Paris, Opéra National de Paris - Bastille, HAMLET - Oper von Ambroise Thomas, IOCO Kritik, 22.03.2023
HAMLET (1868) - Oper von Ambroise Thomas
- Libretto Michel Carré und Jules Barbier, nach dem Drama von William Shakespeare -
von Peter Michael Peters
SHAKESPEARE OR NOT SHAKESPEARE…
Dame ou Prince, homme ou femme, Descendent chez les morts; La terre prend le corps, Que Dieu reçoive l’âme! Ici-bas tout est vain, Amour, richesse et gloire, Hors le plaisirs de boire. La vie est dans le vin! (5. Akt / Nr.21 - Lied der Totengräber)
Das Wahre, das Falsche und die Musik von Thomas
Tatsache ist, dass Hamlet von Ambroise Thomas (1811-1896) in den letzten zwanzig Jahren sowohl in Frankreich als auch im Ausland wieder einen positiven Status erlangt hat, der den wahren Verdiensten eines zu Unrecht missverstandenen Werks entspricht. Ignoranz oder Verachtung haben keine Entschuldigung, aber in diesem Fall waren sie die Frucht einer kulturellen Evolution, die zweifellos notwendig war. Es ist also an der Zeit, gewisse Ruinen zu heben bzw. Teile unseres Kulturerbes wieder zum Leben zu erwecken. Das ist im Grunde viel aufregender, als nur Zeuge einer stumpfsinnigen Ausbeutung von Meisterwerken zu werden.
Es war Emmanuel Chabrier (1841-1894), der diese niederschmetternde Wort hatte: „Ich kenne nur drei Arten von Musik: Die gute, die schlechte und die von M. Ambroise Thomas!“ Sollen wir daraus schließen, dass die Musik eines der meistgespielten Komponisten seiner Zeit – seit er 1894 dem frühreifen Tausender von Mignon (1866) an der Opéra Comique beiwohnen konnte – weder gut noch schlecht war und ihm der Respekt gebührt als Direktor des Conservatoire de Musique Paris. (das „M“ ist nicht nötig, um von einem lebenden Künstler zu sprechen!) Vielleicht könnte er auch leicht seinen Richter suspendieren? Seitens des Komponisten von Espana, Rhapsodie für Orchester (1883), der dennoch gegenüber den besten Entdeckungen von Ambroise, wie er ihn auch nannte nicht ganz unempfindlich geblieben sein dürfte, war es ein Hinweis darauf, dass ihm diese Musik auch noch jenseits des Schlimmsten unerträglich erschien.
Krzysztof Warlikowski zu HAMLET an der Opéra National de Paris youtube Opéra National de Paris [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Eine durch ihr Übermaß so sichtbare Voreingenommenheit muss eine Ursache gehabt haben: Der Hamlet von Thomas hatte einem anderen Komponisten den Weg zum Erfolg versperrt. Der aus Nantes stammende heute vergessene Musiker Aristide Hignard (1822-1898), zweiter Grand Prix de Rome und dessen ehrenvolle lyrische Karriere hätte gekrönt sein können von einer viel getreueren Adaption des lange erwogenen Drama von William Shakespeare (1564-1616), in der sich begleitete Deklamation mit Gesang abwechseln sollten. Hignard war einer der wenigen Lehrer von Chabrier! Er nahm zur Zeit dieses ungleichen Kampfes Privat-Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt und er stellte sich natürlich auf die Seite des Opfers. Im Besitz einer Kopie der Partitur, die der unglückliche Hignard auf eigene Kosten drucken ließ (wie bei Hector Berlioz / 1803-1869: Les Troyens / 1863),hatte Chabrier reichlich Zeit um seinen bissigen Elan auf die künstlerischen Entscheidungen des glücklichen Gewinners der Académie Impériale de Musique zu lenken.
Der moderne Hörer, der bereits vor einem Komponisten gewarnt wurde, dessen aktuelle Empörung vor allem aus einem allzu leichtfertig proklamierten Ruhm resultiert. Der auch keinen anderen Vergleichspunkt als das Originalwerk hat und somit Gefahr läuft nicht weniger kritisch zu sein! Denn die Oper beginnt höchst unpassend: Diese lärmenden Festausbrüche, diese zärtliche Szene zwischen Ophélie und Hamlet, dieser Abschied von Laërte, schliesslich der Chor der Offiziere und der prosaischen Pagen wie in einer Opéra-Bouffe (Komische Oper)… Nichts davon kommt aus dem Drama von Shakespeare! Danach wird die Reihenfolge der Szenen etwas durcheinander gebracht. Polonius wird sich als Komplize von Claudius herausstellen, der der Mörder seines eigenen Bruders ist und auch erklärt, dass Hamlet sich von seiner Tochter Ophélie abwendet… Polonius wird gerettet (hier ist es Hamlet, der ihn hinter einem Vorhang ausspioniert). Auch dort und in der Originalversion der Oper wird die Königen das Kloster betreten, während mit dem Segen des in extremis wiedererscheinenden Gespenst wird Hamlet zum König ausgerufen…
Für das Publikum von Covent Garden London wird Thomas ein weiteres Ende für seine Oper komponieren, das sich besser an das englische Drama anlehnt, aber selbst wenn man das erste Bild entfernt, bleibt kaum eine Chance, Shakespeares wirklich nahe zu kommen. Außerdem ist die Amputation absurd, da die drei Hauptmotive, die später wiederkehren (assoziiert mit Hamlet, mit Ophélie und mit ihrer Liebe), im Laufe dieses Bildes vorgestellt werden. Es bleibt nur die Oper so zu nehmen, wie sie ist! Allerdings nicht nur wegen der darin enthaltenen schönen Seiten, sondern weil es keinen Grund gibt, die anderen zu wiederholen: Die Geschichte von Hamlet wurde auf der Theaterbühne vor Shakespeares behandelt, der sie selbst für sein Drama umgestaltet hatte. Wie die Figur des Faust oder des Don Juan, bleibt es offen für alle Adaptionen!
Hamlet - ein französischer Romantiker?
Die einzige Frage, die das Libretto von Michel Carré (1821-1872) und Jules Barbier (1825-1901) berührt, bleibt daher sein dramatisch-musikalischer Wert. Und da besteht kein Zweifel, denn mit dreihundert Aufführungen in dreißig Jahren auf der Bühne der Opéra National de Paris, wo sie am 9. März 1868 uraufgeführt wurde: Zählt Hamlet mit L’Africaine (1865) von Giacomo Meyerbeer (1791-1864), Don Carlos (1867) von Giuseppe Verdi (1813-1901), Henri VIII (1883) von Camille Saint-Saëns (1835-1921) et Le Cid (1885) von Jules Massenet zu den seltenen herausragenden Erfolgs-Produktionen, die auf der ersten Pariser Bühne das Licht der Welt erblickten (Faust /1859 / von Charles Gounod /1818-1893 / wurde erst nach einem drastischen Schnitt dort aufgeführt!). Natürlich musste die Partitur solide sein, aber auch die Musik musste sich in ihrer dramatischen Umgebung wohlfühlen. Es ist und muss zugegeben werden, das Barbier und Carré, die so oft kritisiert wurden, hatten schon zu Lebzeiten mit viel Erfolg Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Pierre Corneille (1606-1684), Shakespeares, Jean-Baptiste Molière (1622-1673), Dante Alighiere (1265-1321) adaptiert… Sie waren auch sehr respektable Dramatiker und Dichter, erfahren in den Anforderungen des lyrischen Theaters: Also würdige Erben von Philippe Quinault (1635-1688) oder Michel-Jean Sedaine (1719-1797)!
Aber die Partition? Wir könnten Thomas einen Mangel an persönlichem Stil vorwerfen! Wir erkennen sofort die Musik von Berlioz, Gounod oder Massenet, denn sie ist so stark und riskiert nachgeahmt zu werden. Aber der Eklektizismus von Thomas führt dazu, sich selbst in Frage zu stellen! Aber wir könnten ihn auch zu einem Epigonen von Massenet machen. In Wahrheit ist das ein falsches Problem, denn es ist im Gegenteil das Merkmal eines großen dramatischen Komponisten: Das er seine Haut leicht wechseln kann!
Bei näherer Betrachtung stellt man fest, dass Thomas musikalisch auf gewisse dramatische Situationen mit einer ganz eigenen Sensibilität reagierte: Diese sanft durchdringende Melancholie, die uns in Mignon (1866) wie auch in Hamlet auffällt, war bereits in Le Songe d‘une nuit d’été (1850) zu spüren. Vielleicht ist es kein Zufall, dass diese drei Werke von den dreiundzwanzig, die Thomas zwischen 1837 und 1889 schrieb, diejenigen sind, deren Karriere am längsten und brillantesten war. Die uns auch heute noch ansprechen! Dagegen war der große Erfolg von Le Caïd (1849), der auf dramatischen und musikalischen Grundlagen bestand, die aber zu zweideutig waren um noch eine längere Zukunft zu haben. Wir können aber sicher sein, dass keine wasserdichte Grenze zwischen diesen drei Werken und den zwanzig anderen aus der unermüdlichen Feder von Thomas bestehen. La Double Echelle, die 1837 offenbarte seine Begabung für die leichte Spieloper bis hin zum Françoise de Rimini (1882), die aber ihre großen Erwartungen nicht erfüllen konnten. Man möchte eher den Eindruck haben, dass in ihm zwei Musiker steckten, von denen der erste von 1837 bis 1860 eine Reihe von Komischen Opern komponierte, die handwerklich gut gemacht waren um den Sängern zu dienen und auch das breite Publikum zu verführen wusste. Im Einklang mit Werken von Daniel-François-Esprit Auber (1782-1871) oder Adolphe Adam (1803-1856)! Der zweite, der nachdem er in Le Songe d’une nuit d’été eine Veränderung seines Tons skizziert hatte, fand er im Alter von fünfzig Jahren einen neuen musikalischen Weg. Vielleicht dank der Wahl neuer Mitarbeiter, Barbier und Carré, aber sicherlich am Ende auch in einer Rückkehr zu sich selbst? Oder auch das Zusammentreffen mit seiner zukünftigen Frau Elvire Remaury (1827-1910), Pianistin und renommierte Pädagogin, die wohl eine große Rolle gespielt haben muss?
Auch müssen wir folgendes berücksichtigen! Die natürliche künstlerische Entwicklung der Sensibilität, die besonders durch die Pariser Uraufführung des Tannhäuser von Richard Wagner (1813-1883)) im Jahr 1861 begleitete. Auch La Reine de Saba von Gounod im Jahr 1862 und Les Troyens von Berlioz im Jahr 1863, drei Werke, deren neuer Ton die Musiker äußerst stark beeindruckte, aber nicht die breite Öffentlichkeit gewinnen konnte. Thomas brachte seine Ideen nicht auf den neuesten Stand, aber er konnte doch seinen eigenen Weg in seiner Epoche verwirklichen und so eine persönliche Inspiration für sich selbst finden, um sich zu erneuern und gleichzeitig zu kreieren. In Mignon wie in Hamlet gelingt es ihm tatsächlich den Geschmack der Sänger und des Publikums für vokalisierte Virtuosität, für die „obligatorischen“ Annehmlichkeiten der Komischen Oper oder der „Grand-Opéra“ zu befriedigen, ohne aber in den Stil von Gounod zu fallen. Da er auch selbst mit der Zeit dramatische Prozesse und eine ihm von seinem künstlerischen Gewissen diktierte musikalische Komplexität einführte. Verdi wird es zwanzig Jahre später in Othello (1887) nicht anders machen.
HAMLET - Lisette Oropesa als Ophélie - Opéra National de Paris youtube Opéra National de Paris
Sollen wir von Wagner-Verehrung sprechen?
Bei den etwa fünfzehn Wagner-Motiven, die in der Oper Hamlet in mehr als einer Szene vorkommen, könnte man streng genommen ohne Hemmungen sagen, das La Reine de Saba von der musikalischen Seite viel weiter in die Tannhäuser-Atmosphäre eingedrungen war. Wenn aber Thomas in Hamlet die Konsequenzen aus den Lehren zieht, die er vielleicht von Wagner, aber auch von Berlioz oder Gounod erhalten hatte, erscheinen sie nur in der Aufrechterhaltung einer gewissen dramatischen Spannung, die die anhaltende Aufmerksamkeit des Zuhörers fordert und sich nicht begnügt ihn abzulenken oder genauer gesagt: Ihn nur abzulenken um ihn besser fesseln zu können. Eben den Schraubstock von Akt zu Akt mehr zu straffen!
In diesem Sinne offenbart das erste Bild, die nacheinander zwei Ästhetiken des lyrischen Theaters gegenüberstellt: Es ist eine Strategie des Komponisten! Nach einer düsteren Ouvertüre im Zeichen einer phantastischen Bedrohung (das Gespenst), verzichtet das Werk in keiner Weise in der großen Szene der königlichen Festlichkeiten auf die künstlichen Freiheiten der „Grand-Opéra.“ In dieselbe Welt gehören auch die charmante Konvention von Laërte, dann das Geplänkel des Offizier-Chors und der Pagen, die dieses Bild abschließen. Aber in seinem Zentrum, das sich wieder mit der Schwere der Ouvertüre verbindet, bietet die Dialog-Szene zwischen Hamlet und Ophélie – die am Ende nur ein Liebesduett (das einzige im Werk) ist und den Raum von ein paar Takten – eine Zartheit des Anschlags, die in einer „Grand-Opéra“ eher unerwartet ist. Es ist also von vornherein klar, dass sich das Drama auf zwei Ebenen abspielt.
Im folgenden Bild wird die Gespenster-Szene mit äußerst klassischer Zurückhaltung behandelt, man würde sagen wie aus einer Oper von Christoph Willibald von Gluck (1714-1787) und gegen Ende, wenn der tote König (Gespenst) den Ehebruch seiner Frau heraufbeschwört, erzeugt die Raffinesse der solistischen Streicher-Effekte eine überwältigende und auffallende Mehrdeutigkeit, ebenso wie die impressionistischen Harmonien, die das Gespenst verschwinden lässt: Da ist nichts von Konventionen zu erkennen!
Im zweiten Akt kann Ophélie eine große vokalisierende Arie singen mit einem eher intimen zarten Ton, während das Arioso der Königin Gertrude trotz der „wahren“ Akzente ziemlich äußerlich und konventionell wirkt. Die Szene zwischen dem König Claudius, der Königin und Hamlet hingegen bietet ein schönes Beispiel für eine Konversation in Musik. Im Vergleich dazu klingen der Choeur des comédiens und das Chanson bachique falsch. Wir sollten nicht überrascht sein, es ist eine bewusste Entscheidung um einen Tonbruch zu schaffen: Der Weinrausch von Hamlet ist vorgetäuscht, wie der Adel der Histrions und diese Falschheit wird die Wahrheit ans Licht bringen müssen: Wenn der König Claudios von der Pantomime verwirrt ist und erschrocken ausruft: „Ô mortelle offense! Aveugle démence“. Hier wird die grandiose Täuschung dieser Empörung in der reinsten Tradition der „Grand-Opéra“ sein und noch unterminiert durch die Unverschämtheit des Chanson bachique. Ein Lügner…, ein Lügner!
Bis zum Ende des lyrischen Werks gehen wir nicht mehr näher auf dieses Wechselspiel zwischen Authentischem und Künstlichem ein, das wir deutlich als Ergebnis einer bewussten dramatischen Herangehensweise erkennen können. Ist es nicht eine Art Äquivalent zu der Shakespeare-Mischung zwischen Ernst und Spott (die in der Oper völlig fehlt)? Was uns täuschen kann, ist die Brillanz, mit der Thomas beide Register verwendet. Wir könnten auf einen unerträglichen Stilbruch schließen, weil er uns zu keinem Zeitpunkt wissen lässt, dass sein auffälliges Augenzwinkern nur reine Kunstfertigkeit ist. Aber manchmal sind auch dort die Grenzen unbestimmter! Wer wird uns zum Beispiel sagen, wie aufrichtig die Reue des Königs ist? Es ist eine noble Bass-Arie unterbrochen von archaisch-religiösen Harmonien!
Als echter Theatermusiker ergreift Thomas nicht vordergründig Partei! Er gibt jedem seiner Bühnenfiguren eine Chance, das Publikum zu überzeugen und da es sich um eine Oper handelt: Jedem Sänger seine stimmliche Chance. Auch hier scheint er der italienischen Schule, insbesondere Verdi, näher zu stehen als der französischen Schule, an die ihn natürlicher Weise bestimmte Merkmale seines musikalischen Schreibens binden. Am Ende aber bleibt Thomas jedoch ein schwer fassbarer Künstler mit vielen widersprüchlichen Qualitäten, aber sicherlich mit noch viel mehr großen reichhaltigen Widersprüchen.
HAMLET - 14. März 2023 - Opéra National de Paris / Salle Bastille
Das Exil im Wahnsinn…
Seien wir ehrlich: Wir stießen einen verärgerten Seufzer aus, als sich der Vorhang hob. Eine ältere Dame mit dem Rücken zum Publikum sitzt auf ihrem Rollstuhl und sieht in den Fernseher, während ein alter müder Mann in einer dicken Wollweste auf seinem Bett herumliegt. Sie sind in einem Pflegeheim! Der mittlerer Weile sehr berühmte polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski inszeniert Warlikowski, so denkt man spontan! Dann verstehen wir aber, dass es Hamlet am Ende seiner Lebensreise ist und seine ungeliebte Mutter, Königin Gertrude, die beide in ihren Erinnerungen eingeschlossen sind. Die Abfolge der vielen Ereignisse sind vorangetrieben von einer Rückblende: Die sich der Regisseur erlaubt um einen zwanzigjährigen Hamlet als einen jämmerlichen Einfaltspinsel zu zeigen, der sich tollpatschig mit einem ferngesteuerten Spielauto in einem geschlossenen und schaurigen Universum vergnügt.
Durch die Installation auf der Bühne einer psychiatrischen Klinik zeigt der Regisseur wirklich keine sehr verrückte Originalität, aber er zerstört auch nicht die Handlung noch die Charaktere der Oper. Auch wenn sich die sehr zweideutige Beziehung zwischen Hamlet und seiner Mutter zu einer grundsätzlichen Diskussion anbieten könnte. In dem er auch die historischen Zwänge der „Grand-Opéra“, einer Gattung wie die in Paris im Jahre 1868 uraufgeführten Oper Hamlet, die unter anderem große gewaltige und grandiose Massenszenen mit Chor und Ballett erforderte, akzeptierte de Regisseur Warlikowski ein sehr schwieriges Unterfangen: Das aber er jedoch in einer äußerst klaren Inszenierung gestaltete ohne dem banalen Kitsch von Pappmachés zu erliegen. Das in der tat beeindruckende Dekor von der polnischen Bühnenbildnerin Malgorzata Szczesniak stellt einen riesigen Metallkäfig dar, manchmal unterteilt, manchmal leer, um eine fremde gesellschaftliche Gegenwart besser unterzubringen. Die Visionen und Alpträume eines gestörten Hamlet werden also dort projiziert. Das gespenstische Erscheinen seines ermordeten Vaters als weißer böser Clown mit langen schwarzen Krallennägeln und dann die Verwandlung des Protagonisten selbst als sein Ebenbild jedoch ganz in Schwarz: Gehören wohl zu den besonderen Höhepunkten dieser Produktion, die aber an diesem Abend zu Unrecht ausgebuht wurde. In dieser Produktion wird auch eine andere charakteristische Faszination von Warlikowski verbreitet: Schwarz-Weiß-Filme, historische Werke aus dem Archiv der Cinématheque de Paris, aber auch kurze Filmstreifen, die mit den Sängern der Produktion von dem französischen Video-Künstler Denis Guégin gedreht wurden. Und alles wird dominiert von einem riesigen unheimlich wirkenden tödlichen Mond, wie in dem Film Melancholia (2011) von dem dänischen Regisseur Lars von Trier (*1956).
Die gesamte Besetzung wurde zu Recht gefeiert! Hamlet wurde schon vor zwanzig Jahren in Toulouse und Turin von dem französischen Bariton Ludovic Tézier interpretiert. Er gab der schwierigen Rolle nicht nur eine Stimme von strahlender Fülle und beeindruckender Dichte, sondern auch einen glühenden Gesang und ein Spiel von grosser Subtilität: Aufmerksam auf die kleinsten Nuancen eines schwer zu findenden Charakters. Die Ophélie der amerikanischen Sopranistin Lisette Oropesa überrascht mit stimmlicher Dichte und verführt mit Virtuosität und dramatischer Intelligenz. Auch schöne Präsenz zeigte die schweizerische Mezzo-Sopranistin Ève-Maud Hubeaux als Königin Gertrude. Desgleichen ihr neuer Ehemann Claudius, neuer König und Mörder seines Bruders, der französische Bass Jean Teitgen verlieh seiner Rolle eine solide Interpretation: Beide zeigen außergewöhnliche stimmliche und szenische Qualitäten und ergänzen somit das tadellose Hauptquartett ideal! Abgesehen von dem Gespenst des ermordeten König, der von dem englischen Bass Clive Bayley gesungen wird, der sich seiner Fähigkeiten nicht immer sehr sicher ist und es ihm auch ein wenig an Autorität mangelt. Der Rest der Besetzung ist ebenfalls erstklassig: Der junge französische Tenor Julien Behr in der Rolle des Laërte singt mit einer klarer etwas nasaler Stimme und spielt besonders ausgezeichnet einen etwas ungelenkigen pubertären Rocker mit einem lässigen Elvis Presley (1935-1977)-Look der 50er Jahre und natürlich der unvermeidlichen Sonnenbrille. Der Veteran unter den großen französischen Sängern, der Bass Philippe Rouillon sang die kurze aber wichtige Rolle des Verräters Polonius. In den anderen Rollen: Frédéric Caton, Horatio; Julien Henric, Marcellus; Alejandro Balinas Veites, Erster Totengräber und Maciej Kwasnikowski, Zweiter Totengräber.
Die Leitung des jungen französischen Dirigenten Pierre Dumoussaud ist ganz im Dienste der Bühne von Anfang bis zum Ende bewundernswert und trotz eines zu groben Posaunenpults besiegelt das Orchestre de l’Opéra National de Paris die ausgezeichnete Alchemie dieser Produktion. Vielleicht könnte das Werk in den ersten drei Akten ein wenig mehr dramatisches Aufbrausen erhalten und nicht immer im seichten Wasser schwimmen? Desgleichen der ausgezeichnete Choeurs de l’Opéra National de Paris unter der Leitung des italienischen Chorleiters Alessandro Di Stefano.
Jenseits von Buhrufen und abschließenden Ovationen gibt es für den Zuschauer am Ende dieses Abends die Gewissheit, dass er einem großen Theater-Moment beigewohnt hat. (PMP/20.03.2023)