Paris, Opéra national de Paris - Bastille, ROMÉO ET JULIETTE - Charles Gounod, IOCO Kritik, 21.06.2023

Paris, Opéra national de Paris - Bastille, ROMÉO ET JULIETTE - Charles Gounod, IOCO Kritik, 21.06.2023
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Opera National de Paris

Opéra Bastille, Paris © Uschi Reifenberg
Opéra Bastille, Paris © Uschi Reifenberg

Opera National de Paris

ROMÉO ET JULIETTE (1867) - Charles Gounod

Oper in fünf Akten, Libretto von Jules Barbier und Michel Carré nach dem gleichnamigen Drama von William Shakespeare

von Peter Michael Peters

  • TRADITIONEN, ZENSUR UND KÜHNHEIT…
  • Console-toi, pauvre âme,
  • Le rêve était trop beau!
  • L’amour, céleste flamme.
  • Survit même au tombeau !
  • Il soulève  la pierre
  • Et, des anges béni,
  • Comme un flot de lumière
  • Se perd dans l’infini.  (Auszug 5. Akt / Szene 22 - Roméo)

Ist Liebe das große Thema der Oper?

Liebe, die Leidenschaft der Seele im kartesischen Sinne des Wortes, war von Anfang an das Thema der Oper, wie z.B. der Orfeo (1607) von Claudio Monteverdi (1567-1643). Selten sind die lyrischen Werke, die nicht von Liebe sprechen. Im Frankreich des 19. Jahrhunderts zeichnete sich das Thema der Liebe sogar dadurch aus, dass es allen politischen und künstlerischen Umwälzungen standhielt, selbst in seinem Aktionsplan der sich stets an den gleichen Fäden orientierte. Roméo et Juliette weist somit alle Zutaten der typischsten Opernhandlung seines Jahrhunderts auf: Der Familienkonflikt mit Geheimhaltung, maskierter Identität und schwerwiegenden Tabubrüchen. Aus Liebe trotzen wir Allem! Allerdings wird die Liebe im französischen Stil noch lange erbaulich und sentimental sein, es ist kaum angebracht, ihre Geheimnisse zu beleuchten! In diesem Sinne handelt es sich zwar oft um einen Vorwand! Zu Beginn des 19. Jahrhunderts diente sie im Wesentlichen nur dazu, Tugenden zu zelebrieren: Die eheliche Treue oder auch zu Gott, das Wohlwollen gegenüber der Menschheit. Erst in den 1850er Jahren und dem Aufkommen der Gattung „lyrische Oper“ wagte man es, ihre Intimität in ihrer poetischen wie sinnlichen Dimension zu erforschen und schließlich die Vertreter der keuschen und idealistischen Liebe mit all ihren Stereotypen verschwinden zulassen. Charles Gounod (1808-1893) ist der erste Komponist, der diese Richtung der Sentiments  beschreitet! Bereits in Sapho (1851) und in Faust (1859) formt er den Gesang, um dem Gefühl mehr Erleichterung zu verleihen.

 ROMÉO AND JULIETTE - Interview mit Regisseur Thomas Jolly youtube Opéra national de Paris [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Aber es war mit Roméo et Juliette im Jahre 1867, dessen Triumph zeigte, wie sehr die Öffentlichkeit mit einer riesengroßen Begeisterung reagierte und es war klar, dass es alles übertraf, was man bis dahin gehört hatte. Somit ebnete er den Weg zu einem neuen Ausdruck: Der die Realitäten der Liebe noch viel umfassender widerspiegelte! Von nun an wird er von allen nachgeahmt und als Meister einer französischen Schule anerkannt, die diese grundlegenden Leidenschaften der Seele und ihre unaussprechlichen Freuden unbedingt erkennen will. Im Jahr 1900 schreit die junge Louise in der gleichnamigen Oper von Gustave Charpentier (1860-1956), vor ihren entsetzten Eltern derb ihre Wünsche von Liebe und freiem Leben aus. Das Publikum war schon lange bereit, der Komponist hatte auch schon sehr lange auf diesen Moment gewartet: Sein Werk hatte endlich die Genehmigung der Sittenkommission erhalten, um an der Opéra Comique Paris gespielt zu werden.

Stellt Roméo die Liebe wieder in den Mittelpunkt durch seine Absolutheit?

Die Opernhelden sind oft absolut, eher zu Opfern als zu Zugeständnissen bereit. Und die Librettisten Jules Barbier (1825-1901) und Michel Carré (1821-1872) pflegen wie immer die Handlung zugunsten des Liebes-Themas, somit an zweiter Stelle die Ursachen der Katastrophe stellen, die zum Selbstmord kaum verheirateter junger Liebender führt. Diese Aspekte sind nicht neu!

Julietta Statue in Verona © IOCO
Giulietta Statue in Verona © IOCO

Aber in Roméo et Juliette wurde die Liebe durch die Worte neu ausgerichtet, weil sie äußerst sorgfältig und absichtlich entwickelt wurden und sich auch von den poetischen Ideen inspirieren ließen, die William Shakespeares (1564-1615) Drama so originell macht: Die anmutigen Wortspiele der Galanterie, die Zuneigung des Petrarkismus, aber auch in einer ernsteren Form der philosophischen Befragung über den Namen und die durch die auferlegte Zugehörigkeit: Was braucht die Liebe? Man könnte sich diese Oper fast wie eine Sammlung von Gedichten, Oden und Balladen vorstellen, mit einigen Sonetten, wie sie von Shakespeares komponiert wurden. Nicht weniger als vier Duette (wenn man das Finale dazu zählt) offenbaren die ganze Komplexität dieser Seelen-Stimmungen, jede sehr spezifisch und natürlich auch in den großen Arien mit majestätischen und musikalischen Phrasen: Wie der Moment, in der Juliette die Identität von Roméo erfährt! Es ist beispiellos, dass dem Ausdruck von Gefühlen in der Melodie und im Orchester so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, in einer solchen gewaltigen Farbpalette in den Registern. Offensichtlich beschäftigte sich Gounod mit dem Thema äußerst stark von der musikalischen Seite!

Was die Absolutheit der Liebe in dieser Geschichte betrifft, so scheint es uns trotz allem interessant zu sein, ihr sozusagen den Absolutismus der Traditionen und die beunruhigende Inkonsistenz der Autoritäten entgegenzustellen: Die junge Herzen am Aufblühen hindert! Wir projizieren oft auf den romantischen Mythos von Roméo et Juliette phantasierte Vorstellungen wie „ewige Liebe“, „erhaben“, „Schicksal“ usw. Gounod, anständiger in den moralischen Sitten und auch viel religiöser als der englische Dramatiker, neigt sicherlich auch zu dieser Romantik und besonders im Finale seiner Oper: Der sterbende Roméo tröstet Juliette über den Schrecken ihres Schicksals, indem er ihr die Ewigkeit ihrer Liebe über das Grab hinaus verspricht.

Aber für Shakespeare wäre das Absolute eher das Recht auf Leben, auf die Erfahrung und die Emotionen einer Jugend, die durch die Absurdität eines ungereimten Verhaltens von Seiten der Autoritäten in einer völlig dysfunktionalen City massakriert und geopfert wird. Etwas davon bleibt in der Oper erhalten, weil man so ernste und immer noch aktuelle Fragen nicht loswerden kann.

Paris, Opéra national de Paris - Bastille / ROMÉO ET JULIETTE hier Szenenphoto © Vincent Pontet
Paris, Opéra national de Paris - Bastille / ROMÉO ET JULIETTE hier Szenenphoto © Vincent Pontet

Bieten die beiden Helden dank oder trotz Shakespeare neue Aspekte?

Shakespeare hat mit Juliette einen sehr großen Charakter geschaffen, der für uns einer Carmen (1875) von Georges Bizet (1838-1875) ebenbürtig ist, natürlich in einem ganz anderen Stimmregister. Sein Drama hätte Juliette heißen können, da es auch Hamlet (1875) gab! Doch der Mythos, der die beiden Helden im Bild ihres gemeinsamen Selbstmordes zusammenführt, lässt Juliette hinter dem romantischen Paar einfach verschwinden. Dies zeigt sich in der Behandlung der Charaktere von Gounod, wenig charakterisiert und mit einer konventionellen Sprache. Im Drama hingegen zeichnet sich Juliette durch eine auffallende Originalität aus: Es handelt sich zum Beispiel um eine echte Semiologie, sie hat eine Leidenschaft für die Sprache, alles was sie sagt, ist poetisiert und schwingt aus der Tiefe mit! Und trotz ihrer 13 Jahre hat sie ein außergewöhnliches Temperament: Sie lügt instinktiv, um sich selbst zu schützen, scheint die menschliche Natur und ihre Schwächen bereits gut zu kennen. Macht einem verblüfften und einwilligenden Roméo selbst einen Heiratsantrag und lässt sich in ihrer Hochzeitsnacht mehr als alles andere gefallen. Wir würden gerne sagen, dass Shakespeare seinen Charakter sehr mochte und dass er wie Gustave Flaubert (1821-1880) von seiner Emma Bovary (1856) vielleicht dachte: Juliette Capulet bin ich…!“ Vergessen wir außerdem nicht, dass Juliette im Theater der elisabethanischen Epoche immer von einem jungen Mann gespielt wurde. Vielleicht hat sich der große englische Dramatiker genau in diese Person hineinversetzt…?

Die Helden von Gounod durchlaufen den Filter von „Halb-Figuren“ und den Anstandsregeln der Zeit! Aber das macht sie nicht weniger zu sehr eigenwilligen Charakteren, die sie durch die plötzliche Leidenschaft in ihrer Kindheit entdecken: Sie werden über Nacht erwachsen! Auch sie leben hartnäckig ihre Hochzeitsnacht und zögern nicht, sie mit einer Bluthochzeit zu beenden. Sie sind daher gleichermaßen bewundernswert und erbärmlich!

Paris, Opéra national de Paris - Bastille / ROMÉO ET JULIETTE hier Roméo (Benjamin Bernheim), Elsa Dreisig (Juliette) © Vincent Pontet
Paris, Opéra national de Paris - Bastille / ROMÉO ET JULIETTE hier Roméo (Benjamin Bernheim), Elsa Dreisig (Juliette) © Vincent Pontet

Sind diese Titelrollen nicht schwer zu besetzen?

Möglicherweise besteht das Problem in ihrer extremen Jugend, die von älteren Sängern nur schwer glaubhaft gemacht werden kann, auch wenn Gounod im Gegensatz zu Shakespeare ihr Alter nicht angibt. Dann die technische Erfahrung bestimmter Arien, wie die des Zauber-Tranks, in der Juliette all ihre Angst darüber zum Ausdruck bringt, lebendig begraben zu werden. Die erste Darstellerin, die Sopranistin Caroline Miolan-Carvalho (1827-1895) hatte es schon vermieden, diese Arie zu singen. Sie amputierte gewissermaßen auch eine Arie in Mireille (1864), wo sie in der große Szene der Titelheldin in einer pathetische Atmosphäre der Überquerung der Crau besingt. So sagte Gounod, er habe seine Arbeit als „Musik-Zerleger“ gemacht! Schließlich erfordern die Duette zweifellos große Flexibilität, um sich von einem lyrischen Moment zum anderen so stark zu entwickeln. Das Madrigal zum Beispiel scheint uns schwer stilisiert zu sein: Wenn wir uns eine moderne Vertrautheit erlauben dürfen, handelt es sich hier einfach nur um eine elegante „Flirt-Szene“, eine liebevolle Parade charmanter Galanterien. Es ist wichtig, nicht romantisch zu sein, denn die beiden jungen Leute haben viel Spaß, aber auch nicht zu leichtfertig, da eine offensichtliche Verführung stattfindet. Für jeden Interpreten ist es eine große Herausforderung, für ihn persönlich die richtige emotionelle Übersetzung zu finden: Wofür ihm das Publikum natürlich stets dankbar ist!

In der Oper treten oft Kinder gegen ihre Eltern an: Wie klang das im 19. Jahrhundert?

Die Opéra Comique in Paris, wo Roméo et Juliette im Jahre 1873 wiederaufgeführt wurde, von der Ludovic Halévy (1834-1908), einer der Librettisten von Carmen, folgendes sagte, sie ist ein „Theater der Familien und ein Institut der Ehe-Stiftungen“. Wir befinden uns in einer Zeit, in der Ehen immer noch von den Eltern, im Wesentlichen vom Vater arrangiert werden. Da die Weitergabe des Erbes auf dem Spiel steht: Auch ein Detail auf das Shakespeare sehr viel Wert legt. Auch die Oper spiegelt diese gesellschaftlichen Praktiken und auch den Widerstand der Kinder wider. Der transgressive Plan ist dort ebenso obsessiv wie das Thema Ehe. Das eine geht nicht ohne das andere!

In Gounods Oper macht Roméo die Eltern zu den Schuldigen dieser beklagenswerten Katastrophe, doch am Ende bestraft sie kein Gesetz, keine offizielle Versöhnung würde sie daran hindern, noch einmal von vorn zu beginnen. In Shakespeares Drama hingegen wird den Vertretern der Autorität, die alle fehlbar sind, eine schwere tragische Lektion erteilt: Nicht nur den Eltern, sondern auch dem Duc von Verona und den Brüdern des Franziskaner-Ordens! In dieser Stadt, in der Spaltung herrscht, lügt jeder und verbirgt sich vor dem anderen, versteht nichts von den Worten und Taten anderer. Jeder spielt mit Geschwindigkeit, um in der Hektik seine Entscheidungen durchzusetzen. Gounod mildert diese Verantwortung, indem er sich dafür entscheidet, Gott die Erlösung der beiden Helden im Jenseits anzuvertrauen, ohne auf das Gesetz wie sein berühmtes Vorbild zurückzugreifen. Die Oper fordert zwar eine Weiterentwicklung des Ehe-Systems, vor allem aber lässt sie einen konservativen und patriarchalischen öffentlichen Traum mit einer romantischen Vision der Liebe im Tod entstehen.

Das Ende sollte uns abstoßen, aber wie Julia Kristeva (*1941) in einer schönen Idee andeutet, fühlt es sich so an, als ob  die Helden so wie ihre Liebe wahrscheinlich einen ewigen Schlaf schlafen werden…

Paris, Opéra national de Paris - Bastille / ROMÉO ET JULIETTE hier Szenenphoto © Vincent Pontet
Paris, Opéra national de Paris - Bastille / ROMÉO ET JULIETTE hier Szenenphoto © Vincent Pontet

Wie steht es mit der Moral in der Oper, die doch strengen Regeln unterliegt?

Die moralische Frage ist für dieses Werk besonders wichtig, beispielsweise bei der Behandlung der sexuellen Thematik. In Shakespeares Drama wird der Sex kaum zensiert und selbst in der Adelsschicht wird bereitwillig mit Frechheit und Brutalität über die Sexualität gesprochen. Roméo et Juliette umarmen und umarmen sich wieder und wieder im Austausch von feurigen Küssen, bekennen sich ebenso schnell zum Glauben als auch zur Liebe. Heiraten am nächsten Tag heimlich, so dass Roméo noch am selben Abend mit einem vom Kindermädchen bereitgestellten Seil zu Juliettes Zimmer hinaufgeht. Shakespeare spricht frei darüber, worum es geht!

Im 19. Jahrhundert war es in Frankreich unvorstellbar und die Librettos hatten eine einstudierte Parade: Wir benutzen die Ehe, um das Verlangen zu metaphorisieren und den sexuellen Akt anzudeuten, der in den stillen Liebes-Nischen sehr geheim gehalten bleibt. Doch Gounod, der zuvor Wert darauf gelegt hat, die beiden Helden auf der Bühne mit einer vollständigen Liturgie zu trauen! Und somit entwickelt sich in dieser Hochzeitsnacht, die das gesamte 1.Bild des 4.Akts einnimmt, eine Art hypokritische verheimlichte Sexual-Parade statt. Trotz aller passenden Klischees von einer vollzogenen Ehe greift der Komponist noch weiter als sein berühmtes Vorbild ein, indem er die beiden Verliebten sich plötzlich aus den Armen reißend, zum Thema eines großen Duetts: „… non ce n’est pas le jour“ werden lässt.

In einer Produktion von 2011 ließ Olivier Py (*1965) die zwei Charaktere im Ehebett singen, gekleidet in fleischfarbigen Strumpfhosen, die die völlige Nacktheit suggerieren sollten und in einer eindeutigen Haltung und nicht keusch, wie das Libretto empfiehlt. Wir können sicherlich denken, dass das szenische visuelle Andere über die Andeutung einer Arie hinausgeht, aber diese Szenografie sagte

eben deutlich: Was auch Roméo et Juliette ist, die groß Entdeckung der Liebe in ihrer sinnlichen Dimension! Für Eric Ruf (*1969), wenn man an seine meisterhafte Inszenierung des Dramas an der Comédie Française Paris im Jahre 2015 denkt, sind die beiden Helden wie sehr junge Leute, die vielleicht La nuit sexuelle (2007) von Pascal Quignard (*1948) gelesen haben. Ein sehr lustiger Kommentar und so gut gesehen, weil Shakespeare diese Lebenswut genauso amüsiert, wie er ihre gegenseitige Faszination zu einem kompromisslosen Radikalismus macht. Daher die Beziehung zwischen Tod und Sex in diesem Werk. Am Ende heiraten wir den Tod, wir schlafen mit dem Tod, wie der englische Dramatiker sagt.

Gounod und seine Librettisten sind nie so klar und auch sehr verlegen über dieses schwer fassbare Thema, schwächen sie die Art der Metaphern und Symbole ab wie z. B. die Phallus-Klinge: Die den tödlichen Schlag ausführt! Die Inszenierung von Bartlett Sher ( ) aus dem Jahr 2008 wagt den Sprung: Sa Juliette schiebt Roméo den Dolch in die Hände und fordert ihn auf, diese in ihren Körper zu stoßen. Auch hier überschreiten wir eine Schwelle… doch der Text kündigt von Anfang an diese verhängnisvolle Verbindung an, die die Oper musikalisch durch die Wiederaufnahme der Liebes-Melodie im entscheidenden Moment andeutet: „…non ce n’est pas le jour.“

Eine literarische Quelle bietet Schöpfern, die zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein arbeiten: Tausend Möglichkeiten!

Der riesengroße Erfolg von Roméo et Juliette führte zur Veröffentlichung zahlreichen Folge-Produkten, von denen die ersten als Musikstücke zu Hause oder im Salon gespielt werden sollten. Wie z. B. eine Suite von Walzern, die von Gounods Verleger herausgegeben und von Isaak Strauss (1808-1888) arrangiert und signiert wurden, dem Direktor der kaiserlichen Hofbälle!

Paris, Opéra national de Paris - Bastille / ROMÉO ET JULIETTE hier Szenenphoto © Vincent Pontet
Paris, Opéra national de Paris - Bastille / ROMÉO ET JULIETTE hier Szenenphoto © Vincent Pontet

ROMÉO UND JULIETTE -  Premiere 17. Juni 2023 - l’Opéra National de Paris / Salle Bastille

Roméo et Juliette:  Star-Cross’d Lovers oder Liebende unter einem schlechten Stern?

Der junge französische Regisseur Thomas Jolly, der sich durch Shakespeare einem breiteren Publikum bekannt machte, stützt sich bei einer öffentlichen Erklärung seines Inszenierungs-Prinzips auf seine großen Werk-Kenntnisse des englischen Dramatikers.

Derjenige, der den legendären Shakespeare-Barden seit seiner Arbeit an Henry VI. (1600) und Richard III. (1633) sah, von denen er sogar selbst die gesamte Aufführung in 24 Stunden auf der Bühne spielte und inszenierte und somit gewissermaßen zum Leitmotiv seiner Theater-Karriere machte, wird seine große Leistung wohl kaum vergessen. Aber auch schon im lyrischen Theater z. B. mit der Oper Macbeth Underworld (2019) von Pascal Dusapin (*1955), indem er bereits mit den außergewöhnlichen und großartigen Neon-Scheinwerfer arbeitete, die von dem französischen Lichtbildner Antoine Travert entwickelt wurden. Aber auch nicht zu vergessen die imponierenden Szenen mit einem maskierten Pest-Mediziner aus der Epoche des Mittelalters! Alles das wird in der neuen Inszenierung von Roméo et Juliette wiederholt und auch noch viel mehr vergrößert, denn auch Shakespeare  in seinem Drama weist indirekt auf eine Pest-Seuche an! Es handelt sich jedoch  in der Inszenierung von Jolly um ein Schlüssel-Element: da der Frére Laurent in einem Haus eingesperrt ist, in dem der Verdacht besteht, dass es von der Pest befallen ist. Somit kann er Roméo nicht warnen, dass Juliette nicht wirklich tot ist, was zu dem doppelt fatalen Missverständnis führt.

Hier öffnet sich also der Vorhang zu einer von der Pest heimgesuchten Welt, sofort erkennbar an diesen typischen Pest-Ärzten mit Vogel-Masken, die die Leichen besprengen, bevor sie auf Karren weggeschleppt werden. Dieses Konzept schwingt mit der Geschichte und verstärkt noch mehr die Bedrohung, die auf diesem Drama lastet, das somit zu einer klinischen Kamera geworden ist. Es schwingt umso mehr mit der sofort erkennbaren Ästhetik von Jolly mit: Einer schwarzen Welt, die von Licht mit Laserstrahlen durchzogen wird. Die den Raum wie mit schweren Behängen, Toboggans oder in Rauch gehüllte Blumenkronen nachzeichnen, zerschneiden, zerstückeln und alles sehr spürbar und greifbar nahe! Aber selbst festliche Luftschlangen, die wiederholt über die gesamte Fläche aufgeflogen werden, nahmen am Ende die Farbe von Blut an. Die Szenen verbinden das unheimliche abergläubige Mittelalter mit dem dekadenten monströsen Versteckspiel der großbürgerlichen hypokritischen Welt der letzten französischen Kaiserzeit. Das zeigt sich für den Zuschauer äußerst unangenehm aber auch sehr wahrheitsgemäß: Da schleichen durch die Szenen unbekannte und auch historisch sehr bedeutende Namen als Meuchelmörder und Sexualverbrecher über die Bühne: Alles maskiert für den nächsten Maskenball… für den nächsten krankhaften Mord… für einen anderen stinkenden Pestkranken? Die Zeit vereinigt und vermählt sich zwischen der Pest und dem ungesunden krankhaften anonymen Ballbesuch des letzten französischen Kaisers über die letzten schrecklichen Meldungen der vielen Toten in der Pandemie-Zeit 2021/22 & Co…

Und diese von einer Pandemie eingegrenzte Welt ist hier die Oper… und zwar genau die Opéra National de Paris: Die gesamte Inszenierung basiert auf der berühmten Treppe des Palais Garnier und wird daher hier auf der Bühne der Opéra Bastille naturgetreu reproduziert. Einzigartiges Element dieser Szenografie von dem französischen Bühnenbildner Bruno de Lavenère, aber rotierend um sich selbst um verschiedene Ansichten und Räume zu bieten, nimmt es die gesamte Bühne ein und beherbergt alle Episoden der Opern-Geschichte: Natürlich auch die Feste, hier könnte man denken des  sich die Capulets auf das Palais Garnier beschränkt haben, um dort ihre heimlichen verbotenen Abende in Zeiten einer Pandemie zu organisieren. Aber die Treppe verfügt sogar über einen symbolischen Altar, hinauf für die erzwungene Hochzeit von Juliette mit Pâris, hinunter zur Hochzeit von Roméo et Juliette: Unter der Treppe tauschen sie ihre Gelübde in einem voller Blumen beladenen Boot aus. Hier wird auch in einer späteren Szene der vorgetäuschte fatale Tod von Juliette gespielt! Diese Kapelle verfügt über ein Gerüst, das die Treppe mit Neonröhren-Balken trägt, eine Signatur, die ebenfalls sehr an Jolly erinnert, aber auch an die zeitgenössische Installation von Claude Lévèque (*1953)  im Palais Garnier und auch in der Opéra Bastille erinnert, während das Boot vielleicht eine Anspielung auf den unterirdischen See im Palais Garnier ist.

Es ist auch und vor allem wie dieser Vorschlag, ein Symbol das auf einem Schlüssel-Element des Shakespeare-Theaters basiert: dem Oxymoron! Dieses Boot nimmt die Liebenden mit auf den Fluss der Liebe und des Todes, wie diese Geschichte der reinen Leidenschaften zwischen zwei verliebten Wesen erzählt, die durch den Hass zweier Familien… ihrer Familien getrennt sind. Allgegenwärtig in der Geschichte und im Text, dem von Shakespeare sowie auch dem Libretto von Barbier und Carré, das insbesondere in der „Klarheit des Begräbnisses“ gipfelt: Komponiert das Oxymoron die gesamte Inszenierung, aufgebaut auf seinen Lichtern, die die Treppe vom Palais Garnier im Gegenlicht festlich erhellen. Sowie auch die Ballett-Szenen der afro-südamerikanischen Choreografin Josépha Madoki, die gewissermaßen das Aussehen von makabren Mausoleums-Tänzen mit bleichen wilden Horden von Kadavern und sie über die Bühne treiben lässt. Die Tänzer in neugotischen Outfits inspiriert  von der heutigen Mode junger Leute entworfen von der französischen Kostümbildnerin Sylvette Dequest, aber Seite an Seite mit Harlekin-Masken in Rot und Weiß, beleben und teilen diese Bühne zwischen klassischem Ballett mit Pirouetten und Entrechats, aber auch verrückte straßen-gewohnte Break-Dance-Battles.

Der französische Tenor Benjamin Bernheim lebt seine Rolle und seinen Roméo  voll und ganz aus, er verleiht  jeder Geste und jedem Ton Intensität und Emotion. Jede Registrierung wird überwacht und bereitgestellt. Seine sonnige Stimme strahlt intensiv über den gesamten Tonumfang und meistert selbst die kleinsten Tonlagen wie auch einen eventuellen eklatanten Diskant, den er in der ganzen Intensität seines Lyrismus einzusetzen weiß. Oder er hebt auch behutsam den Schleier seiner Frau hoch, um sie zu küssen oder auch den Saum ihres Kleides, während er ihn trägt, um die Schwelle ihres Ehehauses zu überschreiten: Das für sie Beide die Schwelle des Todes sein wird! Der Gesang ist projiziert, dynamisch und gleichbleibend intensiv, desgleichen sonor wie die Akustik der Bühnen-Installationen: Aber wirkt nie angespannt!

Auch für jede ihrer Arien sehr applaudiert und auch hochgelobt, verkörpert und singt die französisch-dänische Sopranistin Elsa Dreisig eine Juliette in einem durchflutenden und tragendem Licht aus vielen dunklen tragischen Leidenschaften. Das Paar bildet ein ebenso komplementäres, aber ebenso auch widersprüchliches Duo, angefangen bei ihren extremen dekadenten Kostümen: Schwarz für Roméo, Weiß für Juliette.  Aber so stark mit Glitzer und Pailletten besetzt wie übrigens alle Kostüme, um noch mehr das verspiegelte und auch gewissermaßen das eigenartige sehr skurrile und krankhafte Universum von Jolly darzustellen. Dass so alle Darsteller besser in diesem äußerst mysteriösen Laser-Rampenlicht noch besser zur Geltung kommen! Als Reaktion auf die Linien des Tenors gewinnen die Vokalisierungen der Sopranistin an Beweglichkeit, behalten aber ihre fleischige und robuste Verankerung, ebenso wie die Rundheit der Artikulation erhalten bleibt. Die auch die Wärme des Mediums entfaltet, wiederum ein durchfluten aus dunklen Farben und Laserstrahlen in Richtung der Höhen, die diesem ästhetischen Universum entsprechen.

Die Akustik-Kapelle unter der Treppe, in der der französische Bass Jean Teitgen als Frére Laurent seine Stimme noch gebeugter und summender macht als sonst, wobei seine formale Phrasierung voll zum Charakter passt, während er mit deutlichen Akzenten voranschreitet, aber jedoch fehlt  seinem Bass am Ende der Abruf einiger Melodien-Sätze. Der Vater Capulet muss seinerseits den ganzen Abend über mehrere düstere und atemlose Durchflutungen durchleben. Von dem Fest bis zur Trauer, aber auch durch grobe Gewalt gegen seine Tochter, deren Heirat er hier mit einer knallharten Ohrfeige erzwingt. Die Momente der Offenheit bei Jolly, in denen die Liebenden sich buchstäblich gegenseitig an sich schmeißen und sich mit vielen überaus heißen und schmachtenden Küssen befriedigen: Dazu im Handumdrehen der Gegensatz mit einer väterlicher Grausamkeit ohne Worte! Der französische Bass Laurent Naouri verdichtet seine Stimme mit tieferen Tönen, um einen mehr unangenehmeren Charakter zu erhalten und zu interpretieren. Gleichzeitig versucht er die Fülle der Artikulation beizubehalten! Die tonischen Akzente des festlichen Beginns nehmen den Phrasen die klangvolle Substanz, die sich in den langsameren und zusammenhängenden Passagen wiederfindet.

Der junge englische Bariton Huw Montague Rendall spielt und singt einen Mercutio der Extra-Klasse und macht aus der Rolle eine große „Nummer“. Als Freund und Vertrauter von Roméo erlaubt er sich ohne Hemmungen über die verliebten Launen seines Freundes sich lustig zu machen, aber er stellt sich auch ohne Umschweife in dessen Dienst. Auch stimmlich verbindet er eine wache Dynamik mit einer sicheren lyrischen Basis. Seine französische Diktion ist umwerfend! Wir sind sehr sicher, das wir noch vieles von diesem talentierten Sänger erwarten können.

Der junge Stéphano ist hier als die rebellische Jugend präsentiert, gewissermaßen wie ein tapferer Pariser Straßenjunge, provokant und schockant für den alten Capulet. Die kleine sehr zierliche französisch-italienische Mezzo-Sopranistin Lea Desandre fügt die Beweglichkeit ihrer schillernden, verzierten, vibrierenden Stimme hinzu, aber mit einer im Medium gemessenen Lautstärke: Zusätzlich auch mit einer bewusst spöttischen Bühnen-Investition! Sie handhabt zwei Poirot-Stangen mit großer Gewandtheit, indem sie sie dazu bringt, sich gegenseitig zu küssen, um sich über die Liebenden lustig zu machen. Oder sie setzt sie als Zielwaffe ein und dass entschieden besser als die Darsteller, die mit ihren Dolchen im Duell umgehen. All das mit Gesten, die sicherlich sehr investiert sind, aber vielleicht doch ein wenig zu hastig und eilig sind!

Die französische Mezzo-Sopranistin Sylvie Brunet-Grupposo treibt den Charakter von Gertrude mit vulgären volkstümlichen, heiseren und gerollten Akzentuierungen auf eine Art billige Opéra Bouffa hin, spiegelt aber doch auch zeitweise ihre ehemalige klangvolle Basis wieder und entfaltet ihre warme vibrierende dunkle Stimme.

Der französische Bass Jérôme Boutillier wird als Duc de Vérone besonders bemerkt, da er in einem knallroten Anzug hereinkommt, gerade in dem Moment, in dem die Bühne über die Trauer um Mercutio und Tybalt völlig schwarz ist. Er wird jedoch mehr durch die Autorität seines Eingreifens wahrgenommen, das die beiden zur verfeindeten Familien zur Vernunft aufruft. Er bekräftigt seinen Satz mit einer intensiven und vibrierenden Stimme, die von Autorität und Artikulation genährt ist.

Wie üblich vervollständigen aktuelle oder neue Sänger der Académie de l’Opéra National de Paris oder auch künftige Mitglieder der neu gegründeten Haustruppe die Besetzung. Der noch sehr junge französische Tenor Thomas Ricart nutzt seine kleine Rolle als Benvolio voll aus und lässt sie auch im Ensemble mit seinen besonderen Nuancen und Materialien in der Stimme gut hören. Mit einem wunderbaren Licht im Timbre, dass an das von Roméo auf derselben Bühne erinnert.

Der polnische Tenor Maciej Kwasnikowski bietet Tybalt seine vibrierenden Höhen von der obersten Stufe der großen Treppe aus umso besser an und entfaltet mit seiner Phrasierung die Platzierung seines Mittelton-Bereichs auf seiner Intensität, die mit seiner Wut plötzlich ansteigt – und nicht wieder abfällt – sobald er Roméo erkennt, der Feind seiner Familie, der es wagt seine Cousine Juliette zu begehren. Juliette ist an Pâris versprochen, der mit einer vollen offenen Stimme von dem mexikanischen Bariton Sergio Villegas Galvain interpretiert.

Der zypriotische Bariton Yiorgo Ioannou verkörpert  Grégorio, der Kammerdiener der Capulet, er treibt die finstere Haltung seiner Figur durch ruckartige Ketten-Bewegungen voran, die seine dunkle und hämmernde Stimme beeinflussen und es zeigt dennoch sein klangvolles Gesangsmaterial mit einem großem Potenzial.

Der italienische Maestro Carlo Rizzi und  l’Orchestre de l’Opéra National de Paris zeigen ebenfalls die ganze Kraft der schwebenden und schweren Musik-Interwalle, die aber durch die Entfaltung den durch den intrinsischen Kontrast des Reichtums der Partitur genährt werden. Die Energie verbindet sich mit der der Zartheit, die Dichte der Akkorde mit der Lyrik der Melodien und erinnert an die französisch-italienischen Wurzeln dieses Werks und dieser Kunst: Ein Eindruck von der Universalität dieser Geschichte!

Der von der chinesischen Chorleiterin Ching-Lien Wu vorbereitete Choeurs de l’Opéra National de Paris wird von Beginn an des Werks eindeutig in einem Ton und Material investiert, um im Verlauf seiner Interpretationen zu einem Resonanz-Boden für Schmerz und Freude der unglücklichen Liebhaber.

Die Nebenrollen werden wie immer  mit mäßigem Applaus bedacht! Das Publikum wartet nur darauf, seine Bravo…, Brava… und Bravi… zu starten gegenüber den unsterblichen Liebhabern Roméo und Juliette, eventuelle dem Chor, dem Orchester und seinen Leitern sowie dem Leistungsteam mit dem Regisseur.

Die wirklich sehr sehenswerte Produktion von Roméo et Juliette wird bis zum 9. Juli 2023 gegeben. Reservierung unter: operadeparis.fr, Tel.  08 92 89 90 9 oder siehe der folgende LINK!  (PMP/20.06.2023)

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