu komplex gefeiert oder als unhörbar und unzusammenhängend verurteilt wurde. In einer sehr bourbonischen Geste beendete König Louis XV. die Episode, indem er Rameau in seine Dienste rief. Ausgestattet mit einer jährlichen Rente und der Ernennung zum Ehrenhof-Komponisten war Rameau fortan ebenso beschützt wie der erhabene Lully es vor ihm gewesen war.

CASTOR et POLLUX - hier Stéphanie d'Oustrac (Phébe), Marc Mauillon (Pollux), Natalia Smirnova (Venus) und Chor Utopia © Vincent Pontet)

Der ästhetische Krieg von 1754…

Nach dem Standard des guten modernen Geschmacks befördert, wurde Rameau dann aber im Jahr 1754 in den Rang eines alten Bartes herabgestuft, der veraltete Musik schrieb. Tatsächlich lieferte Castor et Pollux während seiner Wiederbelebung neue Argumente für die heißen Debatten des Jahrhunderts: Der Streit der Bouffon (Narren)! Anlässlich der französischen Uraufführung der Opéra Bouffa La Serva Padrona (1752) von Jean-Baptiste Pergolèse (1710-1736) in Paris wurde mit Schärfe eine geführte Kontroverse ausgeführt, die sich gegen eine im französischen Stil „geformte“ und eine im italienischen Stil „gewebte“ Oper richtete. Diese rasende Polemik wurde geschickt von dem großen Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) entzündet und auch entflammt! Rameau wurde als Symbol  der nationalen Musik im Vergleich zu der Ausländischen verwendet. Castor et Pollux mit Titon et l’Aurore (1753) von Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville (1711-1772) diente als Waffe in diesem ästhetischen Kampf, der Frankreich und Italien gegenüberstand, da doch der erste Italiener Lully die französische „patentierte“ Musik erfunden hatte…

Die Enzyklopädisten und einige Musikliebhaber erkannten sich in der kleinen italienischen Oper wieder, die sich für Einfachheit und Leichtigkeit bekannte. Rameau hingegen klang für sie logisch und kalt! Die Philosophin Catherine Kintzler (*1947) fasst in ihrem immer noch unverzichtbaren Werk: Jean-Philippe Rameau, splendeur et naufrage de l’esthétique du plaisir à l’âge classique (Minerva 1983) erklärt den Konflikt folgendermaßen: „Wir können nichts über den Gegensatz zwischen Rameau und Rousseau verstehen, ohne zwei einander fremde Ästhetiken gegenüberzustellen […]. Einerseits die klassische Ästhetik, inspiriert von René Descartes (1596-1650), theoretisiert von Nicolas Boileau (1636-1711). Andererseits die Ästhetik der Sensibilität, inspiriert von den neuen Ideen der Philosophie, theoretisiert von Nicolas Dubos (*1959), Anthony Ashley-Cooper Comte de Shaftesbury (1671-1713), Denis Diderot (1713-1784) und später auch von Johann Gottfried Herder (1744-1803) und verteidigt von Rousseau. Denn Rousseau war auch Komponist! Seine Komische Oper Devin du Village (1752) war äußerst erfolgreich. Er zeigte Szenen aus dem täglichen Leben und auch beliebte Dorftänze. In seinem Lettre sur la musique française (1753), verteidigte Rousseau die Vormachtstellung von Melodie und Gesang. „Von allen Harmonien“, schrieb er, „gibt es keine so angenehme wie das Singen im Einklang und wenn wir Akkorde brauchen, dann deshalb, weil wir einen verdorbenen Geschmack haben“. Glücklicherweise hat sich die Nachwelt für die Harmonien von Rameau entschieden und im Nachhinein offenbaren die Perfidien des Philosophen eher seine Bitterkeit als seine Klarheit.

CASTOR et POLLUX - hier Jeanine De Bique (Telaire) und Marc Mauillon (Pollux) (© Vincent Pontet)

Welche Version für Castor et Pollux?

Im Abstand von fast zwei Jahrzehnten gelang es Rameau dank einer geschickten Neuordnung der dramatischen Karte das Kunststück, zwei unterschiedliche Opern mit nahezu identischer Musik zu schreiben.

Das am 24. Oktober 1737 aufgeführte Werk umfasste fünf Akte und einen Prolog. Ab Dezember desselben Jahres parodierte die Comédie Italien die Oper in Prosa und im Vorstadtjargon. Damit sollten die Melodien dauerhaft in den Köpfen der Zuschauer verankert und die besten Szenen populär gemacht werden. Am 11. Janvier 1754 wurde das Werk ohne Prolog wiedergeboren, jedoch mit einem ersten Akt, der den Kampf von Castor gegen Lycée erzählte. Die Zeiten hatten sich geändert! Wir können jetzt auf den höfischen Portikus verzichten, der die lyrische Tragödie in die Amtsblätter der königlichen Politik einträgt. Rameau konzentriert sich wieder auf die Handlung selbst. Die ersten beiden Akte der Originalfassung wurden zu Akten 2 und 3 der neuen Fassung. Der 4. Akt fasste den 3.  und 4. Akt der Fassung von 1737 zusammen. Der 5. Akt wurde grundlegend überarbeitet: Weniger Rezitative, mehr Arietten und neue Tänze. Bedauerlicherweise: Im Jahr 1754 verschwand eine der schönsten Bass-Arien, die Rameau je komponiert hatte: „Nature, amour qui partagez mon coeur“ in Akt 2, Szene 1 der Fassung von 1737 und für Pollux bestimmt war. Es war eine unverzeihliche Kürzung!

Die Perfektion der Sprache…

Rousseau schreibt in seinem Essai sur les origines des langues (1781) über die Melodie: „Zuerst gab es keine andere Musik als die Melodie, noch eine andere Melodie als den vielfältigen Klang der Sprache. Die Akzente bildeten das Lied, die Lieder bildeten den Takt und wir sprachen sowohl durch Klänge und Rhythmen als auch durch Artikulationen und Stimmen. Sagen und Singen seien einst dasselbe gewesen, sagt Cnaeus Pompeius Strabon (135 – 87 v. J. C.). Das zeige, fügt er hinzu, dass Poesie die Quelle der Beredsamkeit sei. Man muss sagen, dass beide die gleiche Quelle hatten und zunächst nur dasselbe waren“. Heute könnten wir glauben, dass seine Zeilen an den Gesang an Rameau erinnern, da die Rezitative in Castor et Pollux so natürlich zu Fließen scheinen. Wenn er sich ins Experimentieren wagt, schwingen die Möglichkeiten der französischen Sprache mit Genialität mit, wie im Chor-Refrain: „Brisons tous nos fers“ (4. Akt) mit seiner obsessiven Silbengestaltung. Wenn Castor et Pollux‘ Lied von einem ungewöhnlichen Charme durchdrungen zu sein scheint, so verdankt es dies auch dem bewundernswerten prägnanten Libretto von Gentil-Bernard. Der aus Grenoble stammende Dichter wurde schon für seine Version von 1737 für seinen großen Sinn des richtigen  Text-Einschnitts sehr gelobt. Sein Stil bietet die gesamte Flexibilität, die für eine Sprache erforderlich ist, die das Theater mit Emotion und Noblesse ausdrückt, deren Helden in Humanismus und Größe konkurrieren.

CASTOR et POLLUC - hierJeanine De Bique (Telaire), Reinoud Van Mechelen (Castor) und Tänzer © Vincent Pontet)

Debussys Hommage…

Da Maurice Ravel (1875-1937) ein musikalisches Grabmal für François Couperin (1668-1733) kreierte, so huldigte auch Claude Debussy (1862-1918) an Rameau sein berühmtes gleichnamiges Klavierstück. Paul Dukas (1865-1935), Alexandre Guillmant (1837-1911), Camille Saint-Saëns (1835-1921), arbeiteten auch an der Wiederbelebung seines Werkes, indem sie an der monumentalen Durand-Edition mitarbeiteten, die zwischen 1895 und 1924 achtzehn Bände umfasste. Das Unternehmen beweist die Bedeutung , die die französischen Komponisten in ihm erkannten. Es ist in der Tat ein großer Teil der französischen Sensibilität, die Rameau vorweggenommen zu haben scheint: Die Melancholie von Ravel, die Farben von Debussy, die weltlichen Pastelltöne von Françis Poulenc (1899-1963), das antike Pastiche von Reynaldo Hahn (1874-1947) oder sogar die Nebel von Gabriel Fauré (1845-1924) und von Maurice Duruflé (1902-1986). Laut Debussy gelang es Rameau, bestimmte Farben und Nuancen zu bemerken, von denen die Musiker vor ihm nur ein verwirrtes Gefühl hatten“.

Die große Zahl der Auditionen von Rameaus Opern beweist es! Als Meister überraschender Zwischenspiele und musikalischer Überblendungen erneuert Rameau eine Klangtradition, die vom höfischen Tanz und Ballett übernommen wurde. Dann denkt er mit einer reichen Palette an Timbres und Klangfarben die Oper von innen heraus neu, genau wie er es mit der Sonate, der Suite für Cembalo oder der Kantate tut. Sein Orchester ist neu! Die Streicher sind würzig oder samtig, die Bläser frech und raffiniert, das Schlagzeug überraschend. Und er wird einer der ersten sein, der Klarinetten benutzt… Die Unterhaltung auf der Champs-Elysées (4. Akt) klingt durchsichtig und ätherisch. Sogar die Chaconne (5. Akt) zerstört viele Stereotypen und wird zu einer fantasievollen Saite. Das Ohr zu überraschen, zu verführen, zu verzaubern, das ist die ganze Wissenschaft dieses erstaunlichen Erfinders.

Rameau ist, ob es uns gefällt oder nicht, eine der sichersten Grundlagen der Musik und wir können ohne Angst den schönen Weg gehen, den er vorgezeichnet hat“. Wir könnten nicht besser schreiben als der sehr raffinierte Monsieur Croche alias Debussy

CASTOR et POLLUX - hier Nicholas Newton (Jupiter), Jeanine De Bique (Telaire), Stéphanie d'Oustrac (Phébe) und Marc Mauillon (Pollux) (© Vincent Pontet)

CASTOR ET POLLUX - Aufführung - l’ Opéra National de Paris / Palais Garnier - 25. Januar 2025

 Glücklicherweise ist einer der Zwillinge göttlich…

Beim Verlassen, nach einem letzten dankbaren Blick auf den steinernen Ast, der mit seinen  drei staubigen und festsitzenden Begleitern den Eingang zum Musen-Tempel Palais Garnier bewacht: Fragen wir uns doch, wie wir unseren heutigen Abendbericht beginnen sollen? Wenn man sowohl von der Schönheit entzückt als auch bis zum letzten Grad verärgert ist, weiß man nicht ob man zuerst den Impulsen des spöttischen „Ich-weiß-alles-besser-Musikliebhaber“ oder dem gerechten Lob nachgeben soll? Als Kompromiss eine vorläufige Vorbemerkung: Erwähnen wir das unglückliche Thema „Inszenierung“ (noch) nicht!

Erinnern wir uns an die Handlung: Die Zwillinge Castor und Pollux  wurden von derselben Mutter geboren, aber der erste ist der sterbliche Sohn von Tyndareus, während der zweite der Sohn von Zeus ist, also unsterblich. Sie sind beide in Telaïre, der Tochter der Sonne, verliebt, die aber nur Castor liebt!

Als er im Krieg stirbt, lehnt Télaïre die Annäherungsversuche von Pollux ab und schickt ihn in die Unterwelt, um den Schatten seines Bruders zurückzubringen, trotz des Widerstands von Phébé, die verschmähte Geliebte von Pollux. Der Preis den er zahlen muss, um Castor wieder zum Leben zu erwecken, besteht darin seinen Platz unter den Toten einzunehmen, indem er auf seine Unsterblichkeit verzichtet. Die durch dieses schreckliche Dilemma verursachte Krise bei allen Charakteren wird schließlich durch die Ankunft Jupiters gelöst, der den beiden Brüdern einen göttlichen Status und einen Platz unter den Sternen  bietet: Siehe Sternbild Zwillinge!

CASTOR et POLLUX - hier Stéphanie d'Oustrac (Phébe) und Tänzer © Vincent Pontet)

Die erhaltene Fassung ist das Original von 1737 und auch die am seltensten aufgeführte Version, so ist es sogar das erste Mal, dass sie im Palais Garnier aufgeführt wird. Rameau, der immerhin 54 Jahre alt ist, befindet sich erst in seiner zweiten lyrischen Tragödie und liefert mit seinem Librettisten Gentil-Bernard ein Werk ab, dessen Form dem Kanon von Lully durchaus treu bleibt. Neben einem Prolog zum Gedenken an den Wiener Frieden ist das Werk eine echte klassische Tragödie in fünf Akten mit einer raffinierten Handlung, die sich auf das Dilemma zwischen Brüderlichkeit und Liebe konzentriert. Und auch durch das Zögern zwischen Unsterblichkeit und Verzicht auf das zerbrochene Leben darauf  noch verstärkt wird.

Wir wissen im Voraus, dass die Lektüre des griechisch-russischem Dirigenten Teodor Currentzis nicht unbedingt den Geschmack der wählerischsten Rameau-Fans treffen wird. Abgesehen von einigen gewagten Orchestrierungen – es gibt ein Zymbal im Orchester-Graben! – und begrenzten Retuschen, hat er eine genaue Noten-Interpretation der Partitur mit äußerster Klarheit geliefert: Das leiseste Klavier ist Pianississimo, aber wir zittern bei jedem Agitato, die Lamenti  werden in die Länge gezogen. Die für den französischen Barock charakteristischen springenden Rhythmen werden von seinem Utopia-Orchester mit tadellosem Klang präzise vorgezeichnet. All dies mag für andere übertrieben erscheinen, aber wir finden im Gegenteil ein Gefühl von überwältigender Dramatik, das die ständige neue Spannung auf ein Höchstmaß bringt. Das Publikum bleibt bis zum letzten Takt mit angehaltenem Atem! Zusätzlich zu diesem wunderschönen Orchester kann Currentzis auf einen atemberaubenden Utopia-Chor zählen, der vielleicht etwas zu oft auf ein zu großes Flüstern reduziert ist, aber eine bewundernswerte und klare Aussprache, großartige Klangfarben und unendliche Nuancen aufweist.  

Die aus Trinidad stammende Sopranistin Jeanine De Bique in der Rolle der unglücklichen Télaïre triumphiert mit viel Applaus. Wir teilen nicht immer die allgemeine Begeisterung für diese Stimme mit ihren sicherlich makellosen und herzzerreißenden hohen Tönen in der Szene: „Non!“ und der berührenden Arie: „Tristes apprets“, aber mit einem unhörbaren tiefen Mitteltonbereich, einer nicht immer tadellosen Aussprache und einem etwas monochromen Spiel. Lassen sie uns nicht  ihr Vergnügen verderben, denn sie bleibt dennoch eine charismatische Darstellerin, die es versteht, Raum auf ihren Lippen zu behalten und ehrlich gesagt äußerst überwältigend sein kann. Der französische Bari-Tenor Marc Mouillon leiht Pollux seine klare Stimme mit einem scharfem Timbre, kraftvollen Höhen und freiliegenden Bässen. Seine Diktion ist perfekt, seine Interpretation ehrlich und aufrichtig. Die französische Mezzo-Sopranistin Stéphanie d’ Oustrac in der Rolle der eifersüchtigen Phébé war wie immer eine überzeugende sensible Interpretin, vielleicht waren die extremen Stimmtiefen dieser Rolle etwas zu viel für die sympathische Sängerin. Aber Aufgrund ihrer Deklamationskunst und einer extraordinären Bühnenpräsenz, die dieser Nebenfigur eine offensichtliche theatralische Dimension verleiht. Der belgische Tenor Reinoud Van Mechelen schließlich begeistert mit seiner Beherrschung der gemischten Stimme und produziert eine Arie, die für Castor - der letztendlich sehr wenig präsent ist - sehr sanft, legato und leuchtend ist. Sein Bühnenengagement lässt allerdings etwas zu wünschen übrig!

Unter den Nebenrollen bietet der junge britische Tenor Laurence Kilsby einige der schönsten Momente des Abends: Vom Prolog an besticht er mit seinen wenigen Sätzen „Renais plus brillante, paix charmante“ durch die große Ausdruckskraft und die unermessliche Süße seines Gesangs, serviert auch von der bemerkenswerten Beherrschung der gemischten Stimme. Er interpretierte folgende Rollen: L ’Amour, ein Athlet und der Hohe Priester von Jupiter. Die russische Sopranisten Natalia Smirnova zeichnet sich durch eine sehr große, lebendige und agile Stimme aus, auch wenn die Koloraturen ihrer Ariette in einer Oper, die noch nicht recht unempfindlich gegenüber italienischen Einflüssen ist, aus dem Kontext gerissen wirken. Sie interpretiert folgende Rollen: Vénus und ein Ombre Heureuse. Der amerikanische Bass Nicholas Newton wird weniger von der Partitur verwöhnt in seinen verhältnismäßig kleinen Rollen: Mars, ein Athlet und Jupiter, aber er verteidigt seine drei Charaktere brillant mit einem ausgewogenen Gesang. Desgleichen gilt für die junge französische Sopranistin Claire Antoine, die folgende Rollen interpretiert: Minerve und eine Dienerin von Hébé.

Kommen wir nun endlich zur Inszenierung. Die flexiblen Street- und Break-Tänzer des amerikanischen Tänzer und Choreografen Cal Hunt sind beindruckend und relevant, da der Tanz ein wesentlicher Bestandteil der lyrischen Tragödie ist. Sie sind jedoch weniger überraschend, da wir in Les Indes galantes ebenfalls von Rameau in der Inszenierung von Clément Cogitore schon diese teilweise verrückten Verrenkungen gesehen haben: Einige der Tänzer sind auch diesmal dieselben. Ihre Verrenkungen, manchmal fließend, manchmal ruckartig, passen nicht immer gut zur Musik und wir haben den Eindruck, dass sie – sehr gut – eine Lücke füllen, die durch die Zwecklosigkeit in der Inszenierung des amerikanischen Regisseurs Peter Sellars entstanden sind.

Als Dekoration werden Möbel in irgendeiner Form die Bühne während  der gesamten Oper einnehmen.

Gigantische Bilder paradieren vor dem Bühnenhintergrund: Mit Wolken, Sternen, Luftaufnahmen beleuchteten Städten, ein Vulkan, wenn die Unterwelt donnert, der Planet Jupiter, wenn der gleichnamige Gott kommt. Alles leuchtet mal rot, mal grün, mal beides gleichzeitig. Auf der Regieseite des Schauspielers singt der Chor, während er seinen Text nachahmt: Ein großer Kreis mit den Armen, wenn er „Universum“ singt. Und dann sind da noch die vielen Ticks: Alle tragen wahllos Allzweckkleidung, der Raum ist zum Zeitpunkt des Finales erleuchtet. Pollux checkt sein Handy, Castor und Télaïre schlagen Purzelbäume auf dem Bett oder machen Kissenschlachten. Schlimmer noch, es gibt die offensichtlichen Ungereimtheiten – wer weiß, ob das etwas bedeutet -: Eine Duschkabine in der Mitte des Wohnzimmers, Charaktere, die die Unterwelt ansprechen, während sie in den Himmel schauen. Pollux, der sagt: „Je le vois“, indem er seine Hand über die  Augen des toten Castor legt, gespielt von einem Tänzer, der nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem lebenden Castor hat, einem bettlägerigen Jupiter, der sich nur schwer bewegen kann. Das ganze ist nicht nervig, aber das liegt daran, dass es nicht viel ist! Wenn wir die finanziellen Schwierigkeiten der Kultur in Frankreich kennen, können wir uns bei der Vorstellung schämen, dass so viel öffentliches Geld für unsinnige Produktionen vergeudet werden.

 

Dennoch würdigen wir einen Erfolg: Die Rehabilitierung des Prologs! Wenn auch der Polnische Erbfolgekrieg nicht mehr zu uns spricht, war die Hoffnung auf Frieden, auch wenn sie noch brüchig ist, noch nie so relevant. Auf Kosten von Änderungen in der Partitur und mit dem Aufruhr aus Tanz und Pantomime gelingt es dem Duo Sellars-Currentzis doch noch, unsere Aufmerksamkeit in einem normalerweise etwas konventionellen ersten Teil zu fesseln.

Die Vorstellungen sind schon fast ausgebucht und wir können uns nur freuen: Rameau, der Dirigent und der Rest der Interpreten haben es wohl verdient! Im Übrigen hoffen wir, dass wir eines Tages einen wirklich gelungeneren Inszenierungsvorschlag zu sehen bekommen, der dem Drama der Dioskuren wirklich gerecht wird.

Auskünfte und Karten: www.operadeparis.fr  +33 (1) 71 25 24 23

Read more