Paris, Opéra National, MÉDÉE - Marc-A. Charpentier, IOCO

MÉDÉE an der Opéra national de Paris: Es ist verlockend, Marc-Antoine Charpentier (1643-1704) als Außenseiter zu betrachten, als das missverstandene Genie, das romantischen Biographen am Herzen liegt. Doch hier ist der begabteste französische Komponist seiner Generation, .........

Paris, Opéra National, MÉDÉE - Marc-A. Charpentier, IOCO
Opéra National de Paris / Palais Garnier © IOCO

MÉDÉE (1693) von Marc-Antoine Charpentier, Lyrische Tragödie in einem Prolog und fünf Akten. Libretto von Thomas Corneille, nach Texten von Pierre Corneille im Palais Garnier

von Peter Michael Peters

 MÉDÉE, DAS ENDE EINER TRADITION…

Non, non, à la pitié je dois être inflexible.

Jason méprisera mon  désespoir jaloux ?

Venez, venez, fureurs, je m’abandonne à vous.

Je prends une vengeance épouvantable, horrible;

Mais pour voir son supplice égaler mon courroux,

C’est par l’endroit le plus sensible

Qu’il faut porter les derniers coups. (Szene der Médée / 4. Akt)

 

Dunkle Impulse mit Kindermorden und Opfern…

Es ist verlockend, Marc-Antoine Charpentier (1643-1704) als Außenseiter zu betrachten, als das missverstandene Genie, das romantischen Biographen am Herzen liegt. Doch hier ist der begabteste französische Komponist seiner Generation, der jedoch nie eine wichtige Position am Hofe von Louis  XIV. (1638-1715) erlangte und aufgrund der vielen intriganten Machenschaften eines mächtigen Rivalen lange Zeit von einer Karriere an der Académie Royal de Musique, der jetzigen Opéra National de Paris, ausgeschlossen war. Seine Biografie deutet auf viel Ungerechtigkeit hin: Eine einflussreiche Dame, die ihn lange Zeit als Musiker beschäftigte, schloss ihn aus ihrem Testament aus: Jedoch nicht  seine Rivalen! Auch eine Intrige führte zum Scheitern seines Meisterwerks, die Oper Médée! Im Rennen um eine königliche Ernennung stoßen wir sogar auf den Verdacht dubioser Praktiken!

MÉDÉE von Marc-Antoine Charpentier hier Lea Desandre - "Quel prix de mon amour") - youtube Opéra national de Paris

In Wirklichkeit ist das Bild komplexer. Obwohl Charpentier nie großen Einfluss auf das Musikleben am königlichen Hofe hatte, genoss er dort doch eine gewisse Anerkennung. Der König gewährte ihm sogar eine Rente, vielleicht als Trost, nachdem der Komponist krankheitsbedingt daran gehindert war, eine Stelle in der Chapelle Royale zu bekommen. Auch in Paris erlangte Charpentier mehrere wichtige Ämter, die ihm große Wertschätzung einbrachten, während seine Musik bei vielen Kennern hoch eingeschätzt wurde.

Es handelt sich also nicht um ein unerkanntes Genie. Allerdings beklagt Charpentier selbst, dass er missverstanden wird, auch wenn dies in einem ironischen Kontext geschieht. In seinem Epitaphium Carpentarij fasst der Geist des Komponisten seinen Erfolg mit erstaunlicher Offenheit zusammen: „Ich war Musiker und galt bei den Guten als gut, bei den Unwissenden als unwissend. Und wie die vielen, die mich lobten, brachte mir die Musik wenig Ehre, sondern große Last!“

MÉDÉE - Szenenphoto mit Lea Desandre (Medee) @ Elisa Haberer

Ein besonderer Aspekt der Biografie des Komponisten hilft, diesen Sachverhalt zu erklären. Er ist der einzige französische Komponist seiner Generation, der in seiner Jugend die Reise nach Rom gemacht hatte, wo die Musik von Giacomo Carissimi (1605-1674), Luigi Rossi (1597-1653) und vielen anderen einen unauslöschlichen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte. Ohne auf sein französisches Idiom zu verzichten, versuchte Charpentier, es mit aus Italien entlehnten Techniken und Stil-Elementen zu bereichern. Allerdings waren diese Aspekte seiner Musik, die als problematisch empfanden wurden. Die Brüder François Parfaict (1698-1753) und Claude Parfaict (1705-1777) waren beispielsweise der Ansicht, dass Charpentier „sich weigerte, etwas anderes als sehr schwierige Musik zu schreiben. Musik, deren Harmonie und theoretische Grundlagen den Franzosen bis dahin unbekannt waren“.

Solche Reaktionen sind heute schwer zu verstehen. Es muss jedoch daran erinnert werden, dass der damals in Frankreich vorherrschende Stil, verkörpert von Jean-Baptiste Lully (1632-1687), durch elegante Einfachheit und den Verzicht auf jegliche künstlerische Elemente gekennzeichnet war. Jeder Komponist, der ungewöhnliche Harmonien oder komplexe formale Mittel pflegte, wurde mit Argwohn betrachtet. Tatsächlich war ein „gelehrter“ Komponist für viele Menschen ein Komponist, der „etwas zu intelligent“ war!

Könnten solche Einstellungen Charpentier bei der Wahl des Themas seiner Oper Médée beeinflusst haben? Die Parallelen sind faszinierend! Médée ist eine Ausländerin in Korinth, wo sie gefürchtet ist und ihre Kräfte als Zauberin misstraut werden. Charpentier, der kein Ausländer ist, hatte in Frankreich mehrere Prozesse mit Mächtigen, aber auch von „fremden“ Auswirkungen sehr inspiriert, die ihm ebenfalls Misstrauen eingebracht hatten. Wie Thomas Downing Kendrick (1895-1979) bemerkte: „Die Magie, die Médée zur Rache einsetzt, ruft die verdächtige musikalische Magie italienischer Harmonien hervor“. Darüber hinaus erreicht Charpentiers Demonstration dieser Magie – der „verdrängten Reize der hohen Wissenschaft“ – ihren Höhepunkt in seiner Musik für Médée selbst, wo sie zu einem psychologischen Porträt beiträgt, das aufgrund seiner dramatischen Kraft in der Geschichte der französischen Barock-Oper seinesgleichen sucht und vor allem die offensichtliche Sympathie bei Kennern erweckt!

MÉDÉE - Szenenphoto mit Ana Vieira Leite (Creuse) und Reinoud Van Mechelen (Jason) @ Elisa Haberer

Während seines Aufenthalts in Italien in den Jahren 1660er begegnete Charpentier offenbar erstmals einer opernhaften Behandlung des Médée-Mythos mit der fast revolutionären Oper Il Giasone (1649) von Francesco Cavalli (1602-1676). Er war eindeutig beeindruckt von der archetypischen Szene, in der die Zauberin ihre okkulten Kräfte einsetzt, um die Unterwelt zu beschwören, da er sich für die Anrufungs-Szenen in mindestens drei seiner eigenen Werke davon inspirieren ließ.

Es würde noch viele Jahre dauern, bis Charpentier die Gelegenheit hatte, ein dramatisches Werk zu diesem Thema zu schreiben. Als in den 1670er Jahren die französische Oper entstand, wurde sie sehr schnell unter die Herrschaft von Lully gestellt. An der neu gegründeten Académie Royale de Musique genoss Lully das absolute Monopol auf die öffentlichen Aufführungen der französischen Opern. Erst nach seinem Tod im Jahr 1687 hatten andere Komponisten die Möglichkeit, für diese Institution zu schreiben.

Es stellt sich heraus, dass Charpentier zu diesem Zeitpunkt bereits viel Erfahrung mit dem Schreiben für die Bühne hatte. Kurz nach seiner Rückkehr aus Italien hatte Jean-Baptiste Poquelin, auch Molière genannt, (1622-1673) ihn gebeten, Musik für Le Malade imaginaire (1673) und andere Stücke für sein Theater zu komponieren, was dann auch bald die Comédie-Française wurde. Charpentier umging dann Lully Monopol, indem er Opern für private Aufführungen schrieb – insbesondere La Descente d’Orphée aux Enfers, H. 488 (1683/1684) und Les Arts florissants, H.487 (1685) für einen aristokratischen Auftragsgeber, sowie zwei geistliche Tragödien in fünf Akten, Celsus martyr (1687) (Heute verschollen!) und David et Jonathas, H. 490 (1688), für die frommen Studenten des Jésuite-Collège Louis-le-Grand. Damit war er mit Abstand der erfahrenste Opern-Komponist, der nach dem Tod von Lully die Leitung  der Académie Royal de Musique übernahm.

Médée wurde am 4. Dezember 1693 in der Académie Royale de Musique uraufgeführt, als Charpentier bereits fünfzig Jahre alt war. Das Libretto stammt von Thomas Corneille (1625-1709), dem jüngeren Bruder des großen Tragikers Pierre Corneille (1606-1684). Bei der Adaption des Mythos von Médée entlehnte Corneille Elemente aus den Dramen von Euripides (480-406 v. J.C.), Seneca (4 v. J.C. – 65 n. J.C.) und in geringerem Mase von seinem eigenen Bruder. Die Handlung dreht sich um die Untreue von Jason, Médées Ehemann, der sie zugunsten von Créuse, der Tochter von König Créon, verlassen hat. Dieser Verrat und die eigennützige Entscheidung des Königs, Médée ohne ihre Kinder aus Korinth zu verbannen, veranlassen die Zauberin eine schreckliche Rache vorzubereiten. Mit ihren okkulten Kräften vergiftet sie eines von Créuses Kleidern, was dazu führt, dass die Prinzessin langsam und grausam stirbt, was Créon in den Wahnsinn treibt und schließlich den blutigen Tod ihrer eigenen Kinder sowie fast aller Hauptfiguren außer Jason verursacht. Für François-Marie Arouet, genannt Voltaire (1694-1778), der im folgenden Jahrhundert schrieb, war der Mythos von Médée ein ungeeignetes Thema für ein modernes Drama: „Eine Giftmischerin, eine Mörderin, kann wohlgeformte Herzen und große Geister nicht sehr berühren.“ aber er war sich offensichtlich nicht bewusst, auf welche Weise T. Corneille dieses Thema behandelt hatte. Der Librettist hatte beschlossen, das Drama früher als seine Vorbilder zu beginnen, so dass Médée erst im 3. Akt die Gewissheit über die Untreue ihres Mannes Jason erlangte und die totale Wahrheit nur wenige Augenblicke nach Jasons heuchlerischem Protest seiner Unschuld erfährt. Dieser wichtige Perspektiv-Wechsel ermöglicht es dem Librettisten und Komponisten, die Darstellung von Médée, einer ansonsten monströsen Figur, humaner zu gestalten und unser Mitgefühl für ihre missliche Lage, wenn nicht sogar für ihre nachfolgenden Handlungen zu erwecken.

Die Oper wurde im Mercure Galant begeistert rezensiert: „Die Emotionen sind so lebendig, dass sie selbst, wenn man die Titel-Rolle nur einfach nur aussprach, schon einen großen Eindruck hinterlassen würde.“ In Wirklichkeit jedoch war die Reaktion des Publikums nicht gerade positiv! Die Oper wurde in verleumderischen Versen lächerlich gemacht, die in Paris weitergegeben wurden. T. Corneille und Charpentier mussten die Schande ertragen, dass ihr Werk nach zehn Aufführungen von der Bühne genommen wurde. Der Komponist Sébastien de Brossard (1655-1730) führte dies auf eine „Intrige neidischer und ignoranter Menschen“ zurück. Er machte auch die Nachlässigkeit von einigen der Musiker des Orchesters verantwortlich, die daraufhin „wegen ihrer Unfähigkeit oder Böswilligkeit“ mit einer Geldstrafe belegt wurden.

Warum solche feindseligen Reaktionen? Schließlich entspricht Médée in vielerlei Hinsicht dem von Lully aufgestellten Modell der musikalischen Tragödie. Sie bezieht ihr Thema aus einem klassischen Mythos, seine allgemeine Struktur umfasst die fünf traditionellen Akte, denen ein Prolog zur Ehre von Louis XIV. vorangeht und jeder Akt mit Ausnahme des letzten, respektiert die Lully-Konventionen: Unterhaltung mit Ballett, Chor und Solisten zu beinhalten. Charpentier übernimmt auch den deklamatorischen Rezitativstil von Lully und beschränkt die Verwendung langer Solo-Arien, die ebenfalls nur geringe oder keine Gesangs-Effekte aufweisen.

All dies entsprach den Erwartungen seiner Zeitgenossen. Worauf sie aber völlig unvorbereitet waren, war der musikalische Inhalt selbst und insbesondere seine harmonische Sprache. Charpentier akzeptierte die Notwendigkeit, seine Vorliebe für farbenfrohe Akkorde in Grenzen zu halten, da er wusste, dass das notorisch konservative Opernpublikum eher an ein sanftes – manche würden sagen langweiliges – harmonisches Regime gewöhnt war. Aber von Zeit zu Zeit und besonders in der Musik, an der Médée selbst beteiligt ist, häuft Charpentier Dissonanz nach Dissonanz auf eine Weise an, die wir heute ergreifend, berauschend und sogar erschreckend gut finden, aber das damalige Publikum wurde zum Schaudern gebracht.

MÉDÉE - Szenenphoto mit Laurent Naouri (Créon) und Lea Desandre (Medee) @ Elisa Haberer

Eine solche harmonische Kühnheit kommt in den ersten beiden Akten nur gelegentlich vor. Doch von dem Moment an, indem Médée widerwillig beschließt, ihren übernatürlichen Kräften freien Lauf zu lassen. Enthüllt Charpentier immer mehr und mehr in musikalischer Weise ihr wahres Gesicht! Wenn man der Verwandlung von Médée zuhört, die im dritten Akt von einer treuen Ehefrau und sensiblen Mutter zu einer dämonischen Figur wird, die von ihrer eigenen Rache berauscht ist, kann man sich fragen, ob sich der Komponist nicht mit der Zeile „Jetzt bin ich Médée in der Tragödie selbst identifiziert hat. Er schöpfte aus dem Drama von Seneca und integrierte seine Worte in dem Moment, in dem die Protagonistin ihre letzte Rache an den verwirrten Korinthern plante! Noch nie zuvor war das französische Opern-Publikum von einer derartigen harmonischen und ausdrucksstarken Intensität konfrontiert: Médées Anrufung an die Unterwelt, dem Wehklagen der Korinther über den Tod von Créon oder von Créuses herzzerreißendem Tod ausgesetzt gewesen. Und während das Publikum erwartete, dass diese musikalischen Seiten recht subtil über die gesamte Oper verteilt würden, umfasst Charpentier viel mehr als Lully und er lässt sie oft über eine Länge hinausgehen, die als überzogen angesehen werden könnte.

Auch das Orchester kommt viel farbenfroher und vielfältiger zum Einsatz als in Lullys Opern mit einer Wucht, die wir in der französischen Oper erst bei Rameaus Debüt, vierzig Jahre später, wieder hören werden. Tatsächlich ist es in dieser und vielen anderen Hinsichten bemerkenswert zu sehen, in welchem Ausmaß Charpentier Rameau vorwegnimmt – einen anderen Komponisten, der in Voltaires Worten, „das Unglück hatte, mehr über Musik zu wissen als Lully“.

La Médée von Charpentier wurde nie wieder an der Opéra de Paris aufgeführt, und der Plan sie um 1700 in Lille aufzuführen, wurde aufgegeben, nachdem ein Brand die Bühnenbilder zerstört hatte. In diesem Sinne kann man von einem Scheitern sprechen. Aber zumindest einige Zeitgenossen des Komponisten waren sich der außergewöhnlichen Bedeutung dieses Werks bewusst und das letzte Wort überlassen wir nun Charpentiers Kollege, dem gelehrten feinsinnigen Musiker Brossard: „[Médée] ist zweifellos das gekonnteste und exquisiteste aller Werke, dass zumindest seit dem Tod von Lully […] hervorgegangen ist. […] Es ist ausnahmslos diejenige, in der wir von allen Opern am meisten lernen können“. Dinge, die für eine gute Komposition unerlässlich sind!

MÉDÉE -Szenenphoto Lea Desandre (Medee) und Solisten mit Chor (Furien) @ Elisa Haberer

Médée - Aufführung - l’Opéra National de Paris / Palais Garnier - 18. April 2024

Médée zieht in den Krieg…

Ein spektakulärer Abend für die endgültige Rückkehr von Charpentiers Médée an die Opéra National de Paris nach dreihundert Jahren! Die Inszenierung des schottischen Regisseurs David McVicar, die an der English National Opera in London in einer englischen Fassung im Jahr 2013 entstand und in der original Fassung am Grand Théâtre de Genève im Jahr 2019 wiederaufgeführt wurde, verortet die Handlung in die Zeit des Zweiten Weltkriegs.

In einem riesigen Wohnzimmer, das je nach Szene verschiedene Formen annimmt und im Mittelpunkt mit einer fast archaischen aber doch bürgerlich dekorierten und verschlossenen Tür: In der die vielen Momente aufeinander folgen, um das Werk zu seiner endgültigen Lösung zu führen. Der Regisseur bietet eine kohärente Lesart, die jedoch aufgrund der schwierigen Beziehung, die die Handlung und dieser präzise historische Kontext im Hinblick auf eine gemeinsame Evokation herstellen können. Schwierig ist es, diese Umsetzung zu rechtfertigen, obwohl sie ästhetisch erfolgreich ist, aber leider wenig effektive. Es ist daher eher die schauspielerische Regie und die einfallsreichen Choreografien  der englischen Choreografin Lynne Page und die Reduzierung des Hintergrunds auf eine einfache Kulisse, durch die der Zuschauer wirklich in die Tragödie eintauchen kann. Die auch mit großer Effizienz wiedergegeben wird, sobald sich  das Thema auf die chaotische Entwicklung von Médées Rache-Plänen konzentriert.

Jason, der Kapitän der Argonauten, wird hier Marine-Offizier und kämpft gegen Oronte, der zu den Luftstreitkräften gehört. Beide versuchen die Gunst Créons zu erhalten, der an der Spitze der Landarmee steht. Aber natürlich auch um die Hand seiner schönen sensuellen Tochter Créuse zu erlangen. In diesem politischen Kontext erscheint Médée als die von Jason verlassene, von Créon entmachtete Frau, die in der Strenge ihrer Einsamkeit in grausame blutige Mord-Gedanken versinkt. Um dann nach und nach die politischen Liebes-Hindernisse ihres eigenen Dramas zu beseitigen, die sie von ihm trennen: Den sie liebt!

Die unmittelbar verführerischen Bühnenbilder und Kostüme von der amerikanischen Bühnen- und Kostüm-Bildnerin Bunny Christie finden ihre Kohärenz auch über die historische Umsetzung hinaus, insbesondere im 3. Akt, wo sie den empörten Schmerz der Médée zum Leben erwecken, die in der Einfachheit eines schwarzen Nachthemds die Unterwelt beschwört um ihre Rache vorzubereiten. Ein beeindruckendes Bild, das im Kontrast zum Weiß von Créuses schmuckvollem glitzerndem Abendkleid und der im korinthischen Palast vorherrschenden modischen Strenge steht, die sie ablegt: Indem sie ihr dunkles Kostüm auszieht und so ihre Verletzlichkeit sowie das Ausmaß ihrer verheerenden Wildheit voll offenbart.

Hinzu kommen, dank der sehr intelligenten und äußerst ästhetischen Lichtarbeit der englischen Lichtbildnerin Paule Constable, farbenfrohe und humorvolle militärische und dämonische Licht-Choreografien, die an den mechanistischen und magischen Ehrgeiz der französischen Barock-Oper unter Louis XIV. und ihre wirklich spektakuläre Dimension anknüpfen: Wenn es um die Ankunft von einem mit Pailletten übersäten Amour geht, der in einem riesigen rosafarbenen „Cupid“-Air-Force-Flugzeug landet, den militärischen Marionetten-Paraden oder auch sogar den blutigen Furien, die aus der höllischen Tiefe mit den „Zombie“-Geistern empörter Frauen und Männer herausgestoßen werden. Bis dann der endgültige Aufstieg von Médée erfolgt, die in ihrem Rachedurst noch einmal eine schon geplünderte und verwüsteten Stadt triumphierend mit Feuer und Rauch überfliegt.

MÉDÉE - Szenenphoto - Reinoud Van Mechelen (Jason), Léa Desandre (Médée), Lisandro Abadie (Arcas) @ Elisa Haberer

Die italienisch-französische Mezzo-Sopranistin Lea Desandre findet in Médée eine Rolle , der sie sich voll und ganz hingeben kann: Die sanfte Brillanz ihres Tons verschmilzt wunderbar mit der Rolle der Geliebten und versteht es auch, heißer und fast verrostet zu sein, wenn die Hexe in ihr erscheint! Die junge sehr talentierte Sängerin verfügt über eine elegante und abgerundete Diktion, die es ermöglicht mit ihrem natürlichen Atem ein angeschwollenen Lied frei zu entfalten, ohne jemals durch Konsonanten oder okklusive Vokale gebremst zu werden, was den Text überaus verständlich und ausdrucksstark macht. Hinzu kommt eine ständige theatralische Beteiligung, ein sichtbares Engagement z. B. wenn der Körper sich „verrenkt“, als Médée sich von der unheilvollen anderen Médée übermächtigen lässt, wobei die Schauspielerin auch eine versierte Tänzerin ist, die nicht zögert, das Ballett der Furien während der höllischen Beschwörung zu begleiten. Einfach großartig!

An ihrer Seite ist der belgische Tenor Reinoud Van Mechelen ein Jason von tapferer Eleganz, mit einer kraftvollen Stimme, ohne dass die Gesangslinie jemals darunter leidet und der sowohl zu den sanftesten Nuancen eines Liebhabers als auch zu einem brutalen gutturalen Krieger-Ton fähig ist. Der Sänger meistert die Kunst der gemischten Stimme – zwischen Kopf und Brust – mit Geschick und verleiht den Duetten und seinen Klageliedern eine traumhafte Dimension. Der Schauspieler seinerseits überzeugt ebenso durch die Qualitäten seiner klaren Diktion wie durch seine körperliche Ausdauer.

Ihm gegenüber, als zweiter Verehrer, ist der kanadische Bass-Bariton  Gordon Bintner ein Oronte mit tief-schwarzen Stimme und leicht verstopftem Ton, der es aber versteht den Ton mit Schwung zu entfachen und der einen tapferen Gegner darstellt, dessen Abstieg ins Grauenhafte sichtbar wird, wenn er wider Willen zu Médées Komplizen wird.

Als die begehrte Prinzessin Créuse, verführt die schweizer Sopranistin Ana Vieira Leite sofort mit der Anmut ihrer Haltung und den Farben ihres Tons. Die Stimme ist klar und blüht schnell auf, um eine kalte Rundheit zu bieten, die sie erst beim Tod ihrer Figur verlässt: In einer Szene, die von der Musikalität der Interpretin getragen wird! Neben der Freude am Singen verkörpert die Schauspielerin eine Figur, die gekonnt zwischen dem affektierten Jugend-Gefühl und der Brutalität der sehr bedrohlichen Rivalin jongliert und dabei den Text in seiner Klarheit und der Eloquenz ihres körperlichen Engagement widergibt.

In der Rolle ihres Vaters ist der französische Bass-Bariton Laurent Naouri ein Créon, der seine dramatischen Effekte absolut beherscht und in einer Inszenierung, die mit Leichtigkeit von der stolzen Arroganz des Königs zur clownesken Verletzlichkeit eines gedemütigten Vaters durch Médée übergeht: Der noch am Ende zittern in seiner jämmerlichen Unterwäsche sich lächerlich machen muss! Darüber hinaus verleiht er seiner verschlingenden kindlichen Liebe eine unangenehme Zweideutigkeit! Wenn die Gesangslinie auch oft abgehackt ist, der Sänger oft über Konsonanten stolpert, aufs Äußerste getrieben wird oder die Vokale oft zu geschlossen sind, weiß er als ausgezeichneter Musiker, dieser Rauheit die ausdrucksstarken Nuancen zu verleihen, die ausreichen: Um einen kontrastierenden Charakter zu zeichnen!

Die französische Sopranistin Emmanuelle de Negri ist in der Rolle der Nérine, der Vertrauten von Médée und die Gouvernante ihrer beiden Kinder, absolut glaubwürdig. Ihre Loyalität weicht nur ihrer Abscheu angesichts der Kindermorde am Ende der Oper! Die mit einem leuchtenden Zentrum projizierte Stimme reagiert auf die weinenden oder wütenden Akzente ihrer Liebe mit einer nicht weniger engagierten Vehemenz und kümmert sich ebenso um den Text wie um seine Wirkung, insbesondere bei der Ankündigung von Jasons Täuschung.

Im Anschluss an Créuse gibt die französische Sopranistin Élodie Fonnard als Cléone eine nervöse Geste, die ihren Höhepunkt in der bestürzten Ankündigung des Todes von Créon und Oronte findet. Das sanfte Timbre und die freie Deklamation ermöglichen es der Interpretin, eine Ausdruckskraft zu zeigen, die oberflächlich betrachtet  aber immer auf den richtigen Punkt kommt.

Der argentinische Bass-Bariton Lisandro Abadie ist ein sehr kämpferischer Arcas, der Jason mit starker und direkter Stimme antwortet. An seiner Seite der französische Tenor Bastien Rimondi als Erster Korinther, ein Argien und Jalousie (Neid); der französische Bariton Matthieu Walendzik als ein Argien, Vengeance (Rache) und der französische Bariton Clément Debieuvre als Zweiter Korinther, ein Argien, ein Gefangener, ein Dämon verfügen über flexible Instrumente, die es ihnen ermöglichen vom gedämpften Samt der Gerichtsszenen zu aggressiven satanischen Handlangern zu werden, je nachdem in welcher Reihe sie die Rolle verkörpern werden.

Im Finale des 2. Akts ist die französische Sopranistin Julie Roset ein Amour mit einer hohen, glänzenden und anschmiegsamen Stimme, die mit der Partitur spielt und ebenso brillante wie agile Effekte bietet. An ihrer Seite steht die italienische Sopranistin Mariasole Mainini, die in der Rolle der Italienerin mit berauschendem Ton, die Wärme italienischer Phrasierung in eine sogenannte Choreografie vermeintlicher Erotik einbringt.

Als Gefangene bereichern die beiden französischen Sopranistinnen Juilette Perret und Julia Wischniewski die verliebten Chöre um ein wenig mehr sinnlichen und blumigen Gesang. Auch die französische Sopranistin Maud Gnidzaz und die französische Mezzo-Sopranistin Alice Gregorio verleihen ihrem Auftritt einen zarten Ton, der dem Refrain mehr Tiefe verleiht. Die französische Sopranistin Verginie Thomas als Phantome schließlich verwebt ihre Stimme mit der von Créuse in einer denkwürdigen Geister-Erscheinungs-Szene, in der die beiden phantastischen Klangfarben an Créons halluzinatorischem Kunstgriff teilhaben.

Der Chor und das Orchester von Les Arts Florissants boten ein sehr reichhaltiges Klang-Bouquet in vielen wunderschönen Farben, das aber auch die Kraft der Orchestrierung vermittelte, ohne jemals die Stimmen zu verdecken oder die Tempi zu beschleunigen. Und den Rezitativen auch genügend Flexibilität ließ, den Fluss  zu variieren und viele Feinheiten zu entfalten, ohne sie zu verlieren angesichts des rachsüchtigen und unbändigen Impulses der Handlung. Der amerikanisch-französische  Dirigent und Gründer dieses schon mythischen Ensembles, William Christie erfüllte die talentierten Instrumentalisten mit der nötigen Energie das Dramas in perfekter Harmonie mit der Bühne. Der Chor wiederum wurde von dem französischen Chorleiter Thibaut Lenaerts vorbereitet, erzeugte einen lebendigen  und abwechslungsreichen Klang, der von der Pracht des Hofes bis hin zu dämonischen Wendungen reicht und seinen markantesten Eingriff zweifellos im Tod von König Créon findet.

Sehr lange gefeiert, endet die Aufführung mit der Härte von Jasons Schicksal, dem Médées wütende Eifersucht entgegenschlägt und das Publikum beim letzten Bild teilweise schockierte, als seine Frau umgeben von Leichen in den Himmel auf fliegt. (PMP/25.04.2024)

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17. 11.  Premiere   Als zweite Premiere der Spielzeit 2024-25 stand an der Hamburgischen Staatsoper Carl Maria von Webers „Freischütz“ auf dem Programm, diese romantische deutsche Oper, welche Natürliches mit Übernatürlichem verbindet und welche so einige Opern-Hits aus dem Wunschkonzert beinhaltet. Die Erwartungen waren hoch, doch nach der sensationellen Saison-Eröffnungspremiere „Trionfi“

By Wolfgang Schmitt