Paris,Théâtre de l'Athénée, Ô MON BEL INCONNU -Reynaldo Hahn, IOCO
PARIS - Eindrucksvoller Titel… Hoffnung auf eine ideale oder idealisierte Liebe, ungreifbare Chimäre und unaussprechliche Fantasie. Ô mon bel Inconnu oder die Träumereien dreier einsamer Spaziergängerinnen.
17.01.2025: Reynaldo Hahn: Ô MON BEL INCONNU (1933), Musikalische Komödie in drei Akten mit einem Libretto von Sacha Guitry.
von Peter Michael Peters
O MEIN SCHÖNER UNBEKANNTER!
A ma naissance
On fut surpris
De mon silence
Et même aussi
L’on s’en émut!
„Cet enfant gigote, il remu’,
Disait papa, mais il se tait.“
Car en effet, je gigotais,
Je m’agitait, je remuais…
Oui… mais hélas!... j’étais muet! (Arie des Lallumette / 3. Akt / Auszug)
Eindrucksvoller Titel…
Hoffnung auf eine ideale oder idealisierte Liebe, ungreifbare Chimäre und unaussprechliche Fantasie. Ô mon bel Inconnu oder die Träumereien dreier einsamer Spaziergängerinnen.
Sacha Guitry (1885-1957), wie ein Fisch im Wasser mit seinem Lieblingsthema, hat hier viel Freude daran, uns zum Lachen zu bringen. Er möchte uns aber auch berühren, weil er bestrebt ist uns durch sein ebenso lebendiges und brillantes Schreiben zu zeigen, wie bissig und spirituell das verborgene Gesicht jedes Einzelnen der verschiedenen Protagonisten sein kann.
Der Autor, der Paare wunderbar untersucht, Spezialist für Ehebruch und bissige Wortspiele, genießt es Madame zu kitzeln und Mademoiselle zu necken, um ihre Langeweile und Müdigkeit und ihr Bedürfnis nach „anderswo“ zum Ausdruck zu bringen.
Er verärgert nicht nur den Monsieur, der von seiner eigenen Pracht verwirrt ist, sondern auch das Dienstmädchen, weil natürlich ein verärgertes Dienstmädchen im Haus von Monsieur Guitry einige absurde Pirouetten verspricht. Die 1930er Jahre und ihre Ästhetik stehen im Mittelpunkt!
Die Hauptfigur ist… ein Hut!
Er ist sehr präsent und nimmt in der gesamten Show einen privilegierten Platz ein, sei es in Form eines amüsanten oder poetischen Augenzwinkerns.
Lange fließende Roben, die die Taille sinnlich betonen und elegante Rockanzüge veredeln diese Damen.
Man legt viel Wert darauf, ungeheure Sinnlichkeit und noch mehr Zartheit zu veranschaulichen, indem man hübsche farbige Bouquets hier und dort hervorbringen wird.
Die französische Regisseurin und Schauspielerin Émeline Bayart (*1978) war bestrebt, diese kostbare „übertriebene Authentizität“, die den französischen Operetten und musikalischen Komödien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eigen ist, mit Raffinesse zum Vorschein zu bringen. Hervorgehoben durch Reynaldo Hahns (1874-1947) lyrische Höhenflüge voller Poesie und Humor und somit heben sie freudige Missverständnisse, glückliche List und bewegende Fehler hervor.
Es geht darum, die musikalische Komödie zu feiern, ihr elegante spritzige Farben zu verleihen, sie mit Spaß, Emotion und viel Elan zu interpretieren und vor allem die Freude zu loben, die sie uns bringt…
Das Werk in wenigen Worten…
Der Hutmacher Prosper Aubertin, unzufrieden mit der Routine seines bürgerlichen Lebens, träumt von verwegenen Abenteuern… Dennoch ist er sehr bestürzt, als er unter den Antworten auf seine anonyme Anzeige, die er im Courier du Coeur aufgegeben hatte, Propositionen von seiner eigenen Frau und auch von seiner geliebten Tochter, ja und auch noch sogar von seinem Dienstmädchen bekommt. Um alle ihre Wünsche zu klären, lädt er sie alle in eine gemietete außergewöhnliche prächtige Villa im Süden Frankreichs ein. „Es ist eine bürgerliche Tragödie. Man hätte diese Tragödie Erkenne dich selbst nennen können, sie hätte sehr viel schlimmer enden können“.
„Als es an der Zeit war, es in alexandrinischen Versen zu schreiben und es der Comédie-Française anzubieten, habe ich etwa zehn Minuten darüber nachgedacht… und dann daraus eine Komödie gemacht“, scherzte Guitry. Diese musikalische Komödie ist die zweite Kollaboration nach Mozart (1925) mit dem Komponisten Hahn. Der Komponist genoss damals schon einen verdienten Ruhm in den Genres der leichten lyrischen Stücke wie z. B. Ciboulette (1923), aber er vervielfachte auch noch einige große Erfolge in den sogenannten Pariser Boulevard-Theatern mit: Le Temps d’aimer (1926), Une Revue (1926), Brummell (1931), was somit auch Ô mon bel inconnu nicht in Vergessenheit geraten lässt.
Die Tageszeitung Der Figaro fand darin „die Eleganz des Tons und die Unterscheidung der Form“, die für Hahn in der Zwischenkriegszeit spezifisch war und sah in ihm den legitimen Nachfolger von André Messager (1853-1929) Auch Le Ménestrel war überaus begeistert: „Die Musik von Monsieur Hahn identifiziert sich mit dem Thema mit einer Flexibilität und Sicherheit, die geradezu an ein Wunder grenzt. Es zeigt eine Vornehmheit, ein unvergleichliches Taktgefühl und zugleich eine Verve, die Emotionen nicht ausschließt. Ergänzt wird sie durch eine aufmerksame, bissige Orchestration und eine gelungene transparente Inszenierung“. Was braucht man [mehr], um glücklich zu sein? Eine perfekte Besetzung bei der Uraufführung: Angeführt von Jean Aquistapace (1882-1952) und aufgepeppt von Arletty (1898-1992) in der Rolle der Félicie.
Die Entstehung des Projekts…
Es ist mehr als überraschend, dass das Palazzetto Bru Zane in Venedig, dessen Tätigkeit der Wiederentdeckung des französischen romantischen Repertoires gewidmet ist, seine Energie von Zeit zu Zeit der Verteidigung der Musik der Zwischenkriegszeit widmet? Partituren wie Ô mon bel Inconnu, signiert von den Künstler-Erben des 19. Jahrhunderts, die von Camille Saint-Saëns (1835-1921) ernährt und von César Franck (1822-1890) oder Jules Massenet (1842-1912) erzogen wurden, waren Ende des 20. Jahrhunderts relativ geächtet, denn man warf ihnen vor, durch die Modernität nicht ausreichend aufgepeppt worden zu sein wie z. B.: Arnold Schönberg (1874-1951), Richard Strauss (1864-1949) oder auch Maurice Ravel (1875-1937)!
Diese Operetten gehörten eindeutig nicht zur zeitgenössischen Bewegung und wurden zur gleichen Zeit wie die französische romantische Musik in die Schubladen der Geschichte abgelegt, außer vielleicht: Carmen (1875) von Georges Bizet (1838-1875), Faust (1859) von Charles Gounod (1818-1893) und Les Contes d‘Hoffmann (1881) von Jacques Offenbach (1819-1880).
Wie viele Schätze schlummern auf diese Weise und sind bereit, bei der geringsten Gelegenheit erfolgreich wieder zum Vorschein zu kommen, solange wir ihnen die nötigen Mittel zur Verfügung stellen und sie mit dem gleichen Respekt behandeln wie eine ernsthafte Symphonie oder eine große tragische Oper. Ô mon bel Inconnu ist ein perfektes Beispiel für diese mattierte Pracht. Das Libretto ist von einem Meister des schönen französischen Geistes – Sacha Guitry – signiert und die Musik offenbart die Reife einer frechen Sittenkomödie mit der gewürzten Feder von Reynaldo Hahn zart geschrieben.
Allein die Orchestrierung der Partitur ist den Umweg wert: Wenn der Komponist zu den Streichern nur eine Flöte, zwei Klarinetten, ein Fagott, ein Saxophone, ein Klavier und ein Schlagzeug hinzufügt, schöpft er aus diesem begrenzten Ensemble luxuriöse Klänge, so dass die Ouvertüre und auch die Pausen das Beste daraus machen. Der gekonnte Wechsel zwischen Nummern ganz im Sinne des Café-Konzerts mit der Arie: „Was braucht es, um glücklich zu sein?“ oder „J’connais l’rayon“ („Ich kenne die Abteilung“) und Seiten mit noch romantischen Inspirationen, insbesondere mit der Atmosphäre der Arie von Antoinette und dem „Trio du Bel Inconnu“ weckt immer wieder das Interesse des Zuhörers und ermöglicht es Hahn, sein gesamtes Talent zu entfalten.
Ô MON BEL INCONNU - Aufführung im Théâtre de l’Athénée Paris - 17. Januar 2025
Ein musikalischer Boulevard…
Nach Messager und Albert Willemetz (1887-1964) und ihrem Coup de Roulis (1928) war das Duo, das einige Jahre später von Hahn und Guitry gegründet wurde, an der Reihe die Bühne des Théâtre de l’Athénée zu betreten. Im Jahre 1933 im Théâtre de Bouffes Parisiens uraufgeführt, könnte Ô mon bel Inconnu der Archetyp einer Boulevard-Komödie sein. Ohne die Musik von Hahn wäre Guitrys Libretto nichts weiter als ein einfaches gut gemachtes Varieté-Stück, genauso witzig und pikant wie die meisten seiner Stücke, aber ein wenig veraltet in seiner Satire auf eine sogenannte kleinbürgerliche Welt. Es ist typisch für das dazwischen liegende Frankreich zweier Weltkriege, mit diesem für den Mann so charakteristischen Anflug einer gewissen Frauenfeindlichkeit, seinen pöbelhaften Witzen und dieser brutalen Frechheit, die vor keinem groben Wort sich scheut und fröhlich Poesie und Trivialität kunterbunt vermischt.
Der Komponist aber fügt einen Hauch von Traum, sogar Melancholie, manchmal eine Form von Wahnsinn hinzu, auch in den Arien und Ensembles, in denen der Silbengesang einer italienischen Opéra buffa würdig ist: Wie im Finale des 1. Akts. Wir bewundern die Virtuosität, mit der er die unregelmäßigen, ja sogar völlig freien Verse und auch die Prosa von Guitry vertont. Seine melodische Erfindung – insbesondere in der zentralen Melodie, die dem Werk seinen Titel gibt – und seine wunderschönen Zwischenspiele.
Die Geschichte dieses Hutmachers, Monsieur Prosper Aubertin, der beim zufälligen Durchblättern zum Spaß in einer Kleinanzeige die Frustrationen und heimlichen Wünsche „seiner“ Frauen – gemeint sind seine Frau, seine Tochter und sein Dienstmädchen – entdeckt hatte, aber er ist nicht so wie die allgemeinen Normalverbraucher denken würden: Er ist kein sogenannter „Spießer“! Es beginnt beim Frühstück im Speisesaal der Familie, geht in der Boutique weiter und endet in einer Villa in Saint-Jean-de-Luz. Für diese vom Palazetto Bru-Zane unterstützte Produktion und nach einer verhältnismäßig großen Tour in den vergangenen Jahren ist es jetzt als Wiederaufnahme im Théâtre de l’Athénée zu sehen und wird dann erneut auf Tournee gehen. Was für ein Riesenerfolg? Was für ein Rummel für ein mittelmäßiges Boulevardstück aus der Zwischenkriegszeit?
Die Regisseurin Bayard – die gleichzeitig auch die Rolle des Dienstmädchen Félicie übernommen hatte – stellte sich mit Hilfe des französischen Lichtdesigners Joël Fabing und der talentierten Szenographin und Kostümbildnerin Anne-Sophie Grac eine attraktive Inszenierung in einer einzigartigen Struktur vor. Die auch zu den drei Akten mit überfluteten raffinierten Lichtern und den dazu gehörigen historischen Kostümen eine „wunderschöne“ Atmosphäre der bürgerlichen französischen Zwischenkriegszeit kreierte [sic]. Wahrscheinlich glaubte man im Jahre 1933 auf dieser Seite des Rheins noch an Märchen und war total blind gegenüber dem aufkommenden wilden brutalen Tanz auf dem Vulkan.
Die Regisseurin inszenierte wie erwartet mit ihren Schauspielern in einem entschiedenen Boulevard-Stil, der perfekt zum Ton des Werkes passt: Eine „heile Welt“! Eine „Scheuklappenwelt“!
Zu einer Reihe von fünf gesungenen Rollen fügt Guitry drei exzentrische gesprochene Charaktere hinzu, von denen einer „stumm“ ist. Auf der theatralischen Seite wissen wir nicht, wer lustiger ist: Monsieur Hilarion Lallumette von dem französischen Tenor Fabien Hyon interpretiert, der Vertraute der Familie im Charlie Chaplin (1889-1977) -Stil gemimt vom Sänger, der aber am Ende doch noch singt. Oder der französische Tenor Jean-François Novelli, unwiderstehlich wie… als gebannter Liebhaber Jean-Paul im ersten Akt oder als dickbäuchiger und (un)moralischer Besitzer Monsieur Victor im letzten Akt.
Auf der Gesangsseite verschafft der französische Bariton Marc Labonnette dem Hutmacher Prosper grosse Erleichterung, wirkt aber in einem für seine Stimmfähigkeiten eher im ernsten Bereich manchmal etwas unbehaglich. Die französische Sopranistin Clémence Tilquin verfügt über die Gesangs- Bühnen-Verführung, die für ihre Rolle als Mittelklassefrau Antoinette mittleren Alters erforderlich ist und auch die belgische Sopranistin Sheva Tehoval verfügt über die Frische eines jungen Mädchens mit Namen Marie-Anne zum Heiraten. Der französische Bariton Victor Sicard, der den verliebten jungen Mann Claude singt, geht der Preis für Stil und Eleganz. Zwischen den beiden Registern macht Bayart kurzen Prozess mit Félicie, einer von Arletty geschaffenen Rolle, die sowohl theatralisch als auch gesanglich anspruchsvoll ist und deren berühmte Chalkographie-Arie mit einem Schwung interpretiert wird, der dem ihrer Vorgängerin mindestens ebenbürtig ist.
Im Orchester-Graben führen die zehn Musiker vom l’Orchestre des Frivolités Parisiennes unter der Leitung des französischen Dirigenten Samuel Jean den Tanz mit Effizienz und Begeisterung an. Wenn wir im 1. Akt ein bisschen wie auch sie darauf warten, dass die Musik in einer etwas mitunter zu gesprächigen Musikkomödie wieder zu Recht kommt, vergehen aber ab dem 2. Akt die etwa 2 Stunden 30 Minuten wie im Flug magisch und fast ohne Langeweile dahin.(PMP/21.01.2025)
Auskünfte und Karten: www.athenee-theatre.com +33 / (0)1 53 05 19 19