Paris, Opéra Comique, La Dame Blanche - Francois-Adrien Boieldieu, IOCO Kritik, 27.02.2020
LA DAME BLANCHE - François-Adrien Boieldieu
- ein romantischer Schlossgeist in der Restaurationszeit -
von Peter M. Peters
La Dame Blanche (1825) erblickte das Licht der Welt in einer Zeit politischer Umwälzungen, inmitten der sogenannten Restauration: nach der blutigen Revolution und dem Kaiserreich Napoleons (1769-1821) kehren die ehemaligen Bourbonen auf den Thron von Frankreich zurück, in der Gestalt des Charles-Philippe de France, Comte d'Artois, genannt Charles X (1757-1836). Das berühmteste Werk von Boieldieu (1775-1834) wird deshalb immer als emblematisches Kulturbeispiel einer unsicheren und äußerst korrupten Zeit behandelt. Nicht zuletzt auch der geschichtliche Hintergrund der Oper selbst handelt von alten verlassenen Schlössern und Palästen, von gotischen Ruinen und von der Rückkehr eines Vertriebenen. Es ist die Zeit in der tausende von Immigranten in ihr ehemaliges Land wiederkehren, indem sie jedoch vergebens nach ihren ehemaligen aristokratischen Privilegien suchen. Denn inzwischen hatte sich ein neureiches Großbürgertum etabliert, sodass für sie kein Platz mehr übrig war außer ihren verfallenen Prachtresidenzen.
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Die Epoche der Romantik in Musik und Literatur hatte eine Vorliebe für übernatürliche Geschichten, indem es nur so wimmelte von Gespenstern und schwarzen Mächten, und das besonders in England und Deutschland. In Frankreich mochte man mehr das reelle phantastische Abendteuer mit Menschen aus Fleisch und Blut, dagegen lachte man über übernatürliche Kräfte. Dennoch war es große Mode die englische und deutsche Literatur zu verschlingen. In der Entstehungszeit der Oper las man mit Vorliebe die Romane des schottischen Dichters Sir Walter Scott (1771-1832). Und so schrieb der französische Librettist Eugène Scribe (1791-1861) ein Opernlibretto nach den Romanen von Scott Guy Mannering und The Monastery im Zeitgeschmack mit viel Nervenkitzel und Gänsehauteffekten, aber auch mit viel Humor und Leichtigkeit.
Die Oper wurde ein Riesenerfolg und wurde alleine an der Opéra Comique Paris seit der Premiere bis ins Jahr 1914 nicht weniger als 1675 mal gespielt, dann verschwand das Werk für lange Zeit und erst vor einigen Jahren wurden einige schüchterne Versuche zur Wiederbelebung gemacht. Carl Maria von Weber (1786-1826) auf einer Reise nach London weilte einige Tage in Paris (1826) und schrieb mit Begeisterung nach einer Opernaufführung der Weißen Dame einen Brief an seinen Freund Theodor Hell, Librettist und Übersetzer (1775-1824): „Was für ein Charme !Was für ein Geist !“ Jedoch Franz Liszt (1811-1886) schrieb einen Artikel über die “Dame“ in die Neue Zeitschrift für Musik (Nr 46 -1854), die mit dem Satz endet: „La Dame Blanche wurde schon alleine 777 mal in dem Theater gespielt, für das es geschrieben wurde. Wir können aber nicht garantieren das es im Jahre 1925 (!) noch im Spielplan ist. Womöglich ist es schon zu spät die vertretenen Pfade weiter zu benutzen.“ Was für eine intelligente und hellseherische Analyse über die Gattung „opéra-comique“!
Mit der Neuinszenierung an der Pariser Opéra Comique wird sich zeigen ob das Werk einen festen Platz im Repertoire verdient oder nur als ein seltenes und einmaliges Museumsstück behandelt wird und bald wieder in die verstaubten Schubladen des Vergessens endet?
La Dame Blanche - Premiere 20. Februar 2020 - Opéra Comique, Paris
Noch inmitten der Ouvertüre öffnet sich der Vorhang und man sieht eine bläuliche Videolandschaft mit dunkelblauem Sternenhimmel und Mondsichelgesicht, im Hintergrund ein gotisches Schloss inmitten der schottischen Highlands. Über allem wacht die weiße Video-Dame, die uns im Rhythmus der Musik tänzerisch mit schottischer Folklore verzaubern will. Leider bleibt es bei einer lächerlichen billigen und kitschigen Postkartenromantik im Stil einer Werbung für Lidl-Billig-Reisen.
Der folgende erste Akt spielt praktisch im gleichen bläulichen Dekor, nur zusätzlich erblickt man eine aus großen Felsbrocken geformte Hütte, die wohl das Highland-Wohnhaus des reichen Bauern Dickson und seiner Frau Jenny sein soll. Die phantasievolle Bühnendekoration hat sich wohl irrtümlicher Weise vom 18. Jahrhundert in die Eiszeit begeben und bietet uns eine pittoreske Neandertalbehausung an? Das Ehepaar sucht verzweifelt einen Taufpaten für ihr neugeborenes Kind. Auf dem Vorplatz treffen sich alle Freunde und Dorfbewohner um eine Lösung zu finden. Im ersten Augenblick hofft man auf eine entstaubte glaubwürdige Inszenierung, denn das sieht alles sehr lebendig und natürlich aus. Aber dann kommt die Enttäuschung: Warum steht plötzlich der Chor in einer Reihe standhaft statisch wie eine feste Mauer, singt ohne den kleinen Finger zu rühren und verlässt dann steif die Bühne? Das Spiel der Sängerschauspieler ist künstlich und man denkt an ein Wachsfigurenkabinett, indem die Puppen wie auf einem Schachbrett ausgetauscht werden. Mit dem Eintritt des jungen Offizier Georges Brown wird die Handlung für einige Minuten erfrischend, auch hat unser Ehepaar einen Taufzeugen gefunden. Brown hat es in die Highlands verschlagen ohne zu wissen warum und weshalb er hier gelandet ist.
Der 2. Akt: ein gotischer Raum in einem Nebengebäude des Schlosses. Die alte Amme der vertriebenen ehemaligen Schlossbesitzer träumt versonnen von vergangenen glorreichen Zeiten, dabei dreht sie langsam das Spinnrad. Irgendwie haben wir das Gefühl das sich hier die Gebrüder Grimm verirrt haben und das sie das alternde Schneewittchen dort vergessen haben! Der ehemalige Schlossverwalter Gavestone ist ein korrupter machtgieriger Bösewicht, der mit Ungeduld die Versteigerung des Schlosses zu seinen Gunsten erwartet. Mit der jungen quirligen Anna, Adoptivtochter der letzten Schlossbesitzer, kommt ein wenig Frische und Bewegung in das Haus. Sie hegt seit langem einen verwegenen Plan, denn die mutige junge Frau will auf jeden Preis den Besitz für den einzigen Erben Julian erhalten und auch gleichzeitig ihre Jugenderinnerungen zurück gewinnen. Spätestens hier begreifen wir das die furchterregende Dame Blanche kein anderer als die kokette sympathische Anna ist. Jetzt erscheint auch Georges, der wie versessen nach seinen verlorenen Erinnerungen sucht, er will die Weiße Dame um Mitternacht erwarten. Für die Versteigerung erscheinen auch alle Dorfbewohner, denn mit dem Verkauf ist auch ihr Schicksal besiegelt, da das Dorf zum Anwesen des Schlosses gehört. Wir sind sehr verwundert über die kostbaren eleganten Kleider und Kostüme dieser bäuerlichen Gesellschaft und wir sagen uns, da stimmt doch etwas nicht. Sind wir in die letzte Modenschau von Dior gelandet oder im noch nicht bestehenden Agrarmuseum? Der Besitz wird fast von Gavestone ersteigert, aber da erscheint Georges und bietet entschieden mehr und somit wird er Besitzer. Dieser zweite Akt ist dramatisch und musikalisch sehr gelungen von Seiten des Komponisten und Librettisten.
Auch der dritte Akt ist in diese düstere tintenblaue Farbe getunkt, wahrscheinlich wird Schottland so von dem Inszenierungsteam gesehen. Die Stunde naht, indem der Käufer des Anwesens das Geld an den königlichen Friedensrichter Mac-Irton abliefern muss. Jedoch der naive draufgängerische Georges sah das alles als ein Spiel an, denn er hat keinen einzigen Dukaten in der Tasche. Somit heißt das Gefängnisstrafe für unseren Möchtegern, jedoch im letzten Moment erscheint die Weiße Dame alias Anna und überreicht die Geldsumme an den Staatsvertreter, denn sie hat nach langem Suchen endlich den versteckten Schatz der geflohenen Besitzer gefunden. Das große Opern-Happy End ist vollbracht: Anna erkennt in Georges den vermissten Julian und da sie schon in der Jugend heimlich miteinander flirteten, fallen sie sich natürlicherweise verliebt in die Arme.
Schon oft haben uns gute Theaterregisseure bei ihrem ersten Opernabendteuer sehr enttäuscht, denn sie nehmen das Objekt zu ernst und das Material wird mit zu großer Ehrfurcht behandelt, indem sie alles Wort bei Wort nehmen und vom Libretto ablesen. Und genau das hat sich hier ereignet: Die junge talentierte Regisseurin Pauline Bureau hat sich dermaßen an das Libretto geklammert, sodass keinerlei wirkliche Vision entstehen konnte. Uns erscheint alles schablonenhaft
steif und unecht und die Bühnenpersonen scheinen nicht zu atmen. Auch die Bühnenbildnerin Emmanuelle Roy, die Kostümbildnerin Alice Touvet und die Videokünstlerin Nathalie Cabrol, das gesamte Produktionteam war unserer Meinung ein wenig zu viel in Disneyland. Das Werk Boieldieus hat unserer Meinung doch entschieden mehr Qualitäten und mit einer resoluten wagnisreichen Regietheater-Inszenierung könnte die Oper aus der Schublade des Vergessens ins 21. Jahrhundert gerettet werden. Aber mit dieser kitschigen Postkartenromantik wird Franz Liszt wohl recht behalten, denn diese alten Pfade sind schon zu viel benutzt worden und sind bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt.
Auf der musikalischen Seite sieht das Blatt ganz anders aus: Der junge Dirigent Julien Leroy lässt mit viel Feingefühl, ohne ins Sentimentale abzurutschen, das delikate berauschende Parfüm der Partitur voll erklingen. Das ausgezeichnete Orchestre National d'Île de France und der Chor Les Éléments waren in ihrem Element und gaben alles was zu geben war.
Die Rolle des Georges Brown alias Julian wurde hinreißend von dem Tenor Philippe Talbot gesungen und er sparte nicht mit dem hohem allerhöchsten C. Seine nicht sehr große Stimme hatte jedoch die nötige Kraft alle Hürden zu meistern und kam mit Leichtigkeit über die Bühnenrampe. Sein ausgeprägtes schauspielerisches Talent durchdrang die vielen Facetten seiner Rolle. Seine Arie „Ah! Quel plaisir d'étre soldat!“ im 1. Akt, sowie die Kavatine „Viens, gentille Dame“ im 2. Akt, sang er mit Bravour und Feingefühl.
Die wohl beste Leistung lieferte die Sopranistin Elsa Benoit, indem sie glaubwürdig die Rolle der jungen mutigen Anna interpretierte und das im musikalischen sowie auch im schauspielerischen Sinne. Das schlanke Timbre verbunden mit einer äußerst dramatischen Stimme zeigt die ganze Bandbreite dieser komplexen Person. Ihre große Arie im 2.Akt „Enfin, je vous revois, séjour de mon enfance“, sowie das Duett mit Georges „Ce domaine est celui des comtes d'Avenel“ wird mit Nostalgie und Leidenschaft vorgetragen. Leider hören die Pariser diese wunderbare Stimme nicht viel, denn die Sängerin arbeitet viel im Ausland und ist Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper München.
Der Bass-Bariton Jérôme Boutiller singt Gavestone mit einer finsteren autoritären Stimmlage, die sehr geeignet ist für diese Rolle, jedoch vom schauspielerischen macht er ein wenig zu viel. Es wird eine Karikatur eines Bösewicht vom Dienst, der ungezwungen mit seiner Lederpeitsche in sadistischer Manier fuchtelt. In dem Trio mit Anna und Marguerite (2. Akt) „C'est la cloche de la tourelle“ zeigt er ideal den ganzen dämonischen Charakter seiner Rolle.
Dickson wird von Yann Beuron ideal interpretiert, indem er die joviale selbstgefällige Person des reich gewordenen Bauern außerordentlich gut zeichnet. „Grand Dieu! Que viens-je donc d'entendre?“ (Trio im 1. Akt mit Georges und Jenny) ist eine feine musikalische Studie. Der ehemalige lyrische Tenor hat inzwischen seine Stimmlage geändert und er singt nun als sogenannter Charaktertenor mit einem baritonalen Timbre.
Jenny, seine Frau wird von der Sopranistin Sophie Marin-Degor gesungen. Leider in den Höhen ist ihr Sopran mitunter sehr schrill und es wird das Gegenteil von einem Ohrenschmaus. Ihre einzige Ballade im 1. Akt „D'ici voyez ce beau domaine“ interpretiert die Sängerin jedoch mit viel Charme und Sensibilität.
Die Mezzosopranistin Aude Extrémo zeichnet die alte Amme Marguerite mit ihrem tiefen fast im Alt liegende Timbre im Stil russischer Opern-Ammen: Eleganz, Selbstbewusstsein, Vertrauenswürdigkeit, eben die ganze Palette einer guten Amme. Das Lied im 1. Akt „Pauvre dame Marguerite“ wird in feinen leisen Nuancen von ihr gesungen. In der näheren Vergangenheit war sie eine große Interpretin der fatalen Carmen, jedoch wir haben sie leider nie gehört.
Der korrupte Friedensrichter Mac-Irton wird adäquat von Yoann Dubruque mit einem edlen Bariton interpretiert. Im großen Final „Voici midi: la somme est-elle prête?“ ist eine der wenigen Momente, indem der Sänger sein schönes Timbre erklingen lässt.
Musikalisch ist diese Produktion äußerst gut gelungen und jeder Musikliebhaber konnte zufrieden und glücklich nach Hause gehen
La Dame Blanche an der Opéra Comic, Paris; die weiteren Termine: 28.2.; 1.3.2020
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