Paris, Opéra-Comique, PICTURE A DAY LIKE THIS - G. Benjamin, IOCO

OPÈRA COMIQUE; Paris: Mit Picture a day like this liefern Martin Crimp (*1956) und George Benjamin (*1960) die Früchte ihrer vierten Zusammenarbeit. Nach Into the Little Hill (2006), Written on Skin (2012) und .....

Paris, Opéra-Comique, PICTURE A DAY LIKE THIS - G. Benjamin, IOCO
l´Opéra Comique Paris © Sabine Hartl, Olaf-Daniel Meyer

28.10.2024 - George Benjamin: PICTURE A DAY LIKE THIS (1960), Oper in einem Akt und sieben Szenen mit einem Text von Martin Crimp.

 von Peter Michael Peters

DIE WEISHEIT DURCH DAS PRISMA DES WUNDERBAREN…

No sooner had my child started to speak

whole sentences

than he had died.

I wound him in the custemary silk

for burning –

was angry – but I washed him –

washed him – wound him – closed his eyes.

But when the woman came to take him –

Take him for burning –

I said to them no.

In the first garden ran four streams

of life. Quince almond ,lilac, violet

flowered. In the deep shade of the Cypress tree

no one felt pain: there was no death.

The woman smiled. (Szene der Woman / Auszug / I. The Page)

Eine Umkehrbarkeit von Verzauberung…

Mit Picture a day like this liefern Martin Crimp (*1956) und George Benjamin (*1960) die Früchte ihrer vierten Zusammenarbeit. Nach Into the Little Hill (2006), Written on Skin (2012) und (2018) bestätigt dieses Werk eine bewährte dramaturgische und musikalische Technik und verleiht diesen Werken eine schöne Organizität. Tatsächlich schöpfen Autor und Komponist wieder einmal aus einer alten Literatur-Quelle. Nach Le Joueur de flûte de Hamelin (um 1184), einer vida oder razó des mittelalterlichen Minnesängers Guillem de Cabestany (1162-1212), der sich mit dem Thema „das Herz essen“ beschäftigt oder sogar in Edouard II. (1592/93) von Christopher Marlove (1564-1593), handelt es sich diesmal um eine buddhistische Lehre, die der Autor verfasst hat und der Komponist findet Material für die Konstruktion einer Fabel, die durch ihre Universalität ebenso wertvoll ist wie auch durch ihre brennende Aktualität.

PICTURE A DAY LIKE THIS - youtube Opéra Comique, Paris

Die Geschichte, die den „Text für Musik“ strukturiert und von der wir wissen, dass Crimp auf den Namen „Libretto“ verzichtet hat und so der poetischen Partitur eine eigene Existenz verleiht, sie ist die einer Frau, die vom Superlativ des Unglücks getroffen wird: Der Verlust ihres Kindes! Als Echo der erbaulichen Geschichte von Kisä Gotamï (etwa 9. Jahrhundert) und ihren neueren Avatars – wir finden eine Variante in Der Roman von Alexander (3. Jahrhundert) oder Das Hemd für einen glücklichen Mann ( etwa 9. Jahrhundert) - , begibt sich die Frau ins Zentrum von Crimps Text auf der Suche nach etwas, was sie am Ende ein „Wunder“ nennen wird: Eine sogenannte „Wiederauferstehung“ ihres vermissten Sohnes! Das tote Kind, das aus dem Blickfeld des Theaters entfernt ist und dessen Anwesenheit jedoch die gesamte Szene ausfüllt, löst eine Suche aus, die mit der Mission des Theaters verbunden ist: Den Stimmen der Toten Gehör zu verschaffen, die Toten „gestalten“. Der Theaterraum ist, um es mit Antoine Vitez (1930-1990) auszudrücken: „Ein Platz des Willkommens für Phantome!“. Der Ansatz der Mutter ist nur mit dem Ziel da, ihrem Kind wieder ein Gesicht und eine Stimme zurückzugeben und dass kaum nach dem ihr erster Satz zu Ende ist. So definiert die eigentliche Mission des Theaters, von dem wir sagen können, dass die Prosopopöie – die Abwesenden darzustellen und zum Sprechen zu bringen - ist die Matrix-Figur. Das Streben nach Wiederzugehörigkeit - insbesondere seit dem Hamlet (1601) von William Shakespeare (1564-1616) in  „Remember me“ befiehlt das Spectre und wird in mehreren Formen dekliniert – somit schreibt sich in die intime Geschichte der Protagonistin den dem Theater innewohnenden Ehrgeiz ein und der auf die Weise thematisiert wird: Inkarnation.

Szenenphoto mit Cameron Shahbazi (Lover 2 ), Marianne Crebassa (Woman) und Beate Mordal (Composer) © Stefan Brion

Lebendige zeitgenössische Zeit: Das Intime im Licht der Politik…

Das gemeinsam mit Benjamin entstandene Werk adaptiert zwar eine traditionelle Geschichte, weist aber dennoch eine gewisse Originalität auf. Die Quelle ist vorhanden, aber der Diskurs völlig neu, das Ergebnis anders, die Philosophie neu erdacht. Wenn der Talisman, das Wahrzeichen der Suche, die Form eines Hemdknopfes und nicht mehr die Form medizinischer Senfkörner annimmt, ist die Neudefinition der Meilensteine, die die Reise und die Untersuchung der Protagonistin kennzeichnen noch radikaler als in den früheren Werken. Die empfohlenen Treffen beziehen sich alle auf unterschiedliche Welten. Nicht ohne an die drei Shakespeare-Hexen zu Beginn von Macbeth (1611) zu erinnern, legen die Frauen mit dem unveränderlichen Lächeln, die der Frau die Etappen ihrer Reise zeigen, die Geschichte unter das Siegel des Weiblichen. Wir wissen es bereits mit den Stücken The Treatment (1993) und Attempts on Her Life (1997), die Crimp für das Sprechtheater schrieb, das er schon lange an der Frage der sogenannten Auslöschung von Frauenstimmen meditiert. Umgekehrt und als Gegengewicht sind es in Into the Little Hill, der ersten Kreation für die Opernbühne, die Frauen, die die Stimmen aller tragen. Allein auf der Bühne in der Regie von Daniel Jeanneteau (*1963) in der Produktion des Amphitheater-Opéra National de Paris-Salle Bastille im Jahr 2006 singen somit eine Sopranistin und eine Altistin alle anderen Charaktere der Fabel, deren Protagonistin kein anderer ist als eine Art „Premierminister“, also der sogenannte Repräsentant der Stimme des Volkes. Im Gegensatz zu Agnes, die in Written on Skin darum kämpft, ihrem Status als Objekt zu entkommen und schließlich als Subjekt: „I am Agnes anerkannt zu werden, bittet sie um die Aufmerksamkeit des Protector‘s, ihres Mannes! Dagegen die Women in Picture a day like this trägt bei der Suche, die sie ausführt, letztendlich die gesamte Last der Menschheit auf sich. Wenn aus der vorgeschlagenen „Erfahrung“ eine Lehre gezogen werden soll: „And so I left / travel the world / to save my child / graceful to this experience“ es wird nicht von einer männlichen Schutzfigur kommen, zum Beispiel von Buddha oder sogar von Alexander, der an der Schwelle seines Todes seine Mutter dazu bringt, Trauer als eine universelle Gegebenheit zu akzeptieren, sondern vielmehr von einer eigenen Handlungsfähigkeit: Während Gotamï die Trauer empfängt im Licht von Buddha, aber der Women nur vorausgesetzt, dass sie wirklich Zugang zu einer Weisheit hat, die in einem Wissen über die Menschheit verankert ist – und das Ergebnis lässt uns keine Gewissheit zu -, ist in keiner Weise einem geschlechtsspezifischen Ansatz zu verdanken, der eine patriarchalische Ordnung bestätigen würde.

Dies ist zweifellos ein erster Garant für Modernität, der durch die dramatische Zeit der Fabel bestätigt wird, die die Geschichte in einem zeitgenössischen Rahmen überführt. Wir erinnern uns an die fest in der Moderne verankerten „Engel“, die die abgründige mittelalterliche Geschichte Written on Skin umgaben. Ebenso sind wir beeindruckt von einer Koexistenz einer uralten Geschichte, die in eine verstörende Neuzeit übertragen wird. Die Begegnung, die die Suche charakterisieren, ermöglichen die anachronistische Umsetzung der antiken Fabel und machen diese Reise durch die Geschichte möglich: Die nackten Lover 1 und 2, die auf dem Boden liegen, universelle Symbole verliebter Ekstase, bedienen sich einer von Neologismen durchdrungenen und mit dem Siegel der Konzepte versehenen Sprache von Heute. Beispielsweise ist bei diesem ersten Treffen die Rede von einer umstrittenen „Polyamorie“, die insbesondere im Kontext eines „Coffee-Shops“ stattfindet: Dann sind es der Composer und sein Composer’s Assistant – und wir werden auch hier die trotzige Geschlechtsumkehrung bemerken in das vereinbarte Bild des Composer und seines Composer’s Assistant – die einen „Call“ mit Tokio haben. Der Collector hat sicherlich Édouard Manet (1832-1883), aber auch Henri Matisse (1869-1954) und natürlich auch Andy Warhol (1928-1987) oder sogar Jean-Michel Basquiat (1960-1988) … Die alte Fabel, die in einer beunruhigenden zeitlichen Nähe sehr beliebt ist, hilft uns wie das Aquarell Angelus novus (1920) von Paul Klee (1879-1940), das Benjamin so großartig beschönigt an diesem Vorwärtsmarsch zu denken, die eine Vergangenheit voller Schmerzen nicht ignorieren kann. In diesem Kontext – dem Fortschritt, der an den Ruinen gemessen wird, auf denen er aufgebaut ist – können wir eine eher politische Lesart dieser intimen Geschichte ansetzen.

PICTURE - Szenenphoto mit Anna Prohaska (Zabelle) und Marianne Crebassa (Woman). (© Stefan Brion).

Die Women, die ihr Kind verliert, ist mehr eine Pietà-Figur als eine Art Nachbildung aus der Novelle Die Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche (1670) aus Der abenteuerliche Simplicissimus (1668) von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1621/22-1676) oder auch das Drama Mutter Courage und ihre Kinder (1941) von Bertolt Brecht (1898-1956). Sie versinnbildlicht in der verletzten Welt, die uns umgibt und auch diese Aporie, dieses andere „Untröstliche des Denkens“ für die bemerkenswerte Formel: Die Myriam Revault d‘Allonnes (*1942) für Auschwitz aufrechterhält. Dass es sich um einen im Fleisch der Zivilbevölkerung gezeichneten Krieg handelt. Eine um ihr Kind trauernde Mutter entpuppt sich als metonymische Figur menschlicher Barbarei. Die Ökumene der herangezogenen Quellen – der vier Flüsse der Genesis, aber auch des Korans, des buddhistischen Textes, aber auch noch der Rosen von Isfahan oder die Teppiche von Khorasan, die in ihrem Verschwinden von Zabelle erwähnt wurden – trägt zur Universalität des Charakters und seiner Menschlichkeit bei. In diesen verwüsteten Zeiten, während die Gesichter weinender Mütter und Frauen in Syrien, im Iran, in der Ukraine, vor den Toren Europas unsere Bildschirme bevölkern, lädt uns der Text zu einer bewegten und pathetischen Widerstandskraft ein, es sei denn der Wahnsinn ist  der einzige der Zufluchtsorte dieser verletzten Menschheit: Der Wahnsinn als seine allerletzte Ruhestätte!

Eine Ästhetik der Suche und The Morality Play…

Die rhapsodische Struktur der Suche im etymologischen Sinne von „zusammengefügten Liedern, Oden oder Rhapsein“, die eine reiche Tradition wiederbelebt, konstruiert das unvermeidliche Scheitern und damit die Wiederholung: Die Hoffnung wird wieder enttäuscht! „(E)scheitert(e) wieder, scheitert(e) besser“ - „fail again, fail better“, schreibt Samuel Beckett (1906-1989) am Ende seiner Novelle Cap au pire (1983). Eine eigene Initiationsgeschichte, die Suche in ihrer Dynamik ist jedoch durch das Scheitern ein verändertes Objekt: Wenn das Kind nicht wieder lebt, entwickelt sich im Laufe seiner geduldigen Konstruktion dennoch die erbauliche Struktur. Und die Women im Zentrum der Suche, wenn sie immer enttäuschter aus ihren Begegnungen hervorgeht. Dennoch geht es nicht weiter in Richtung Erbauung, sondern es sei denn, es geht in Richtung Wahnsinn oder auch in eine andere wunderbare Märchenwelt.

Nicht ohne an die Struktur einer Moral oder Morality Play zu erinnern, die angesichts des Todes immer ein Everyman darstellt, schreitet der Text von Crimp im Weiblichen unaufhaltsam durch Iteration von Episode zu Episode voran hin zu einer Lösung, von der wir glauben, dass wir sie bis zur letzten Schicht erraten können. Während die Figur in traditionellen Versionen der Geschichte schließlich in der Akzeptanz der Universalität von Tod und Leid zur Weisheit gelangt, lässt uns die Women von Crimp am Faden dieses zerbrochenen Knopfes in einer anderen räumlichen Zeit zurück und es glänzt in ihrer Hand. Dieser Knopf, der in der Hand der Woman glitzert, entfernt den Text von Crimp deutlich vom erbaulichen Umfang des Ausgangs-Textes, auch wenn Zabelle mit ihrem gesamten utopischen Universum verschwunden ist. Akzeptiert Gotamï den menschlichen Zustand und das damit verbundene Leid, nimmt sich die von Crimp und Benjamin vorgestellte Woman zu nichts vor, stimmt keinem Verzicht zu: Der Knopf, der in ihrer Hand leuchtet, bringt sie dem erhofften Wunder deutlich näher. Das offene Ende von Crimps Vorschlag, der gegen die Tradition verstößt, lädt zu einer reichen literarischen Vergangenheit ein, die sich zwischen dem Märchen mit universeller Tragweite und der verstörenden Durchquerung des Spiegels bewegt, die an das von Lewis Carroll (1832-1898) „unsinnige“ Universum erinnert, in dem sich das Wunderbare aneinander reibt mit dem Tragischen. Hoffnung einerseits, auf der anderen Seite eine düstere Beobachtung, dass am Ende der Geschichte weder Akzeptanz noch Auferstehung zum Vorschein kommt, sondern wahrscheinlich nur Wahnsinn oder Magie: Was auf dasselbe hinausläuft… es sei denn, wir kennen genau diese andere räumliche Zeit des veränderten Bewusstseins: Sei es dass der Musik!

PICTURE - Szenenphoto mit Beate Mordal (Composer), Cameron Shabazi (Composer's Assistant). (© Stefan Brion)

Musik als letzter Aufenthaltsort…

Wenn das endgültige Bild von Crimps Text keinen Abschluss zulässt, führt es uns schließlich in ein nicht klassifizierbares, autotopisches Chronotrop: Das der Musik und der Lyrik! Eben Musik – und insbesondere die Stimme – als Ort des Themas! Der ebenso seltene wie kostbare Text achtet darauf, dass die Musik nicht den ganzen Raum einnimmt… Er hinterlässt Lücken, die Musik füllt. Crimp umschreibt damit eine Poesie für die Bühne, die dem „tonalen“ Modus so nahe wie möglich kommt, den George Steiner (1929-2020) als eine Schrift definiert, die die Modalitäten ihrer Vertonung in sich trägt. Indem er amüsiert zum alliterativen Schreiben aufruft “my music“ , erklärt der Composer, „ist the enemy of boring anomie“, beschwört Crimp eine manchmal populäre Poetik mit fast frechen Akzenten „What is your problem?“ oder „I already told you!“ , aber oft anspruchsvoll und gelehrt, wie in Passagen, die von heiligen Texten inspiriert sind oder sogar wie dieses genaue Zitat, entnommen aus The Garden (posthum 1681) des metaphysischen Dichters Andrew Marvell (1621-1678) aus dem 17. Jahrhundert, der uns dazu einlädt, über die Überlegenheit eines kontemplativen Lebens gegenüber  einem Leben voller Taten nachzudenken: „See how the green light / pierces through the wood / leaving what is / only a green thought within a green shadow“. Der Text oszilliert zwischen Empathie und Grausamkeit. Dies ist auch eine der Konstanten in der Ästhetik von Crimp!

 Während Lover 1 und Lover 2 ein „Teilen“ vorschlagen, das als viel zu großzügig erachtet wird und die Reinheit der Suche und der Liebe verzerrt, ist das was der Vorschlag „Reißverschluss“ gleichzeitig ironisch, zynisch, aber vielleicht auch naiv andeutet, das der Composer wiederum, dessen Musik „burns in the human heart with precise fire“, die extreme Schwierigkeit widerspiegelt, ein Künstler zu sein: „Ah it’s difficult… / but art too“. Dieser auf den ersten Blick in seinem Zynismus verblüffende Vergleich regt auch eine Reflexion über die Macht der Kunst an – was kann Kunst? Eine beharrliche Befragung in diesen unruhigen Zeiten. Doch gerade in den Zwischenräumen dieses luftigen, oft elliptischen Textes entstehen diese musikalischen Atemzüge, die den Hauch des Lebens im Herzen einer Fabel verankern, die darauf abzielt ihn auszurotten. Militanten, Resistenten, haltet die Musik wie die Women die Linie des Lebens: Feu la cendre (1987), schreibt Jacques Derrida (1930-2004). 

Der Knopf, der in der Hand der Woman leuchtet – das endgültige und belastbare Bild – lässt uns die Fülle der Beziehung erfassen von der Musik über das Visuelle bis hin zur ganzen Kraft der Kunst: Nur die Kunst, hier die Musik wie schon in Into the Little Hill, wo sich ein Musiker ohne Augen und Ohren entwickelt, kann den Lauf der Dinge verändern. „Das Visuelle“, schreibt Jean-Luc Nancy  (1940-2021), „ist  definiert als das, was auch in seinem Verschwinden fortbesteht“, während „der Ton erscheint und verschwindet, selbst in seiner Dauerhaftigkeit“. Nach dieser Ewigkeit, die noch lange nach dem Verstummen der Note nachklingt, ersehnt sich sowohl die Women in ihrem Streben nach der Unsterblichkeit als  auch diese Oper in ihrem Ehrgeiz der Ewigkeit.

PICTURE - Szenenphoto mit Marianne Crebassa (Woman) © Stefan Brion

PICTURE A DAY LIKE THIS - Aufführung - Opéra Comique Paris - 28. Oktober 2024

Die Oper als Initiationsmärchen…

Von der tiefen Trauer bis zur eigenen Wiedergeburt bietet der von Benjamin sogenannte vertonte menschliche „Kreuzweg“ mit dem Text von Crimp doch noch einen Hoffnungsschimmer auf dieser trostlosen Wanderung durch eine immer qualvollere Welt: Die dem Fegefeuer mehr und mehr würdig wird! Mit einer Geschichte und dazu noch mit einer minimalistischen Inszenierung, die nicht ohne Poesie ist und mit gequälter und nicht weniger bewegender Musik drängt sich die Trauer einer Mutter als Dreh- und Angelpunkt auf der rastlosen Suche nach einem neuen Glück durch.

Die vierte Zusammenarbeit zwischen den beiden Künstlern, nach Into the Little Hill, Written on Skin und Lessons in Love and Violence, ist mit dem neuen Werk von Benjamin und Crimp gelungen. Eine Idee, die wir bereits in Into the Little Hill finden: Ein Volksmärchen als Allegorie einer sehr menschlichen Erfahrung, hier nicht mit Rache sondern mit Trauer frei inspiriert von der beliebten Erzählung Das Hemd für einen glücklichen Mann, nimmt das Thema den Anschein einer Kindergeschichte an, um den Betrachter besser zu überraschen und ihn durch ein universelles Gefühl zu berühren: Die Trauer, die man nach dem Verlust eines geliebten Menschen empfindet. Diese Co-Produktion ist mit dem Festival d’Aix-en-Provence, die Opéra-Comique Paris, Royal Opera House – Covent Garden, Opéra National du Rhin, Oper Köln, Theatro di San Carlo und das Théâtre de la Ville de Luxembourg verbunden. Die Inszenierung der beiden französischen Regisseure Daniel Jeanneteau und Marie-Christine Soma wollte optisch schlicht sein, um den Zweck der erzählten Geschichte besser hervorzuheben und seine Protagonisten, die sowohl den Inhalt  als auch die Form beleuchten werden. So wandern sie vor diesen Spiegeln, deren Spiegelungen viele leere Korridore darstellen, in denen Bilder und Charaktere aufeinander folgen, deren scheinbares Glück nur eine Fassade ist und sie dazu verdammt in diesen Räumen für die Ewigkeit herum zu spuken.

Die Abfolge verschiedener Szenen, die zu einem magischen Höhepunkt führen, sind von relativ kurzer Dauer, denn die einaktige Oper ist kaum mehr als 1 Stunde und 15 Minuten lang und erweist sich trotzdem als äußerst wirkungsvoll. Nach dem Tod ihres Kindes macht sich die junge Women auf die Suche nach einem vollkommen glücklichen Menschen, von dem sie vor Einbruch der Dunkelheit einen Ärmelknopf abholen muss: Um ihr Kind wieder zum Leben zu erwecken! Was vor reflektierenden Spiegeln folgt und einen labyrinthischen Eindruck erzeugt, sind eine Reihe von Gemälden: Die alle an einer noch möglichen Begegnung einer neuen Hoffnung teilhaben könnten.

Wir müssen auch die Qualität von Crimps Text würdigen, der ein sicheres dramatisches Gespür mit einem kraftvollen Einstieg hat: „My child had barely begun to form complete sentences when he died“ und gespickt mit poetischen Reflexionen “The dead stems of flowers come back to life… so why not my son?” oder „Say that I invent all the nuances of light“. Das Komische wiederum entsteht manchmal, wenn Emotion mit Grotesk mit der Realität konfrontiert werden.

Die schon international bekannte französische Mezzo-Sopranistin Marianne Crebassa als trauernde Mutter und Woman, deren Atem unerschöpflich erscheint, schafft es alle diese Traurigkeit und Verzweiflung zu vermitteln, die die Hauptfigur durch eine vielleicht unmögliche Suche trägt. Ihre ausdrucksstarke Stimme mit ihrem tiefen Timbre lässt mitunter herzzerreißende Schreie und Tonlagen erklingen, die in der stimmlichen Qualität der Interpretation einer dramatischen Rolle mit verletzter Würde fast an die unvergessliche britische Mezzo-Sopranistin Janet Baker (*1933) erinnern.

Auf ihrem Weg zur Erneuerung trifft sie auf die zwei Lovers: Lover 1 und 2, deren Leidenschaft Wunden und Verrat birgt. Das Paar, getragen von der schwedischen Sopranistin Beate Mordal und dem iranisch-amerikanischen Countertenor Cameron Shahbazi demonstriert eine tadellose Diktion und eine wunderschöne Gesangs- und Bühnen-Präsenz! Wir werden uns zweifellos an ihren zweiten Auftritt als weltbekannter Composer und Composers Assistent erinnern. Ein eher komisches Duett, ein wenig grotesk, das der Sopranistin den Vorrang einräumt, deren klare Stimme leicht von Angst gefärbt wird, wenn die Women versucht sie dazu zu bringen zuzugeben: Dass sie glücklich ist! In seiner Rolle als selbstmörderischer Knopf- Artisan und dann später als Dandy-Collector in einem Kostüm, das einem Film aus den 1940er-Jahren würdig ist, glänzt der amerikanische Bariton-Bass John Brancy mit einem sehr ausdrucksstarken Timbre und einer wunderschönen Stimmbreite: Von der großen Verzweiflung seines ersten Auftritts als Artisan bis zur zynisch-kulturellen Verführung, die er quasi verkörpert als „seine“ Rolle: Der schönheitssuchende Collector, der aber trotz der vielen umhüllenden Schönheit nie selbst erfüllt ist!

Das Orchestre Philharmonique de Radio France hört dem Komponisten gewissenhaft zu, der hier den Taktstock in der Hand hält und es schafft, ohne den Sängern den Vorrang zu geben, eine Atmosphäre zu schaffen, die abwechselnd düster, ängstlich und dann wieder magisch ist, mit dem Erscheinen der Doppelgängerin der Woman: Die feenhafte Zabelle, gesungen von der sehr talentierten österreichischen Sopranistin Anna Prohaska hinter einer phantastischen Video-Montage des franco-marokkanischen Video-Designer Hicham Berrada, in dem die Women in einem unwirklichen Garten mit gespenstischem Glanz endlich Hoffnung findet für eine erhoffte Erneuerung, für eine  wirkliche Wiedergeburt und vielleicht auch für die erträumte Auferstehung. Das Duett zwischen Crebassa und Prohaska bildet dank des Engagements und des Talents dieser beiden Ausnahme-Sängerinnen wohl den dramatischen Höhepunkt dieses sensiblen Werks. Sie werden die Oper mit dem wunderschönen Bild von Crebassa  abschließen, die den begehrten Knopf in ihrer Handhöhle entdeckt. Dazu  ein letzter blickender Lichtstrahl, der auf die Bühne projiziert wird…

Wenn von den Texten bis zur Inszenierung alles in dieser Aufführung von der Notwendigkeit zeugt, für alle zugänglich zu bleiben, so wird wohl die Musik sicherlich das umstrittenste Element dieser Produktion sein. Sicherlich zugänglich und im Einklang mit den Gefühlen, die der Text ausstrahlt, bleibt sie dennoch anspruchsvoll – und kann ein „normales populäres“ Publikum verunsichern, das eine Melodie erwartet: Die vollständig an das Ohr geliefert wird! Aber die Abenteuerlustigsten werden dennoch auf dasselbe Ohr hören, um hinter einer schmerzlichen und beunruhigenden Partitur die schönen Momente der Harmonie und Hoffnung zu suchen, die auf den ersten Blick verborgen sind aber doch in diesem poetischen und gewagten Werk sehr präsent sind. Es war ein ganz großes und einmaliges Ereignis und wir persönlich  werden noch lange daran denken. Gegeben falls sollten einige Hörer  ihre Ohren austauschen! Es lohnt sich wirklich… (PMP/02.11.2024)