Paris, Opéra national de Paris - Bastille, LA BOHÈME - Giacomo Puccini, IOCO Kritik, 16.05.2023
LA BOHÈME (1896) - Giacomo Puccini
Oper in vier Akten mit einem Libretto von Giuseppe Giacoso und Luigi Illica nach Scénes de la vie de Bohème von Henry Murger
von Peter Michael Peters
-
- DIE JUGEND HAT NUR EINE ZEIT…
- Ich bin nicht geschaffen
- für heroische Gesten.
- Ich liebe die Seelen,
- die wir fühlen,
- aus Hoffnung
- und Illusion bestehen,
- die blitzende Freude
- und tränende Wehmut empfinden.
- Ich liebe die kleinen Dinge,
- und ich kann und will nur die Musik
- der kleinen Dinge machen,
- wenn sie wahr, leidenschaftlich
- und menschlich sind
- und zu Herzen gehen. (Giacomo Puccini)
Der Begriff „Bohème“…
Seit dem 15. Jahrhundert nannte man in Frankreich die über Böhmen eingewanderten Zigeuner, die ihren Lebensunterhalt vorwiegend als fahrende Musikanten und Gaukler verdienten: Bohémiens… Etwa zweihundert Jahre später bezeichnete der Volksmund, einschließlich sogar die Polizeisprache, auch andere Jahrmarkts- und Wirtshauskünstler, kurz: Alle nicht sesshaften, mehr oder weniger verwahrlosten, scheinbar unbekümmert und ungebunden lebenden Menschen mit dieser Vokabel. Sie galten der sich etablierenden bürgerlichen Gesellschaft als ein Inbegriff der Unzuverlässigkeit und Liederlichkeit. Vie de Bohème (Bohème-Leben) wurde zum Synonym für verlotterte Sitte und Moral!
Seit der Thronbesteigung von König Louis-Philippe I. (1773-1850) im Jahre 1830 hatte die Bourgeoisie die Macht des Staates fest in ihrer Hand. Die wirtschaftliche Entwicklung mehrte den Wohlstand der Oberschichten und das öffentliche Leben in Paris war nie vorher so prächtig und luxuriös gewesen. Der kulturelle Aufschwung lockte junge Künstler verschiedener Herkunft und Begabung in die Metropole, weil sie hier einen fruchtbaren Boden für ihr Schaffen finden zu können glaubten. Doch die neuen Mäzene förderten nur solche Werke, die sie als Symbole ihres Status oder als gewinnbringende Waren zu verwenden wussten. Die wachsende Kommerzialisierung der Kunst wie des Lebens isolierte alle jene Künstler, die sich nicht dem offiziellen Geschmack unterwerfen wollten und deshalb nicht von ihrer Arbeit leben konnten. Diese aber verachteten die Verhaltensnormen und Lebensgrundsätze der Bourgeoisie, verlachten deren moralische Prinzipien und betonten damit die eigene Ungebundenheit. Die neue Bohème mit ihrem auf solche Weise zur Schau gestellten Protest gegen die Lebensauffassungen des Bürgertums führte jedoch zu keinem Ziel, sondern erschöpfte sich in bloßer Missachtung der bestehenden Verhältnisse.
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Henry Murgers Pariser Bohème…
Henry Murger (1822-1861) hatte bereits ein wechselvolles von Hunger und Krankheit erfülltes Dasein durchlebt, bevor ihm die Zeitung Le Corsaire Satan 1847/1849 ihre Spalten für eine Serie jener autobiographisch getönten Skizzen aus dem Pariser Künstlerleben öffnete, die 1851 - unter dem Titel Scènes de la vie de Bohème zusammengefasst – als Buch erschien. Dessen ungewöhnlicher Erfolg blieb nicht auf Frankreich beschränkt: Eine deutsche Übersetzung wurde bereits im gleichen Jahr gedruckt!
In einem Vorwort ruft Murger für sich und seine literarischen Figuren eine Tradition auf, die großartiger nicht erdacht werden kann: „Die Bohème, um die es sich in diesem Buche handelt, ist kein Geschlecht, das erst in unseren Tagen das Licht der Welt erblickt hat; sie hat zu allen Zeiten und allerorts bestanden und sie kann Anspruch erheben auf erlauchte Abkunft. Schon im griechischen Altertum , ohne in dieser Genealogie höher hinaufzusteigen, gab es einen berühmten Bohémien, der vom einen Tag in den andern aufs Geratewohl dahinlebte, der die Gaue des blühenden Ionien durchwanderte, das Brot des Bettlers aß und abends halt machte, um die harmonische Leier, die Helenas Liebesabenteuer und Trojas Fall besungen hatte, am gastlichen Herde aufzuhängen. Und wenn wir die Leiter der Zeitalter heruntersteigen, so findet die heutige Bohème ihre Ahnen in allen künstlerischen und literarischen Epochen.“
Mit kühnen Sprüngen durch die Geschichte eilend, zählt Murger neben Homer (VIII. Jahrhundert v. J.C.) die ritterlichen Troubadours ebenso zu diesen Ahnen wie François Villon (1431-1463), den Liebhaber der „Schönen, die da Helmschmiedin“ war. Und damit der Glanz der Tradition noch heller strahle, versammelt er auch Jean-Baptiste Molière (1622-1773), William Shakespeare (1564-1616), Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Jean Le Rond d’Alembert (1717-1783) zu ihnen. Um endlich niemanden im verwegen entworfenen Stammbaum zu vergessen, erklärt Murger: „Die meisten Zeitgenossen, die mit den schönsten Wappenschildern der Kunst prunken, sind Bohémiens gewesen. In ihrer geruhigen und mit Glücksgütern gesegneten Berühmtheiten erinnern sie sich oft und vielleicht mit heimlichen Bedauern der Zeit, da sie noch den grünen Hügel der Jugend erklommen und unter der Sonne ihrer zwanzig Lenze keines Vermögens teilhaftig waren als nur des Mutes: Jener Tugend der Jungen und der Hoffnung, welche die Million der Armen ist.“
Nun aber treibt ihn ein romantischer Patriotismus oder der Stolz des inzwischen selbst arrivierten Künstlers? Und der Autor schränkt plötzlich ein: „Wir fügen hinzu, dass die Bohème nur in Paris existiert und nur dort möglich ist!“
Nach Murger umfasst diese Pariser Bohème „wie jeder soziale Stand verschiedenen Stufenfolgen, mehrere Arten, von denen jede wiederum in Unterabteilungen zerfällt und die nach Klassen zu ordnen nicht nutzlos ist!“ Die „unbekannte Bohème“ zählt die meisten Angehörigen: „Sie bilden ein Geschlecht hartnäckiger Träumer, für welche Kunst ein Glaube geblieben ist, statt ein Beruf zu werden. Ein Geschlecht begeisterter, überzeugter Leute, die der bloße Anblick eines Meisterwerkes fiebern lässt und deren getreues Herz allem Schönen gegenüber laut zu pochen beginnt, ohne dass sie nach dem Namen des Meisters und der Schule fragen…“.
„Das ist, wie man sieht, der Stoizismus der Lächerlichkeit! Nun, wir wiederholen es noch einmal, damit man uns glaube: Im Schosse der unbekannten Bohème existieren viele Wesen dieser Art, deren Elend teilnehmendes Mitleid erweckt, das indessen der gesunde Menschenverstand uns zu unterdrücken zwingt. Denn wenn sie ruhig darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir im neunzehnten Jahrhundert leben, dass der Taler der Kaiser der Menschheit ist und dass die Stiefel nicht fertig geputzt vom Himmel fallen, so wenden sie uns den Rücken und nennen uns Bourgeois.“
Die im Grundsatz konformistische Haltung Murgers gegenüber der bürgerlichen Ordnung, die das soziale Elend der von ihm geschilderten Bohémiens hervorbrachte, findet ihr Gegenstück darin, dass das Bohème-Leben einen unwiderstehlichen exotischen Reiz auf manchen wohlsituierten Bürger ausübte „als ein Dasein voller Verlockungen: Nicht jeden Tag zu Mittag essen, unterm schönen Sternenhimmel bei den Tränen regnerischer Nächte zu schlafen und im Dezember Nanking-Anzüge zu tragen. Das erscheint ihnen als das Paradies irdischer Glückseligkeit und um hineinzukommen, verlassen sie den Herd der Familie oder ein Studium: Das sie zu sicherer Stellung geführt haben würde“.
Endlich wird uns die „echte Bohème“ vorgestellt: „Die ihr angehören, sind die wahrhaft Berufenen der Kunst und sie haben Aussicht, auch ihre Auserwählten zu werden. Diese Bohème starrt von Gefahren so gut wie die anderen, denn zu beiden Seiten begrenzen sie zwei Abgründe: Das Elend und der Zweifel. Aber zwischen diesen beiden Abgründen schlängelt sich doch wenigstens ein Weg, der zum Ziel führt, das die Bohémiens längst mit dem Blick zu erfassen vermögen, ehe sie es mit Händen greifen können.“
„Es ist die offizielle Bohème: So benannt, weil alle, die ihr angehören, ihr Dasein öffentlich konstatiert und ihre Anwesenheit im Leben anders als durch Eintragung ins amtliche Register kundgetan haben und schließlich, um ein Wort ihrer Sprache zu gebrauchen, weil ihre Namen auf dem Anschlagzettel stehn, weil sie auf dem literarischen und künstlerischen Markt bekannt sind und weil die Werke, die ihre Signatur tragen, dort einen Kurs haben, wenn auch vorerst noch zu mäßigen Preisen“.
„Um ihr völlig klar umrissenes Ziel zu erreichen, sind ihnen alle Wege recht… Wenn nötig, wissen sie mit der ganzen Tugend eines Anachoreten Enthaltsamkeit zu üben, aber fällt ihnen ein wenig Geld in die Hände, so sieht man sie alsbald die kostspieligsten Launen reiten. Sie lieben dann die Schönsten und Jüngsten, trinken vom Besten und Ältesten und finden nie genug Fenster, um ihr Geld hinauszuwerfen. Wenn dann ihr letzter Heller tot und begraben ist, beginnen sie wiederum am Mittagstisch des Zufalls zu speisen, wo immer er für sie gedeckt ist. Und mit einer Meute von Listen wildern sie in allen Gewerben, die irgendwie mit der Kunst verwandt sind und jagen vom Morgen bis zum Abend das wilde Tier: genannt Fünffrankstück!
Bohème in Deutschland…
Aus der Perspektive der achtziger Jahre wirkt die Zeit nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, die man gemeinhin Gründerzeit bezeichnet, wie eine kaum zu überbietende Manifestation einer mit feudalen Elementen durchsetzten bürgerlichen Gesellschaftsschicht, die einem schrankenlosen Machtrausch und überschwänglichen Prunkbedürfnis verfallen war. Wohin man blickte, sah man Renaissanceismus und Klassizismus, anekdotisch überhöhte Genremalerei und Salonstaffage, als sei die gesamte Natur mit der Tünche einer alles verbrämenden Ideologie übermalt. Überall waren festliche Kulissen zu sehen, aber keine Wahrheit, keine Realität. Bei einer solchen Stagnation musste es notwendig einem dialektischen Umschlag kommen, da sich selbst die wirklich großen Züge der Gründerzeit immer mehr ins Verlogene und Fassadenhafte verwandelten…
Das Motto der naturalistischen Bohémiens ist… nicht der Ruf „Proletarier aller Länder vereinigt euch“, sondern jenes berühmte „épater la bourgeoisie“, das der Welt der Besitzenden zwar einen gewissen Schock versetzte, sie jedoch nicht ernsthaft gefährdete, da die kämpferische Einstellung dieser „Klassen-Krieger“ auf einer rein persönlichen Eitelkeit oder Renommiersucht beruhte. Die weltanschaulichen und politischen Äußerungen dieser Literatengruppe sind oft so emphatisch-genial und doch so unklar, dass sie manchmal fas einen pubertären Charakter haben. So trug man sich zwar in betonter Schludrigkeit um seine Sympathie für den vierten Stand herausstreichen, vergaß aber nicht, sich eine attraktive Künstler-Mähne stehen zu lassen oder sich eine auffallende Halsschleife umzubinden, um sich auch äußerlich als ein Outsider zu dokumentieren…
Der Haupt-Typ eines solchen… Kaffeehausliteraten ist Hermann Conradis (1862-1890) Adam Mensch (1887), den der Autor in einem Exkurs selbst kommentiert: „Unberechenbar in seinen Stimmungen, in seinen Neigungen und Launen, zersplittert in seinen Kräften, unbeständig und flackernd in erotischen Fragen, in der Leidenschaft satt und unbefriedigt zugleich. Er ist müde, todmüde und begeisterungsfähig wie ein Jüngling , der soeben mannbar geworden ist, unklar und wechselnd in seinen Bestrebungen, radikal in seinen Anschauungen und wieder über alles borniert, einseitig, intolerant, besonders hinsichtlich mancher gesellschaftlichen Formen und Gewohnheiten: Auf sich neugierig, über sich erstaunt und seiner selbst überdrüssig!“ Diese Charakteristik könnte man noch um den Satz verlängern, den Johannes Schlaf (1862-1941) diesem Buch widmete: „Und dieser allerdings ungewöhnliche Mensch faulenzt nun ziel- und planlos seine Tage und Nächte in Cafés, raucht Virginia-Zigaretten, philosophiert und trinkt Absinth“.
Weniger stimmungsgebunden, aber ein „genialerer Bohémien“ ist Otto Julius Bierbaums (1865-1910) Stilpe (1897). Unter der Devise „Nicht arbeiten, aber angenehm verbummeln“ wird hier wiederum der Lebenslauf eines Kaffeehaus-Literaten gegeben: Angefangen mit den erotischen Erfahrungen der Jugend, dem ersten Bordell-Besuch, über die studentischen Saufgelage und Orgien, die literarischen Versuche bis hin zum Ekel am Leben überhaupt, wobei der Alkohol den Eros noch überdauert. Der Führer zu diesem Lebensstil, diesem hemmungslosen Sich-Ausleben ist… Murgers Bohème, die Stilpe wie eine moderne Bibel verehrt. Mamsell Musette ist für ihn „die famoseste Mädchenfigur in der Weltliteratur“ und der Musettismus die „einzige und eigentliche Künstlerreligion“ auf der Welt. Zelebriert wird diese Religion in einem gegründeten „Literarischen Bordell“, einem Tingeltangel, wo man sich zum Ziel gesetzt hat, „den Übermenschen auf dem Brettl“ zu gebären, das „Unanständige zum einzig Anständigen“ zu krönen und wo die Chansonette als neue „Neuberin, als die moderne Muse“ auftritt. Aber selbst das Theater im Bordell mit seinen Logen, die in Wirklichkeit Liebeskojen sind, kann einen Bohémien wie Stilpe nichts befriedigen, da er hier nicht die Hauptfigur „mimt“, sondern zu einem Verwaltungsdirektor herabgewürdigt wird. Er geht zu einem zweitrangigen Kabarett, spielt dort auf offener Bühne seinen Lebensüberdruss und erhängt sich Abend für Abend unter rasenden Beifall des Publikums, bis er sich vor den verdutzten Zuschauern auf dieselbe weise aus dem Leben entfernt. Als Grund seiner Leiden hatte er vorher noch vor sich hin gebrummelt: „Es gibt kein Getränk mehr, das mich umbringen könnte, drum muss ick mir selber umbringen.“
Das führt in seinem Zynismus natürlich weit über Murgers gemütvoll-melancholischen Bohème-Welt hinaus. Mimi und Musette, Marcel und Rodolphe sind zwar leichtsinnige Geschöpfe, aber im Grunde doch ein harmloses Künstlervölckchen, das sich amüsieren will, das sich wie richtige Liebesleute streitet und wieder versöhnt und in einer Flasche Champagner die Bekrönung seines Lebens erblickt. Gegen diese Idyllik wirkt Bierbaums Stilpe wie ein hoffnungsloses Versacken in Erotik und Suff, ein Hinabtauchen in Bereiche, wo alle gemüthaften Bindungen zu einer bloßen Farce werden und nur noch der bacchische Priapus regiert.
Studenten-Bohème in Mailand…
Das Leben der Musikstudenten damals in Mailand war kaum anders als anderswo und zu allen Zeiten. Es ging recht bescheiden zu, wenn man von den leiblichen Genüssen des Tages spricht und ebenso unbescheiden in Dingen persönlicher Freiheit. So lebte Giacomo Puccini (1858-1924) schlecht und recht wie seine Kameraden auf dem Montmartre in Paris oder im Münchener Schwabing, hungernd bisweilen, öfter noch frierend, Nächte über den Partituren sitzend oder auch verbummelnd. Und da ihnen die Zimmervermieterin verboten hatte, auf der Stube zu kochen – sie wohnten ihrer Drei in einem armseligen Gemach – da donnerte Puccini wie toll auf dem Klavier, indessen das siedende Öl in der Pfanne prasselte, um sein Schmoren zu übertönen. Und hatten sie einmal ein paar Centesimo in der Tasche, dann saßen sie stundenlang im Kaffeehaus, noch lieber aber schlenderte Puccini in der hohen Passage auf und ab, wo sich die elegante Welt Mailands, nicht zuletzt alles, was mit der Kunst irgendwie zu tun hatte, ein Stelldichein gab. Hier bestaunten die Anhänger den Heldentenor, hier lauerte eifersüchtig der Nebenbuhler, hier tobten die Leidenschaften, hier war der Mittelpunkt der Stadt. Und ob der junge Musikant auch in seinem flatternden Fähnchen abstach gegen die in den pelzverbrämten Mänteln, hier war er zu Hause! Wenn er dann voll von Eindrücken, erst in der Oper, dann in der berühmten Galeria, in sein Stübchen zurückkam, dann hockte er stundenlang vor dem Flügel, schrieb und komponierte.
Stets in Geldnöten, ausgelassen bis zum Schrecken der Bürger, voll kecker Einfälle, immer zu neuen lustigen waghalsigen Späßen und Streichen aufgelegt, vielfältig in Liebeshändel verwickelt, hungernd und frierend, so verbrachte Puccini die ersten Jahre seines Mailänder Aufenthaltes.
La Bohème - mit Ailyn Pérez & Joshua Guerrero youtube Opéra national de Paris [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Der „Club La Bohème“…
Die Erfolge seiner 1893 uraufgeführten Manon Lescaut in der Alten und Neuen Welt rückten Puccini rasch in die erste Reihe der Opernkomponisten seiner Zeit. Nun endlich verfügte er auch über eine finanzielle Basis, die ihm erlaubte, unabhängig zu leben und zu arbeiten. Er erfüllte sich einen langen gehegten Wunsch, als er sich in Torre del Largo, einem Dorf in der Nähe seines Geburtsorts Lucca, ein Haus kaufte. Obwohl er zivilisatorischen Luxus durchaus zugetan war und sich gern weltmännisch urban gab, war ihm das Leben auf dem Lande und in der Natur ein tiefes Bedürfnis und stimulierte sein Schaffen. Alle seine Opern seit La Boheme – ausgenommen Turandot (1926) - wurden in Torre del Largo konzipiert. Bald sammelte sich hier um Puccini ein kleiner Kreis von Künstlern, die wie er die Unabhängigkeit liebten. Oft trafen sie sich in einer von einem Schuster erworbenen Schenke, die sie zu ihrem Klub erkoren hatten. Wegen des Treibens seiner Mitglieder und im Hinblick auf die neue Oper, an der Puccini arbeitete, nannten sie ihn Club La Bohème.
Zur Entstehung der Oper…
La Bohème auf Grund ihrer literarischen Abstammung lediglich als eine Reihung von Genrebildern aus dem Pariser Künstlermilieu um die Mitte des 19. Jahrhunderts anzusehen, hieße die Leistung des Komponisten und seiner Textdichter Giuseppe Giacosa (1847-1906) und Luigi Illica (1857-1919) bei der Erarbeitung des Librettos gründlich zu verkennen.
Dass Puccini die Bohème-Atmosphäre in gewisser Weise vertraut war, hat wohl kaum mehr als anekdotische Bedeutung. Das bei Murger geschilderte Verhältnis des Künstlers zur bürgerlichen Gesellschaft ging ihn schon mehr an, aber fesseln ließ er sich sofort von Mimi, die bereits in einer von Jules Barbier (1825-1901) stammenden Dramatisierung des Buches von Murger mit Francine verschmolzen worden war. Mimi galt von vornherein als die entscheidende Figur der künftigen Oper!
Die Arbeit am Libretto war langwierig und schwierig, obwohl neben Murgers Buch auch die Dramatisierung mit herangezogen wurde. Der mit unerschöpflicher Phantasie begabte, impulsive Illica und der erfahrene und besonnene Giacosa ergänzten einander in günstiger Weise. Puccini aber war außerordentlich schwer zufriedenzustellen. Der Briefwechsel zwischen den Dichtern, dem Komponisten und dem Verleger Ricordi gibt eine nur schwache Vorstellung vom hartnäckigen Ringen um die Gestalt des Werkes, aber auch jedes Details. Ungewöhnlich viel wurde verworfen und Illica berichtete später: „Als die La Bohème erschien, blieben uns im Koffer andere zehn Bohèmes übrig.“
Da erfuhr Puccini 1894 in einem Mailänder Café von dem zufällig dort anwesenden Ruggiero Leoncavallo (1857-1919), dass auch dieser an einer La Bohème arbeitete. Jeder der beiden Komponisten versuchte nun dem anderen zuvorzukommen! Puccini gewann den Wettlauf! Am 1. Februar 1896 dirigierte der junge Arturo Toscanini (1867-1957) die Uraufführung am Teatro Regio in Turin. Die Kritik verhielt sich reserviert und auch das Publikum reagierte etwas lau. Nicht anders erging es dem Werk in Rom. Sein Siegeszug über die Bühnen der Welt begann erst im April 1897 von Palermo aus, gerade noch rechtzeitig genug, dass ihm Leoncavallos Uraufführungserfolg am 7. Mai des selben Jahres in Venedig den Rang nicht mehr ablaufen konnte.
Musik für das Theater…
Gegen Ende seines Daseins begrüßt in ihm kein geringerer als Giuseppe Verdi (1813-1901) einen verheißungsvollen Ankömmling der Oper. Er kennt ihn kaum, aber er weiß von ihm, dass er nicht sinfonisch, sondern theatralisch denkt und musiziert. Man mag dies als symptomatisch betrachten!
Um Puccinis historische Stellung zu erkennen, muss man ihn als Italiener und in seiner Beziehung zur Oper überhaupt sehen. Er hat es als einziger nach Verdi fertiggebracht, italienisch zu bleiben und doch einen Widerhall bis in die fernsten Erdteile zu finden.
Zweierlei bedingt seine Leistung: Eine tiefinnerliche Verknüpfung mit dem Theater, ein klarer Blick für dessen Notwendigkeiten und eine Fähigkeit, sich innerhalb des Theaters so zu illusionieren, dass er an sein Werk und seine Geschöpfe glaubt. Es ist darum immer unrichtig gewesen, ihm Unehrlichkeit, Unechtheit vorzuwerfen.
Puccini ist nach seiner ganzen natürlichen und begrenzten Anlage nicht der Mann, unnützen Aufwand zu treiben. Er zielt auf das Notwendige mit haushälterischer Sparsamkeit. Spannung will er erzeugen, doch nicht Abspannung! Seine Zuhörer sollen sich nicht über ihn beklagen können. Er wird ihnen in rascher Folge auf Grundlage einer fesselnden Handlung Musik und Dialog, kontrastreich sich ablösend, bieten. Das ist zunächst sein Erfolg!
Aber es bedarf doch schöpferischer, musikalischer Kräfte, um das durchzuführen. Es bedarf einer eigenen Melodie, um gerade die Stimmungsatmosphäre, die ihm liegt und die er wählt zu füllen. Der Verzicht auf jede höhere Dramatik ist naturgegeben. Im Ausdruck des Zarten und Liebenswürdigen, im – sagen wir – parfümierten Wohlklang, den er doch als echt empfindet, wird sich seine Erfindungsgabe bewähren. Aber seine Meisterschaft ist von eigenster Prägung in der Art, wie er das Wort in die Musik eingehen lässt. Nie vorher hat ein Italiener das Parlando mit so geringem Einsatz so wirkungsvoll ausgebaut. Wer genau hinhorcht, spürt, dass Puccini an der großen Szene aus Die Meistersinger von Nürnberg (1868) von Richard Wagner (1813-1883) gereift ist, dass er sie auf das Maß des italienischen, seiner Oper, gebracht hat. Er lässt das Wort laufen, gibt ihm einen leichten akkordischen Untergrund, ist aber bereit, es voller zu begleiten und in seine Melodie überzuführen. Überall taucht Leitmotivisches auf! Aber das Leitmotiv ist entpsychologisiert, in die Tatsächlichkeit des Theaters einbezogen. Nirgends der Versuch, diesen theatralisch wirksamen Verlauf durch sinfonische Gewebe zu stören. Der Musiker Puccini, von untrüglichem Ohr und von sicherstem Handgelenk, hat gewiss nicht den Neuerungstrieb des Bahnbrechers! Aber er verwertet, was der Impressionismus an neuem Klang bringt, für sich, im Sinne seines Theaters. Wie er’s tut, das ist seine Kunst!
LA BOHÈME - 8. Mai 2023 - l’Opéra National de Paris / Salle Bastille
Die Vergangenheit ist unser zweites schlagendes Herz!
Als die von dem deutschen Regisseur Claus Guth inszenierte Raumfahrt-Version von La Bohème im Jahre 2017 Premiere hatte, zitterte wohl die ganze Opéra Bastille vor all den vielen Beleidigungen, die sie erhielt. Puccinis Oper wird oft als ein kitschiges Artefakt verstanden und die Inszenierungen drohen mit einer großen Katastrophe, wenn sie nicht eine ordentlich durchgeschüttelte Schneekugel von Paris auf der Bühne darstellen, die sich in jedem bürgerlichen Geist seit vielen Generationen optimal verfestigt hat. Guth verzichtet zwar nicht auf eine optisch schöne ästhetische Darstellung, lässt aber Paris eindeutig hinter sich. Jetzt ist viel Zeit vergangen und es scheint, dass diejenigen, die kamen um die berüchtigte Weltraum-Oper zu sehen, mit dem was sie sahen äußerst zufrieden waren. Es gab keine Beleidigungen mehr! Sondern erstaunlicherweise viel Applaus!
Für diejenigen, die Guths Space Odyssey noch nicht kennen sollten: Es ist so wie La Bohème meets Solaris! Vier überlebende Astronauten befinden sich in einem sinkendem Raumschiff. Der Sauerstoff-Gehalt ist sehr niedrig und die vier sehen auch den Körper eines sterbenden Astronauten. Um sich die Zeit zu vertreiben, beginnen sie zunächst, die Handlung der Oper zu improvisieren und verwenden sogar dazu die Leiche des verstorbenen Benoit, ihren erbärmlichen pathetischen Vermieter. Mit der Zeit verwandelt sich das, was ein Witz war, in eine echte Halluzination, als Rudolfo eine Vision von der schönen Mimi hat. Dann erkennt er, dass er den Verstand verliert und seine Vergangenheits-Illusionen eskalieren nur noch. Guth nutzt klugerweise stumme Doppelgänger, um zu betonen: Wie sich die Illusion in Rudolfos Augen mehr und mehr materialisiert. Schließlich erreichen sie alle einen fremden Planeten – oder einen Asteroiden – und dort werden sie auch alle sterben!
Die Idee von Mimi als einer Illusion in Rudolfos Geist ist nicht ganz neu. Es war Wayne Kostenbaum (*1958), der einmal betonte, dass Mimi auch eine sogenannte Anspielung auf das Reflexivpronomen der ersten Person im Italienischen sei. Sie selbst ist eigentlich Lucia! Obwohl Mimi/Lucia nicht weiß, warum sie ihr diesen Spitznamen gegeben haben, weiß Kostenbaum – und Guth scheint ihm zuzustimmen -: Sie ist eine Projektion von Rudolfo, aber sie präsentiert auch sein „Selbst“ angesichts des Verlustes von seinem Leben und seiner Jugend.
Guths Inszenierung untermauert effektiv das Makabre und das Traurige in La Bohème. Die Illusion ist als Bewältigungs-Mechanismus für den Umgang mit der Härte des Lebens von wesentlicher Bedeutung. Eine so brutale Wahrheit zu erkennen, verändert die Art und Weise, wie man die Musik von La Bohème hört. Das Orchester von Puccini, das oft von den schönen Gesangslinien überschattet wird, ist somit erhöht und erhält eine gewaltige ätherische Aura.
Und selbst das hartnäckigste Pharaonenherz kann am Ende die Schönheit dieser Operninszenierung nicht leugnen, wenn alle Astronauten tot auf einem völlig unbekannten Planeten liegen. Hier wird kein billiger Sentimentalismus eingesetzt, sondern nur die ganz einfache und unbeschreibliche Komposition des wechselhaften Lebens angesichts des riesigen, ewigen und gleichgültigen Universums.
Aber man kann die Produktion nicht verlassen, ohne ambient zu sein! Es ist eine beeindruckende Produktion, aber möchte man sie mehr als ein- oder zweimal im Leben sehen? Puccinis idealistische Konstruktion von Städten – sei es sein Rom, Paris oder eben sogar Peking – erzählt jedes Mal eine Geschichte durch die Klanglandschaften des Komponisten, die diese Bühnen-Extravaganzen à la Franco Zeffirelli (1923-2019) geradezu zwingend erscheinen lässt. Vielleicht? Aber wir persönlich lassen freiwillig das vermiefte und verstaubte Museum hinter uns für die echte Wahrheit des Lebens!
Eine siderische und atemberaubende La Bohème…
Indem er Puccinis Oper einfach in eine Raumfahrtstation befördert, bietet Guth ihr eine heilsame Abstaubung-Therapie, auch wenn das bedeutet: Das die Puristen Angst davor haben! Hätte der Regisseur seine frierenden Helden in einer eiskalten Mansarde im fünften Stock von Montmartre in Kostümen ihrer Epoche gekleidet sitzen lassen, dann wäre diese La Bohème entschieden banal gewesen. Aber Guth beschloss, das Publikum in der Opéra Bastille zu verblüffen, indem er die Protagonisten von Puccinis Oper in eine Raumfahrtstation beförderte und nicht wie normaler Weise eindeutig in die Ära der 1840er Jahre und nur an einem Ort, eben in Paris mit einem Lebensstandard quasi total auf den Hund gekommen, zu platzieren. Bis zum 4. Juni 2023 finden sich die armen verhungerten Künstler aus den Pariser Faubourgs (Vororten) in einer Gravity-Alien-2001 – Atmosphäre mit funkelnden Planeten im Hintergrund wieder. In Jahre 2017 am Tag der Premiere wurde diese extraordinäre Vision von La Bohème auf das unverschämteste verpfiffen von einem äußerst geschockten und auch sehr unhöflichen bürgerlichen Publikums.
Guth ist jedoch ein mutiger und weiser Künstler! In den vergangenen zwei Jahren präsentierte er in Paris zwei gewissermaßen geschmacklose Inszenierungen, wenn man dem Urteil der konservativen Presse glauben will: Einen Rigoletto (1851) von Verdi in einer großen Souvenir-Schachtel verpackt und einen Lohengrin (1850) von Wagner, eingebettet im Innenhof eines sozialen Wohnbau-Komplex. Er warf alles hinein, was durch die Kraft der Wiederholungen zu einem Tick wurde: Eine Faszination für das Lametta der Shows, halb Kabarett mit Hosenträger, halb Prestige mit Mandrake, dem Zauberer-Kostüm und die Religion des Doppelgängers – zum Beispiel des Doppelgängers eines Protagonisten, eines Kindes, der seinen Erwachsenen besucht, bevor er stirbt – für Begegnungen mit starkem zusätzlichem Pathos. Die Zusammenführung unvereinbarer Welten lässt Guth so vibrieren, dass vielleicht sein Werk manchmal zu übertrieben kraftvoll über der Musik hinweggeht. Es variiert aber diese La Bohème nicht mit diesem mehr Apropos!
Wie kann man das Paris der Juli-Monarchie in ein zeitgenössisches Sujet verwandeln? Die Crew driftet ab und Rudolfo erinnert sich an die Vergangenheit, an seine kranke Mimi. Er durchstreift die Szene im Astronauten-Anzug, verfolgt von Figuren aus seinen Erinnerungen, mit denen er singt und auch einer Kohorte magischer Unruhestifter, während der Tod sehr nahe ist. Der Prozess erscheint unnötig, unglaublich, dumm. Er ist! Es ermöglicht aber auch, die Starrheit eines normalerweise aus Marmor gefertigten Werks zu durchbrechen. Selten hat uns eine La Bohème so sehr bewegt, uns hinter die Gefühls-Kulissen geführt, mit seinem veristischen Miserabilismus etwas Abstand genommen. Und so wurde plötzlich die La Bohème zu einem wirklich lebendigen Stück!
Doch im Mittelpunkt dieses Dramas stand, als sich der Vorhang für einen zweiten Teil öffnete, in dem wir anstelle der Barriere der Gewährung in Denfert-Rochereau viel Schnee sahen und einen Mondhügel und den Kadaver eines vorbeiziehenden ertrunkenen Raumschiffes. Überlaute große Wellen von Subbässen, Geräusche schlagender Herzen und in mitten all diesem ganzen Durcheinander Rudolfo als Astronaut, der ausnahmsweise wie seine Mimi verrecken würde. Wir sehen unter all den ungewissen Geräuschen des unendlichen Weltalls plötzlich La Bohème! Sehen wir die von 1840 oder die von 2023…? Sie war dort, auf der Bühne, in ihrer nackten Natur:
Künstlerisch eingeschränkt, selbstmörderisch, nicht zufrieden stellend, verzweifelt und funkelnd wie ein Sprung in den Traum, um dem Elend ihres Zustands zu entfliehen.
Klang im Vakuum…
Die Akustik der Opéra Bastille und die Szenarien des schweizer Bühnenbildner Etienne Pluss sind der lebende Beweis dafür, dass sich im Vacuum kein Ton bewegt. Die meisten Sänger – von Ausnahmen berichten wir später – hatten Mühe gehört zu werden und die Entscheidung, den Chor des 2. Akts außerhalb der Bühne zu platzieren, führte zu einer schlecht synchronisierten Szene.
Die amerikanische Sopranistin Ailyn Peréz war eine äußerst lyrische und ideale Mimi! Einige Sopranistinnen singen die Rolle mit dem gleichen Tonus wie z. B. Tosca (1900) oder Aida (1871) von Verdi, aber nicht Pérez. Sie zeichnet wirklich die Vorstellung von Mimi als einer phantastischen Idealisierung in der Vorstellung des Mannes. Ihre Stimme ist rein, aber ohne übertriebenes Vibrato oder sonstige opernhafte Übertreibungen. Wenn Mimi das „Che Gelida Manina“ von Rudolfo nachahmt, singt Pérez es mit kindlicher Reinheit. Aber seien wir uns bewusst, dass Mimis Illusionen hier schon den Weg zum Tod zeichnet!
Der amerikanische Tenor Joshua Guerrero hatte große Mühe, seiner Stimme Gehör zu verschaffen. Sein letztes „Mimi“ war so unhörbar, dass es sehr enttäuschend war. Gelegentlich waren auch seine Konsonanten beeinträchtigt, insbesondere die „r‘s“ und „m‘s“! Verstehen wir uns nicht falsch, Guerrero hat die idealen Stimmfarben, die gut zu Puccinis Musik passt. Seine Stimme, geprägt von einem ausdrucksstarken und schönen Einsatz in den Gesangspassagen, besitz auch eine angenehme Dramatik und Männlichkeit, die sehr gefällt. Darüber hinaus ist seine Phrasierung – sofern hörbar – gut gemeint und immer interessant, obwohl einige seiner Pianissimo eine wacklige Intonation hatten. Aber bei dieser Gelegenheit ging die Schönheit seines Gesangs in diesem Bühnen-Weltraum unter.
Die slowakische Koloratur-Sopranistin Slavka Zamecnikova sang eine äußerst korrekte Musetta, aber ihrer Charakterisierung fehlten der Humor, die Kühnheit und das Charisma der Rolle. Aber es ist nicht ihre Schuld! Die Inszenierung ist natürlich sehr deprimierend , denn jeder wird bald sterben und Musettas Status als eine Illusion ist viel weniger realisierbar als die von Mimi. In ihrer großen Szene „Quando m’en vo“ dehnte der Dirigent einige Fermate stärker aus, als er hätte tun sollen, was das Walzertempo der Arie ins Wanken brachte. Viele ihrer Gesangslinien musste sie auch außerhalb der Bühne singen – sogar auch im letzten Akt.
Ein ähnliches Problem plagte auch den polnischen Bariton Andrzej Filonczyk als Marcello – in geringerem Maße – auch den italienisches Bariton Simone Del Savio als Schaunard. Obwohl es sich um Sänger mit wunderschönen Tönen handelt, ließ auch hier die Inszenierung ihre Beteiligung völlig verschwinden und ihren Charakteren jegliches Charisma nehmen. Marcellos Überheblichkeit im 3. Akt zum Beispiel ist so fehl am Platz, dass es keinen Sinn ergibt. Zum Glück funktioniert das humorvolle Quartett im 4. Akt mit den sogenannten vier armen Bewohnern vom Quartier Latin gut. Allerdings fällt es einem doch schwer zu lachen, wenn man die Leichen auf der Bühne liegen sieht.
Der italienische Bass Gianluca Buratto sang die beiden Rollen des Colline und Benoît. Er war der einzige männliche Sänger, der überhaupt keine Probleme hatte, seine Stimme hervorzuheben. Sein „Veccia zimarra“ war geradezu überschwänglich, aber dennoch sang er ohne irgendeine Sentimentalität zu suchen und legte ein langsameres Tempo als gewöhnlich an, wobei sein Legato sich kräuselte. Die Arie war mehr als eine philosophische Betrachtung, sie war der perfekte Abschied vom Leben!
Der italienische Dirigent Michele Mariotti hatte eine heterodoxe Interpretation von Puccinis Partitur, die offenbar beim Publikum gut ankam, das ihm den wärmsten Applaus spendete. Der siderische Aspekt der Inszenierung beeinflusste seine Interpretation der Musik und veranlasste ihn, die Tonalität der Partitur zu vermeiden – so war das Opernfinale am stärksten verzerrt. Seine Tempi waren sehr langsam und seine Fermaten lang. Aber einen neuen Ton in La Bohème zu finden, ist schon an sich ein großer Verdienst.
Allerdings beging Mariotti die unwiederbringliche Sünde der Oper: Er folgte den Sängern! Beim Aufbau seines ätherischen leeren Orchesterklangs verdeckte er oft die Stimmen der Sänger und hinderte sie daran, ihre eigenen musikalischen Phrasen zur Geltung zu bringen.
Letztendlich war dies aber doch eine außergewöhnliche und unvergessliche unsentimentale La Bohème im Weltraum. Es ist ein interessantes Erlebnis mit gutem Gesang von Pérez und vor allem von Buratto. Wenn man sich nicht so sehr auf konventionellere Formen der Inszenierungen von Puccini einlässt, kann man beim Anschauen eher sich mehr unterhalten denn verwirrt sein. (PMP/13.05.2023)