Paris, Opéra National- Bastille, DON QUICHOTTE - Jules Massenet, IOCO

Opéra National de Paris - Don Quichotte: Ein wahnsinniger Liebhaber und Träumer… Nicolaï Ghiaurov (1929-2004), Ruggero Raimondi (*1941), Samuel Ramey (*1942), José van Dam (*1940): Massenets Don Quichotte, 1910 von Fjodor Schaljapin (1873-1938) an der Opéra de Monte Carlo uraufgeführt ....

Paris, Opéra National- Bastille, DON QUICHOTTE - Jules Massenet, IOCO
Opéra Bastille, Paris © Uschi Reifenberg

DON QUICHOTTE (1910) - Heroische Komödie in fünf Akten von Jules Massenet. Mit einem Libretto von Henri Cain nach Miguel de Cervantes / Jacques Le Lorrain.

 von Peter Michael Peters

MASSENET: EIN VERBOTENES VERGNÜGEN…?

Je suis le chevalier errant… et qui redresse

Les torts; un vagabond inondé de tendresse

Pour les mères en deuil, les gueux, les opprimés,

Pour tous ceux qui du sort ne furent pas aimés.

 (Arie des Don Quichotte / 3.Akt / Auszug)

Don Quichotte oder der Triumph des Eklektizismus…

Noch heute ist das Bild von Jules Massenet (1842-1912), dem berühmtesten und produktivsten französischen Komponisten der Jahrhundertwende, durch die negative Beurteilung seiner ersten Erfolge durch einen Teil der Musik-Presse seiner Zeit und bestimmter Künstlerkreise getrübt worden und während seiner gesamten Karriere immer wieder neu genährt. Sein lyrisches Theater leidet unter dem Ruf der Leichtigkeit und Oberflächlichkeit, der den Zugang zu allen seinen Werken noch immer beschränkt. Zwischen 1873 und 1912 nahm Massenet eine einzigartige Stellung in der französischen Musikwelt ein: Schnell populär und sehr sichtbar! Wir müssen uns an die Gründe erinnert, die ihn ins Kreuzfeuer vieler unzufriedener Komponisten und enttäuschter Kritiker brachten. Seit der Premiere von Manon im Jahr 1884 schienen Massenets Produktionen auf den nationalen Opernbühnen allgegenwärtig zu sein. Ihr großer Erfolg führte zu zahlreichen Wiederaufnahmen in langen Wieder-Aufführungs-Reihen. Damals programmierten die Theater keine Spielzeiten, sondern führten eine Aufführung solange vor, wie die Zuschauer sie würdigten. Von diesem Datum an bis zum Ersten Weltkrieg wurde jedes Jahr mindestens ein Werk von Massenet in einem der Pariser Theater aufgeführt.

DON QUICHOTE - hier Gaëlle Arquez & Christian Van Horn - youtube Opéra national de Paris

Sicherlich erfreute sich kein anderer Komponist einer solchen Beliebtheit beim Publikum und bei den Theater-Direktoren. „Was wollen sie“, erklärte Emmanuel Chabrier (1841-1894) 1893 öffentlich: „alles wird von Massenet eingenommen, die Opéra National de Paris, die Opéra Comique, es gibt nur ihn!“ Die meisten wichtigen lyrischen Dramen von Camille Saint-Saëns (1835-1921), von Vincent d’Indy (1851-1931), von Chabrier oder Gabriel Fauré (1845-1924) entstehen in der Provinz oder im Ausland, also in Weimar, Brüssel oder Monaco. Wenn sie beim Publikum gut ankommen, wird dies von der reisenden Musik-Presse wiederholt und dann sind sie endlich auch Gegenstand einer Pariser Aufführung. Doch nicht immer stellen die Bedingungen ihre Autoren zufrieden! Aus diesem Grund bedauern einige das fehlen eines Saals für lyrische Schöpfungen in Paris, der die beiden Repertoire-Säle ergänzen kann. Massenet ist auf den Opernbühnen sehr präsent und feiert auch in den Salons echte gesellschaftliche Erfolge. Während sich die Arien seiner Opern nur schwer aus den Partituren für Konzert-Aufführungen extrahieren lassen, werden seine Melodien aber regelmäßig von professionellen Sängern und Amateuren zum vergnügen privater Abende gesungen. Auch Saint-Saëns, Fauré oder Claude Debussy (1862-1918) richten einen Teil ihrer Aktivitäten auf  diese Salons. In Ermangelung einer theatralischen Schöpfung helfen der Verkauf von Kammermusik – oder Melodien-Partituren sowie Konzerte in privaten Salons einem Komponisten, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Auch die Verbreitung ihrer Musik ist gewährleistet! Sie beschränkt sich auf ein eher vertrauliches Umfeld, Kreise von Gelehrten, wohlhabenden Gönnern oder aufgeklärten Amateuren. Langfristig gesehen gewinnt ihr Ruf jedoch! Massenet erhält niemals öffentlich Unterstützung von anerkannten Intellektuellen. Auf der anderen Seite, die Dichter und Schriftsteller die sich um Stéphane Mallermé (1842-1898) versammelten, spendeten Debussy oder Fauré materielle Unterstützung durch ihre aktive Teilnahme an Konzerten und bleibenden Ruhm durch ihre Schriften.

Massenets Sichtbarkeit und sein Ansehen in der breiten Öffentlichkeit werden auch durch seine Lehrtätigkeit am Konservatorium begünstigt. Als gewissenhafter Lehrer heißt er viele freie Schüler und Zuhörer in seiner überfüllten Klasse willkommen. Während seiner Lehrtätigkeit wird fast alle zwei Jahre einer seiner Studenten mit dem prestigeträchtigen Rom-Preis ausgezeichnet. Dann bewegen sie sich ganz natürlich in Richtung lyrischer Komposition, was einige Kritiker zu der Aussage verleitet: Dass es immer mehr Nachahmer von Massenet gibt! Eine solche Kritik impliziert, dass es einfach ist, Massenets Musik unter der Bedingung zu komponieren, wenn man seinen Beruf korrekt erlernt hat. Unter den Komponisten der Massenet-Generation verdienten viele ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Musik-Kolumnen in den Zeitungen! Ihr Einfluss auf Ideen ist sicher, aber schwer einzuschätzen! Darüber hinaus unterrichten Saint-Saëns und d’Indy in privaten Strukturen, die kleiner als das Konservatorium sind, weit entfernt vom offiziellen Weg, der zum Rom-Preis führt, während Fauré erst spät in seinem Leben Professor wird. Ihre Schüler werden sich mehr der Instrumental-Musik widmen!

DON QUICHOTTE hier Szenenphoto mit Christian Van Horn (Don Quichotte), Chor, Tänzer @ Elena Bauer

Aber was Massenet zu einer wirklich einzigartigen Figur in der Musikwelt macht, ist seine fast ausschließliche Berufung zum lyrischen Theater: „Ich beginne das echte Bedürfnis zu verspüren, für die Bühne zu schreiben und nicht für ein Quartett oder für ein Orchester“, schrieb er mit dreiundzwanzig Jahren an seinen Lehrer Ambroise Thomas (1811-1896). In den sechsundvierzig Jahren seiner Karriere – von seiner Rückkehr aus Rom bis ende 1865 zu seinem Tod im Jahr 1912 – komponierte sechsundzwanzig lyrische Werke. Verglichen mit dem Rest seiner Produktion ist es riesig: Einige Bühnen-Musiken, ein paar Kantaten, viele Melodien, aber wenige Instrumental-Stücke. Unter den Komponisten dieser Zeit ist es besonders außergewöhnlich! Saint-Saëns folgt ihm hinsichtlich der Anzahl der komponierten Bühnenwerke mit nur zwölf Titeln. Georges Bizet (1838-1875), der sich ebenfalls ganz dem Theater widmen wollte und gegenüber Saint-Saëns erklärte: „Ich bin nicht für die Symphonie gemacht, ich brauche das Theater, ich kann nichts ohne machen“, verstarb sehr früh am Beginn einer großen Karriere in 1875, das Jahr der Uraufführung von Carmen. Mit dreiunddreißig Jahren verlor Massenet seinen Haupt-Konkurrenten.

Offensichtlich ist diese Zeit für das lyrische Schaffen nicht günstig. Manche Musiker beschränken sich auf ein einziges Werk für die Bühne, da es so schwierig ist, ein schweres und komplexes Werk wie eine Oper aufzuführen. Der umgebende Idealismus, den die Wagnerianer und Symbolisten vermitteln, regt auch die Fantasie vom einzigartigen und perfekten Werk an. Sowohl materielle als auch intellektuelle Gründe halten Ernest Chausson (1855-1899), Debussy, Paul Dukas (1865-1935) oder auch Fauré an der Schwelle zu einem zweiten Theater-Projekt an. Außer Massenet wandten sich alle der Konzertmusik zu! Die Jahrhundertwende in Frankreich präsentiert sich daher als eine großartige blühende Ära der Symphonie und Kammermusik. Aber erst im Theater findet ein Musiker wahre Anerkennung, ja sogar seine Weihe. „Lasst uns den Mut haben, es zu sagen, erklärt Saint-Saëns in seinem Essays: L‘ Avenir de la musique en France (1916), so groß die Zukunft der Orchester-Musik auch sein mag – und es wird mir nicht vorgeworfen werden, es zu bestreiten – aber das wahre musikalische Leben ist im Theater. Und in diesem Punkt waren unsere Vorgänger in einer besseren Position als wir“. Betrachtet man heute Fauré und Debussy als die bedeutendsten Komponisten der französischen Musik dieser Zeit, so ist Massenet wohl der Vertreter der französischen Musik schlechthin (?).

Die Beschwerden, die ein Teil der Musikwelt gegenüber Massenet entwickelte, waren ebenso zahlreich wie vielfältig. Sie bestehen auch noch heute sehr stark! Inmitten des Wagnerismus wurde ihm mangelndes künstlerisches Bewusstsein vorgeworfen: „Das hat nichts mit der Frage der Kunst zu tun“, behauptet Chabrier über Le Cid (1885) in einem Brief an Charles Lecocq (1832-1918). Debussys Erklärung in La Revue blanche im Jahr 1901 schadet seinem öffentlichen Bild noch viel mehr: „Musik ist für Herrn Massenet nie „die universelle Stimme“, die Johann Sebastian Bach (1685-1750) und Ludwig van Beethoven (1770-1827) hörten, er macht sie stattdessen zu einer charmanten Spezialität“. Unter seinen Kollegen ärgerten sich viele über seine Institutionalität! Vom Staat anerkannt und geehrt, hatte er auch das Vergnügen, dass seine Werke beim Publikum der subventionierten Theater große Resonanz fanden.

DON QUICHOTTE - Szenenphoto mit Christian Van Horn (Don Quichotte), Etienne Dupuis (Sancho) @ Elena Bauer

Sobald sein Talent durch die Uraufführungen von Hérodiade und Manon im Jahr 1881 bzw. 1884 bestätigt wurde, begann man über Leichtigkeit zu sprechen. Es wurde ihm unterstellt, dass er einen hervorragenden Beruf ausübe, das heißt: Dass bei ihm die Technik die Inspiration ersetzte. Dann stellte sich der Erfolg ein und ab Thaïs (1894), seinem elften lyrischen Drama, wurde ihm vorgeworfen, dass er sich nicht mehr erneuere. Es stimmt, dass er im selben Jahr 1894 zwei weitere Opern schuf! Alle damaligen Komponisten kritisierten ihn dafür, dass er absolut gefallen wollte. 1912 schrieb Debussy in seinem Nachruf: Massenet war der am meisten geliebte zeitgenössische Musiker […]. Seine Kollegen hatten viele Mühe, ihm diese Fähigkeit zu verzeihen, obwohl es wirklich ein großes  Geschenk für ihn war“ und er fügt mit einiger Perfidie hinzu: „Um die Wahrheit zu sagen, ist diese Gabe nicht unbedingt erforderlich, insbesondere in der Kunst“. Es ist sicher, dass das Verhalten von Massenet solche Kritik gefördert hat! Aus Angst vor öffentlichen Reaktionen vermied er alle Uraufführungen seiner Werke. Auch in der Gesellschaft nahm er eine Haltung von etwas unterwürfiger Freundlichkeit an, die Misstrauen, ja sogar Wut hervorrief. Der einvernehmliche und glückselige Ton seiner Mes Souvenirs (1912) spiegelt seinen Mangel an Engagement und seine Angst vor Konfrontationen wider. Darüber hinaus wurde der Sentimentalismus, von dem seine Werke angeblich durchdrungen seien, scharf kritisiert. Seine Zeitgenossen reagierten bösartig auf den Erfolg seiner Musik bei Frauen. Damals war das kein Kompliment! Schließlich forcierte die Kritik manchmal den Antagonismus, der Massenet, den modischen Komponisten mit anderen Musikern seiner Zeit gegenüberstellte: Die  anspruchsvoller, ehrlicher und von Institutionen benachteiligt waren! Wir können Massenet sicherlich weiterhin „mit einer fast verbotenen Liebe“ lieben, wie Debussy sagt, aber es ist wohl befriedigender zu versuchen, diese Kritik zu vereiteln und sein Image zu korrigieren. Hinter diesem mittelmäßigen Ruf verbirgt sich tatsächlich ein begabter und aufrichtiger, wenn auch sehr geheimer Künstler.

An künstlerischem Bewusstsein mangelte es Massenet nicht, aber seine Haltung entsprach kaum dem Bild des idealen Künstlers, das Richard Wagner (1813-1883) seinen Zeitgenossen bot. Zeit seines Lebens war der deutsche Meister ein autonomer Schöpfer. Er schrieb das Libretto und komponierte die Musik zu seinen Dramen, er inszenierte sie in einem von ihm selbst entworfenen Theater in Bayreuth. Seinen Einfluss auf das französische Kulturleben sollte man nicht unterschätzen, denn er war in jeder Hinsicht beträchtlich. Dieses Ideal des vollkommenen Künstlers beeindruckte die Menschen und wurde zu einem Vorbild! Viele haben es versucht: D’Indy, Chausson, Gustave Charpentier (1860-1956) und andere haben ihre eigenen Librettos geschrieben. Das Werk entsprang einer reineren Quelle, es enthielt mehr Wahrheit, wenn derselbe Geist das Gedicht und die Musik konzipierte. Massenet war bescheidener und hatte keine literarischen Ambitionen! Einer Tradition folgend, die bis in die Geburtsstunde der Oper zurückreicht, akzeptierte er die Aufgabenteilung und scheute nicht vor der gemeinsamen Arbeit zunächst mit den Librettisten, dann mit den Interpreten zurück. Er bewies Strenge und Selbstvertrauen, Zuhören und einen hohen künstlerischen Standard. Chabrier verhielt sich nicht anders, als er einen Monat vor der Premiere von Gwendoline (1886) zustimmte, dem zweiten Akt eine Szene hinzuzufügen, um einen  Sänger zufriedenzustellen. Darüber hinaus hat Massenet nie die idealistischen Themen des Wagnerismus aufgegriffen. Er glaubte wahrscheinlich nicht an die heilige Mission des lyrischen Dramas, das zum „Gesamt-Kunstwerk“ verklärt wurde. Allerdings berührten ihn einige symbolistische Themen, insbesondere die des Traums, die in allen seinen Werken bis hin zu Don Quichotte präsent sind und wo sie auch inkarniert werden. Aufgrund des damaligen Idealismus wagte er es nie, Symbole zum Singen zu bringen. Immerhin, wie Debussy über Massenet in La Revue blanche erkannte: „Nicht jeder kann ein William Shakespeare (1564-1616) sein, aber wir können danach streben, Marivaux, auch Pierre Carlet (1688-1763) zu sein, ohne uns selbst herabzusetzen!“.

DON QUICHOTTE - Szenenphoto - Christian Van Horn (Don Quichotte), Gaëlle Arquez (Dulcinée), Chor @ Elena Bauer

Sehr oft waren diejenigen die ihm vorwarfen institutionell zu sein, fast offen verärgert über ihn: Weil er Titel und Ehrungen schneller erlangt hatte als sie! Saint-Saëns war besonders erbittert und tat sein Bestes, Massenets Ruf zu schädigen, indem er ihm die schlimmsten moralischen Verfehlungen vorwarf: Massenet hat sich mir gegenüber infam verhalten“, erklärte er, als er von seinem Tod erfuhr: „es gelang ihm, meine Karriere um mehrere Jahre zu verzögern“. Andere griffen in ihm die Macht der Institutionen an, die er vertrat und die unabhängige Musiker wie Chabrier behinderten. Aber es wäre ein Fehler zu glauben, dass Massenet die formalen standardisierten Gesetzte, die durch die Theater-Spezifikationen übernommen und auferlegt wurden, strikt respektierte. Erstens lockerten die Opéra National de Paris und die Opéra Comique ihre Anforderungen nach 1870 erheblich! Dann wissen wir auch heute, dass Massenet mit großer Freiheit arbeitete und sich nichts aufzwingen ließ. Dank seines Gespürs für die Bühne hatte er das Vertrauen der Theater-Direktoren und seiner Darsteller gewonnen. Da er Vielfalt bevorzugte, umfassen seine Partituren Genre-Szenen, Gemälde-Szenen oder andere Unterhaltung in Form von Ballett-Szenen, die an akademische Formen der Grands Opéra Français erinnern können. Aber er nutzte sie immer aus freiem Willen und entsprechend der Ökonomie des Stücks und der Dramatik. Schließlich müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass Massenet von allen Vorzügen der in Paris anerkannten subventionierten Theater profitierte. Mehrmals begann er mit der Komposition einer Oper, ohne Pläne für eine Theater-Aufführung zu haben. Bei weitem nicht alle seiner Werke waren Auftrags-Arbeiten. So blieb Amadis (1922) mangels eines Theater-Projekts zwanzig Jahre lang in einem Safe verschlossen und wurde zu Massenets Lebzeiten nicht produziert. Darüber hinaus wurden von sechsundzwanzig Bühnenwerke nicht weniger als zehn im Ausland uraufgeführt. So wurde Don Quichotte in der Opéra de Monte Carlo präsentiert, wo auch Saint-Saëns, Fauré und auch die posthumen Kreationen der Opern von César Franck (1822-1890) zu sehen waren.

Während er 1912 Pénélope orchestrierte, schrieb Fauré an seine Frau: „Ich habe keinen […] hilfreichen Gott wie Massenet an meiner Seite!“ Aber die Leichtigkeit, mit der Massenet zu komponieren schien, war nur scheinbar. Es ist das Charakteristikum eines gut gemachten Werkes, die Arbeit die es erfordert zu verbergen: „Die Kunst durch die Kunst selbst zu verbergen“, so der delikate Ratschlag von Jean-Philippe Rameau (1683-1764), den wir zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiederentdeckten. Jeden Morgen um vier Uhr stand Massenet auf und schrieb fünfzehn Stunden am Tag. Die Entwürfe seiner Partituren weisen zahlreiche Korrekturen und Umschreibungen auf. Darüber hinaus hatte er immer mehrere Kompositionen in Arbeit! Er überwachte häufig die Produktion seines neuen Dramas, während er das vorherige überarbeitete. Gleichzeitig orchestrierte er die nächste Oper und suchte bereits fieberhaft nach seinem nächsten Libretto. Andererseits nutzte er nie eine einzige Stilrichtung aus, sondern erneuerte sich im Laufe seiner Karriere. Die Opern folgen aufeinander und weisen wenig Ähnlichkeit auf, da Massenet die Quellen der Librettos variierte (Theater, Roman, französische oder ausländische Werke) und er verstand es, seine musikalische Schreibart dem Thema anzupassen. In der von Exotik vermischten religiösen Problematik von Thaïs folgte die deutsche Romantik mit Werther (1892). Im Anschluss daran weicht das neoklassizistische Porträt von Manon dem Naturalismus von La Navarraise (1894). Während die Diskontinuität sein gesamtes Werk kennzeichnet, verleiht ihm ein ausgeprägter Sinn für das Theater seine Einheit. Dieser untrügliche Instinkt für die Bühne war zweifellos der Grund für den Vorwurf der Leichtigkeit: Der gegen ihn erhoben wurde! Dies war seine größte Qualität, die Albert Carré (1852-1938), Direktor der Opéra Comique zu Beginn des Jahrhunderts, in seinem 1950 veröffentlichen Souvenirs de théâtre würdigte: „Die Bühne war seine Domäne, sein Element, dort herrschte sein klares Genie. Alles, was man tun musste, war sich an die Vorgabe der Musik zu halten, ihrer rhythmischen Ordnung und den vom Autor gewünschten Nuancen zu gehorchen, um ein Werk von Massenet so zu beleben, wie er es wünscht. Denn alles ist von ihm vorbereitet, die Worte und das Schweigen und zwar so treffend, dass wir nie von ihm die Hinzufügung einer einzigen Veränderung oder auch nur einer einfachen Taktfolge verlangten, da sein sicherer Instinkt alles vorhergesehen hatte“.

„Dieser Akademiker ist einer der wenigen, der die Entwicklung des Publikums klar erfasst, sie verfolgt und wenn nötig beschleunigt… Er ist wunderbar flexibel und konstruiert seine Werke so, dass sie etwas enthalten, das Schwachsinnigen gefällt und auch genug um die Aufmerksamkeit der feineren Gesellschaft zu fesseln“, schrieb Henry Gauthier-Villars, auch Willy (1859-1931) im Jahr 1890. Massenet hörte zweifellos auf sein Publikum und strebte nach Erfolg. Aber er schien eher besorgt als berechnend gewesen zu sein! Nur die Arbeit erlaubte ihm, seine tiefe Angst zu vergessen. Mit seinen Mitarbeitern fürchtete er weder Dialog noch Konfrontation. Er verstand es, den verschiedenen Librettisten beim dramatischen Aufbau seiner Werke seine Entscheidungen aufzuzwingen.

DON QUICHOTTE - Szenenphoto mit Gaëlle Arquez (Dulcinée), Solisten, Chor @ Elena Bauer

Regelmäßig korrigierte oder schrieb Massenet ganze Passagen einer Oper nach der ersten öffentlichen Aufführung um. Er ließ sich nicht von einer selbstgefälligen Stimmung leiten, sondern von der Überzeugung, dass sich die Musik dem Drama unterordnen muss. Um ihn herum gab es viele Komponisten, die die Musik im Theater regieren lassen und ihr das Drama und die Stimmen unterordnen wollten. In den lyrischen Werken von Alfred Bruneau (1857-1934) oder Dukas beklagten sich das Publikum und die Kritiker über die Schwierigkeit, durch das lautstarke Orchester zu stark gedämpfte schwerhörende Worte einzufangen. Diese Musiker standen oft im Ruf, in Bezug auf Mode und Geschmack unnachgiebig zu sein. Damit sollten wir die Zugeständnisse nicht vergessen, die Debussy  dem Direktor und dem Publikum der Opéra Comique während der Proben von Pelléas et Mélisande (1902) gemacht hat. Massenet war sicherlich nicht der Einzige, der sich Sorgen um die Rezeption seiner Werke machte! Ebenso war er der Mode nicht so entgegenkommend, wie die Leute gerne wiederholten. Nicht alle Werke hatten sofort Erfolg! Aber er hatte keine Angst davor, sich mit gewagten Themen oder Registern auseinanderzusetzen! Im Jahr 1887 hatte Werther den Direktor der Opéra Comique durch seine melancholische Atmosphäre und sein tragisches Ende so sehr erschreckt, dass man bis 1893 warten musste, um die Oper beim Pariser Publikum vorzustellen. Im Jahr 1894 schuf Massenet nacheinander Thaïs, die erste Oper die auf einem Libretto mit freien Versen komponiert wurde. Dann La Navarraise, eine der ersten französischen naturalistischen Opern überhaupt, die von der jungen italienischen Verismo-Schule inspiriert war. Alle diese Werke waren ihrer Zeit voraus! Die Mischung von Tönen und Genres sowie der Realismus von Worten und Situationen waren auf offiziellen Opernbühnen noch nicht angemessen.

Der Vorwurf der Sentimentalität und Selbstzufriedenheit gegenüber der weiblichen Öffentlichkeit ist einer der am schwersten zu widerlegenden Vorwürfe. Dieser Charakter kann jedoch gerechtfertigt sein! Die meisten Werke von Massenet konzentrieren sich auf weibliche Charaktere, wie die Titel andeuten. Seine Adaption von Werther für die lyrische Bühne bevorzugte die Rolle der Charlotte! In Chérubin (1905) wird die Titelrolle von einer Mezzo-Sopranistin gesungen. Durch den Einsatz von Transvestiten kann eine Frau in der Hauptrolle gehalten werden. Wenn er in Don Quichotte dieser Konstante zu entkommen scheint, sollte betont werden, dass auch der Charakter von Dulcinée im Vergleich zu Miguel de Cervantes‘ (1547-1616) Original erheblich entwickelt und verklärt wurde. Desgleichen auch der zweite Inspirator, de Dichter Jacques Le Lorrain (1856-1904) mit seinem Drama Le Chevalier de la longue  figure (1906) und natürlich auch der Librettist Henri Cain (1859-1937) haben das originale Werk auf Wunsch von Massenet sehr stark verändert. Massenet selbst reagierte auf diesen Vorwurf und verkündete Stolz, mit Le Jongleur de Notre-Dame (1902) ein völlig männliches Drama komponiert zu haben. Diese Besonderheit steht zweifellos im Gegensatz zum „männlichen“ Charakter von Wagners lyrischen Dramen, in deren heroischen Perspektiven die Frau für die Erlösung des Mannes geopfert wird. In Frankreich waren die weiblichen Charaktere, die damals auf den Bühnen gefragt waren: Entschieden gewalttätig, gefährlich für die Männer und für die moralische Ordnung wie z. B. Carmen oder Dalila aus Samson et Dalila, Op. 47 (1877) von Saint-Saëns! Gleichgültig gegenüber der allgemeinen Frauenfeindlichkeit seiner Zeit hatte er die Lektion der großen italienischen Erfolge gelernt und verstanden, dass eine menschliche Heldin wie Norma (1831) von Vincenzo Bellini (1801-1835) oder Violetta aus  La Traviata (1853) von Giuseppe Verdi (1813-1901) zu der Zeit, als Sarah Bernhardt (1844-1923) triumphierte, sehr großen Anklang fand.  

Bezüglich der Meinung, die die Kollegen über Massenet hatten, ist es wiederum notwendig, eine Einschränkung vorzunehmen! Auch wenn der Künstler selbst wenig Sympathie hervorrief, so war das Werk aus den eben dargelegten Gründen weniger Gegenstand von Verachtung als vielmehr von leicht eifersüchtiger Bewunderung. Fast alle Rivalen und Studenten, zeigten Respekt vor seinen Werken und sogar für seinen echten guten Geschmack. Diese Rehabilitation war nicht immer öffentlich und es ist notwendig, sie in den vertraulichen Korrespondenzen zu suchen und wieder zu finden. Nur Saint-Saëns und Debussy scheuten sich nicht, sich zu widersprechen. „Er hatte die überlegene Gabe, das Leben, das wir nicht definieren können, die aber die Öffentlichkeit nicht täuschen kann“, erklärte Saint-Saëns in L‘ Ecole Buissonnière: Notes et souvernirs (1913). Was Debussy betrifft, konnte er in seinem Nachruf-Artikel die Kohärenz und erkennende Unabhängigkeit von Massenets Arbeits-Ansatz würdigen: „In der Kunst muss man am häufigsten nur gegen sich selbst kämpfen und die Siege, die man erringt sind vielleicht die Schönsten“.

Die Kritik des 20. Jahrhunderts betrachtete Massenet lange Zeit mit dem Snobismus der Schüler und Anhänger von Mallarmé und konstruierten die Karikatur eines weltlichen, kommerziellen und etwas vulgären Komponisten, dessen einziges Ziel darin bestand, den bürgerlichen Geschmack der Dritten Republik zu befriedigen. Aber Musiker und Musik-Wissenschaftler haben in den letzten Jahren viel getan, um sein Image wiederherzustellen! Es war besonders Françis Poulenc (1899-1963), der behauptete das Massenet die französische Oper vor Wagner gerettet hat, somit können wir ihn nun objektiver betrachten. Unser Glück: Ihm zuzuhören ist kein verbotenes Vergnügen mehr! Möge es für uns das Zeichen eines wiederentdeckten großen Talents sein…

DON QUICHOTTE - Szenenphoto mit Christian Van Horn (Don Quichotte), Tänzer @ Elena Bauer

DON QUICHOTTE: Aufführung an der L’Opéra National de Paris - Salle Bastille - 14. Mai 2024

Don Quichotte: Ein wahnsinniger Liebhaber und Träumer…

Nicolaï Ghiaurov (1929-2004), Ruggero Raimondi (*1941), Samuel Ramey (*1942) und José van Dam (*1940): Die Titelrolle von Massenets Don Quichotte, 1910 von Fjodor Schaljapin (1873-1938) an der Opéra de Monte Carlo uraufgeführt, hat an der Opéra National de Paris nur sehr renommierte Sänger gekannt, was die Messlatte für die kommenden Interpreten äusserst hochlegt. Als Ersatz für den russischen Bass Ildar Abdrazakov (*1976), der ursprünglich geplant war, aber der aufgrund seiner ausdrücklichen offiziellen Unterstützung für den kriegerischen Überfall der Ukraine des russischen Präsidenten Wladimir Putin (*1952) von der Direktion der Opéra national de Paris abgelehnt wurde. Wir können dieser Stellungnahme nur beipflichten, denn Kriegstreiber haben nichts bei uns zu suchen! Wieder einmal der Beweis, dass Politik in die Musik eingreifen kann und muss, denn unsere eigene Vergangenheit kann uns ein Lied erzählen…

Also als Ersatz ist diesmal der amerikanische Bass Christian Van Horn, der den Chevalier de la Longue-Figure interpretiert, einen in Paris in mehreren französischen Rollen geschätzten Sänger: Den Mephisto in Faust (1859) von Charles Gounod (1818-1893) und die vier dämonischen Partien in Le Contes d’Hoffmann (1881) von Jacques Offenbach (1819-1880). Ungeachtet der großen Qualitäten,  schöne dunkle Klangfarben, extreme Sorgfalt beim Legato, passen französische Werke vielleicht nicht am besten zu diesem hervorragenden Interpreten, da dieses Repertoire zweifellos Klarheit in der Stimme erfordert, eine Emission, die weniger „rückwärts“, sondern mehr offene und weniger nasalierte Vokale verfolgt. Doch das stimmliche und szenische Engagement des Künstlers ist so groß, dass alle Vorbehalte vor der Macht der Inkarnation fallen: Während der zweieinhalb Stunden dauernden Aufführung ist Horn einfach Don Quichotte, mit seiner Größe und seinen Schwächen, seiner dunklen Melancholie, seiner Verzweiflung… Das Publikum täuschte sich nicht und spendete diesem Ausnahme-Künstler liebevolle Ovationen.

Seine Dulcinée ist die französische Mezzo-Sopranistin Gaëlle Arquez und ersetzt damit die zuerst vorgesehene französische Mezzo-Sopranistin Marianne Crebassa. Wir finden die bekannten Qualitäten der Mezzo-Sopranistin: Üppiges Timbre, Virtuosität und es ist auch unbedingt notwendig, die hispanischen Vokalisation, die die Partitur prägen, sehr elegant zu singen. Die Lyrik ist auch äusserst notwendig, insbesondere für das Duett im 4. Akt „Je t’ai livré mon coeur“, mit einer verfeinerten Gesangslinie, obwohl etwas mehr Hingabe in der Szene „Lorsque le temps d’amour a fui“  zweifellos mehr Melancholie verleihen würde… Die Diktion ist zwar korrekt, könnte aber dennoch viel mehr Klarheit gewinnen.

DON QUICHOTTE - Szenephoto - Gaëlle Arquez (Dulcinée) @ Elena Bauer

Der kanadische Bariton Étienne Dupuis schlüpft mit Leichtigkeit in die Rolle des Sancho, was ideal zu seinen Fähigkeiten passt. Klares Timbre, perfekte Diktion, nüchterne Emotionen: Einfach makellos! Um diese drei Sänger dreht sich ein solides Team von Nebenrollen, wobei besonders der elegante Juan des australischen Tenor Nicolas Jones hervorsticht! Auch die anderen Interpreten lassen nichts zu wünschen übrig: Die französische Sopranistin Emy Gazeilles als Pedro, die französische Mezzo-Sopranistin Marine Chagnon in der Rolle des Garcias und last not least der französische Tenor Samy Camps als Rodriguez.

Was die Saiten betrifft, die der Chor der Opéra National de Paris im ersten Akt singt, sind sie ideal für die Vervielfachung von Verschiebungen, gefährlichen Attacken und vielen anderen rhythmischen Problemen! So viele Fallen, die von den Chören der Oper brillant umgangen wurden, sichtlich hervorragend vorbereitet von der chinesischen Chorleiterin Ching-Lien Wu.

Im Orchester-Graben gibt das Orchester unter der brillanten Leitung des französischen Dirigenten Patrick Fournier die sehr unterschiedlichen Atmosphären wie Jubel, Lyrik, Melancholie und Kontemplation am besten wieder… die gelinde gesagt: diese atypische Partitur ausmachen!

Aber was diese Neuproduktion der Opéra National de Paris absolut einzigartig macht, ist das bewegende Spektakel, das der italienische Regisseur Damiano Michieletto und seine Komplizen inszenierten: Der italienische Bühnenbildner Paolo Fantin mit seinem phantastischen Bühnenbild, der Italienische Kostümbildner Agostino Cavalca mit seinen eleganten Kostümen der 1960er Jahre und der italienische Lichtbildner Alessandro Carletti mit einfach unaussprechlichen wunderschönen rasanten Lichtbildern. Die Idee der Inszenierung ist einfach, aber äußerst stark: Don Quichotte leidet an einer alten Wunde, die nie verheilt ist. Er war unsterblich in die Sängerin Dulcinée verliebt und hielt einmal um ihre Hand an: Was sie jedoch ablehnte! Der von Schmerz fast betrunkene Don Quichotte, der zu Hause in der Gesellschaft seines treuen Sancho auf dem Boden liegt, hört aber nie auf zu sterben, während er diese schmerzhaften Erinnerungen immer wieder aufleben lässt. Durch den Missbrauch von Psychopharmaka, die mehr oder weniger alptraumhafte Halluzinationen hervorrufen, so tauchen buchstäblich die Geister seiner Vergangenheit aus den Wänden seiner Wohnung auf, er bewegt sich unter den hilflosen Blicken seines Begleiters langsam auf den unvermeidlichen Tod zu.

Auch wenn Puristen diese Lesart vielleicht wegen ihres verzweifelten Charakters kritisieren werden, die leichteren Dimensionen der Oper wurden erheblich reduziert, bietet diese Inszenierung absolut unvergessliche Szenen: Die Vision der Karussellpferde, die während der Romanze des Don Quichotte „Quand apparaissent les étoiles“ auftauchen, ist unendliche poetisch, genau wie das Paar, das langsam zur „unsichtbaren Musik“ tanzt, die den 4. Akt eröffnet. Bei den berühmten „Windmühlen“ handelt es sich um furchteinflößende Kreaturen, die aus der kranken Fantasie des Protagonisten entstanden sind. Sobald diese Erscheinungen verschwinden, bricht er buchstäblich zusammen, fast schon zerbrochen, als würde er sich plötzlich des Wahnsinns bewusst, der ihn bedroht. 

Eine Szene voller Emotion, genau wie die vor dem letzten Akt: Don Quichotte, der sich gerade an den Heiratsantrag erinnert hat, den Ducinée abgelehnt hat, bleibt in seinem Sessel liegen und kann seine Tränen nicht zurückhalten, während das Cello ihn erinnert, in einer aufdringlichen Weise, dass die „temps d‘amour“ unwiderruflich vergangen ist… Dieser herzzerreißende Moment wird den Zuschauer noch lange verfolgen. Michieletto signiert wahrscheinlich eine der intelligentesten, vollendesten und bewegendsten Inszenierung, die seit langem auf einer Opernbühne zu sehen waren. Das ist auf jeden Fall schon eine Referenz!  Wir aber schämen uns  nicht um einige vergossene Tränen. (PMP/19.05.2024)