Paris, Lido 2 Paris, CABARET - John Kander, Fred Ebb, IOCO Kritik, 10.12.2022
CABARET - Musical John Kander, Frank Ebb
Libretto Joe Masteroff, Theaterstück von John Van Druten, Roman von Christopher Isherwood
von Peter Michael Peters
EINE TRAGISCHE „BORDER-LINE“ GESCHICHTE
- I know what you‘re thinking?
- You wonder why I chose her
- Out of all the ladies in the world
- That’s just a first impression?
- What good’s a first impression?
- If you knew like I do
- It would change your point of view
- If you could see her through my eyes. (Gorilla-Song interpretiert von Emcee (Auszug)
Cabaret, von einer Version zur anderen!
Also vom Theater zum Kino, von einer Szene zur anderen und von einer Ära zur anderen verführt das nun im Lido2 Paris gespielte Musical Cabaret mit seiner unfehlbaren zeitgenössischen Anziehungskraft das Publikum. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Premiere des Musicals im Broadhurst Theatre am Broadway kehrt es in einer originalgetreuen Neuinszenierung zurück.
Der Leitfaden einer Geschichte
Ein Roman 1939, ein Theaterstück 1951, ein erster Film 1955, ein Musical 1966, ein weiterer Film 1972 und unzählige Male auf der Bühne… Cabaret ist die Geschichte eines Musicals, das Teil der Dauer einer initialen Geschichte ist, die seit den 1950er Jahren Produzenten, Dramatiker, Regisseure, Choreografen und Schauspieler inspiriert hat. Das Szenario, die Zahl der Beteiligten wurde geändert, die Charaktere haben sich weiterentwickelt… Jede Version ist von der vorherigen inspiriert oder unterscheidet sich von der vorherigen und verheiratete sich somit mit seiner aktuellen neuen Ära. Cabaret ist eine Zeitfabel, stark in der Solidität ihrer Handlung, der Genauigkeit der Charaktere und dem Gewicht des historischen Kontexts, im Jahr 1930 in einer Zeit des Wandels der deutschen Geschichte und auch des Weltgeschehens, aber auch einer individuellen Kühnheit. Cabaret wagt sich an das Extreme: Homosexualität, Abtreibung, der Aufstieg des Faschismus, Antisemitismus, Diskriminierung, das Herannahen eines unvermeidlichen drohenden Krieges. Cabaret zeigt uns den unvermittelten und tollsten halsbrecherischsten Tanz am Rande eines äußerst gefährlichen Vulkan!
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Ursprünglich eine gelebte Geschichte…
Berlin 1929… ein junger Engländer von 24 Jahren aus gutem Hause verlässt London um sich in dem anrüchigsten Sündenbabel der Zeit, in Berlin ansässig zu machen. Sein Name ist Christopher Isherwood (1904-1986), er strebt danach ein berühmter Schriftsteller zu werden und er wird es wohl auch. Aber vor allem versucht er seinem familiären großbürgerlichen Milieu zu entfliehen, um seine Homosexualität frei zu leben. In Berlin wird er seine Muttersprache unterrichten, aber weitaus mehr ist er an dem turbulenten Nachtleben dieser Stadt interessiert: Er durchtobt die Nächte in den vielen berühmten Kabaretts mit seinen Liebhabern. 1931 traf er Jean Ross (1911-1973), eine 19-jährige britische Schauspielerin und Sängerin, mit der er eine platonische Beziehung hatte. Sie wird ihn zum Charakter von Sally Bowles inspirieren. 1933 kommt Adolf Hitler (1889-1945) an die Macht, Isherwood flieht von Berlin, reist zunächst durch Europa und später nach China, bevor er 1939 in den USA ins Exil geht und wo er eine große Karriere als Romancier, Dramatiker und Drehbuchautor beginnt. Nachdem er sich von seiner Familie und seinem Geburtsland getrennt hatte, nahm er 1946 die amerikanische Staatsbürgerschaft an. An seinem ehemaligen Wohnhaus in Berlin, Nollendorfstraße 17, im Stadtteil Schöneberg ist eine Gedenktafel angebracht.
Mehr als ein Roman…
1939 erschien sein erster Roman Goodbye to Berlin, in dem Isherwood unter seinem richtigen Namen seine vier Jahre in Berlin erzählt. Seine Geschichte basiert auf Notizen aus seinem damaligen Tagebuch. So entdecken wir durch die Augen eines blutjungen Engländers, der weiß das er Deutschland jederzeit verlassen kann, das Berlin der 30er Jahren. Er verurteilt nicht, er stellt nur Fragen ohne Antworten als fremder Beobachter und das von der Seite seines Buches Goodbye to Berlin sich so liest: „Ich bin eine gelenkte, absolut passive Kamera, die aufnimmt und nicht denkt. Die zeigt den Mann, der sich am gegenüberliegenden Fenster rasiert und die Frau im Kimono, die sich die Haare wäscht. Das alles gilt es eines Tages zu entwickeln, sorgfältig zu drucken, zu fixieren.“ Über alle Erwartungen hinaus ist diese Berliner Erinnerung des jungen Mannes für immer „fixiert“ und wird den Rahmen für zahlreiche Adaptionen ergeben.
Ein Stück Zeittheater…
1951 wurde der Roman von Isherwood von einem englischen Dramatiker, John William Van Druten (1901-1957), für das Theater adaptiert. Unter dem Titel I Am a Camera, der einen der ersten Sätze des Romans Ich bin eine Kamera… aufgreift. Das aus der Sicht der Erzählers geschriebene Stück spielt im Wesentlichen im Haus seiner Vermieterin. Es wurde im November 1951 am Empire Theatre New York mit wenig Erfolg uraufgeführt
Ein Film ohne großen Erfolg
1955 wurde eine erste Filmfassung von Owen Henry Cornelius (1913-1958) produziert, immer noch unter dem Titel I Am a Camera… Der Skript – nach dem Roman und dem Theaterstück inspiriert – ist von John Collier (1901-1980) signiert, der für seine in The New Yorker veröffentlichen Novellen bekannt war. Die Schauspielerin Julie Harris (1925-2013) übernimmt die Rolle der Sally. Das Drehbuch wurde an die British Board of Film Censors eingereicht und wie erwartet wurde der Dialog und die Handlung drastig redigiert im Sinne eines „Reinheit-Gesetz“ Made in USA.
Die Geburt von Cabaret…
Ein Musical am Broadway im Jahre 1966. Der Produzent Harold Prince (1928-2019) greift das Thema auf, gestaltet es neu. Aus I Am a Camera… wird definitiv Cabaret. Der nun zentrale Kit Kat Klub wird es auch in den folgenden Versionen bleiben. Prince vertraut das Libretto an Joe Masteroff (1919-2018) und dem Duo John Kander (*1927) und Fred Ebb (1928-2004) für die Musik und die Songtexte.
Ein Film mit acht Oscars…
Cabaret wird 1972 adaptiert von Bob Fosse (1927-1987) für das Kino. Er verändert das Libretto und die Partitur. Der Film erhielt 1973 acht Oscars: Oscar für die beste Regie an Fosse, beste Hauptdarstellerin an Liza Minelli (*1946) als Sally, bester Hauptdarsteller an Joel Grey (*1932) als Emcee, beste künstlerische Leitung, beste Kamera, bester Schnitt und beste Musik…
Und viele Neuinszenierungen in allen Sprachen…
Der riesengroße Erfolg des Musicals und auch des Films machten Cabaret zu einem Klassiker der Musik-Geschichte!
Ein fieberhafter Kontext: Berlin 1930
Am Vorabend der Machtergreifung von Hitler: Der historische Kontext von Cabaret ist nicht nur Kulisse, sondern auch das politische Gefüge, das Schicksale erzwingt.
Frenetisch und nervös…
Berlin ist jetzt die Hauptstadt eines Deutschlands in voller Turbulenz. Das kaiserliche Regime von Wilhelm II. (1859-1941) überlebte die Niederlage von 1918 nicht, es wurde von einer revolutionären Bewegung hinweggefegt. Es wurde durch die Weimarer Republik ersetzt, benannt nach der Stadt, in der die neue Verfassung verkündet wurde. So erlebte Deutschland zwischen 1919 und 1933 ein schillerndes demokratisches Zwischenspiel, aber das Regime wurde sehr geschwächt durch die Folgen des Versailler Vertrages und durch eine schwere Wirtschaftskrise, die große Arbeitslosigkeit und einer Hyper-Inflation. Das demokratische Regime der Weimarer Republik wird von den Extremen bestritten: Links die KPD, kommunistische Partei und ganz rechts die NSDAP, eine 1920 von Hitler gegründete Partei, die die Parlamentswahlen von 1932 gewinnen und die zu der Ernennung von Hitler zum Kanzler führen wird, am 30. Januar 1933.
Gleichzeitig wurde Berlin mit dem Aufkommen der Weimarer Republik, mit dem Ende der Zensur als ein mythisches Symbol: Die Hauptstadt der europäischen Kultur-Avantgarde. Ein unvergessliches Zeichen der großen Freiheit vor dem düsteren Ende der Welt! Der Kurfürstendamm konzentrierte Orte der Unterhaltung: Cafés, Theater, Kinos und eine ganze Reihe von Kabaretts… satirisch, erotisch, musikalisch, homosexuell. Mit der Machtübernahme der NSDAP wurde diese Freiheit brutal beendet! Alle Kabaretts wurden geschlossen, die Besitzer und die Künstler verhaftet oder zum Exil verdammt.
Ein Kabarett und eine Pension…
Die Charaktere von Cabaret entwickeln sich an zwei Orten: Die Pension von Fräulein Schneider und das Kabarett Kit Kat Klub, zwei Orte der Vermischung, Spiegel der Berliner Gesellschaft: Ein Unterwelt-Universum, in dem man versucht zu überleben und in dem man sich Illusionen macht, um die wahre Realität nicht zu sehen. Aber plötzlich innerhalb einer Satzwende mit dem Auftauchen einer Nazi-Uniform, lädt sich der politische Kontext ein und die Drohung nimmt Gestalt an.
Die Berliner Gesellschaft vor der Realität:
Die Charaktere von Cabaret sind für einige ein direktes Erbe des Romans von Isherwood, aber um die Komplexität dieses Wendepunktes der deutschen Geschichte zu erfassen und für die Bedürfnisse der Inszenierung wurden einige Charaktere modifiziert. Sieben Personen veranschaulichen die vielen Facetten einer Gesellschaft, in der sich große wichtige Geschichte abspielt: Schicksale erzwingt, Romanzen zerschmettert, eben die von Cliff und Sally, von Fräulein Schneider und Herrn Schultz:
- The MC (Emcee), der Zeremonienmeister des Kit Kat Klub ist der Erzähler, aber ohne weitere Identität, spielt jedoch eine sehr wesentliche Rolle.
- Clifford Bradshaw, junger amerikanischer Schriftsteller, ist unsterblich in Sally verliebt, aber er ist nur auf der Durchreise in Berlin.
- Sally Bowles, junge Engländerin, Stimmungsmacherin im Kit Kat Klub. Sie raucht, sie trinkt und multipliziert ihre erotischen Abenteuer.
- Ernst Ludwig, ein junger Mann, der von der Ideologie des Nationalsozialismus verführt wurde.
- Herr Schultz, ein jüdischer Kaufmann, der bei Fräulein Schneider wohnt und denkt, dass ihm überhaupt nichts passieren kann, weil er Deutscher ist.
- Fräulein Schneider, die Vermieterin: Sie ist Witwe, versucht geschickt alle Krisen zu überwinden, verzichtet aber darauf, Herrn Schultz zu heiraten, weil er Jude ist.
- Fräulein Kost, eine Untermieterin von Fräulein Schneider, die keine andere Wahl hat als die Prostitution um zu überleben.
Eine tragische „Border-Line“ Geschichte
Würde das Publikum eine solche Show akzeptieren, in der ein talentloses Mädchen mit einem ausschweifenden Leben eine Abtreibung macht? Außerdem lebt sie bei einer Vermieterin mit wechselnden politischen Sympathien. Ihre Nachbarin ist eine Prostituierte und das alles vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus und Antisemitismus in Berlin der 1930er Jahre. Hinzu kommt noch, dass die originale Geschichte – nach der das Musical adoptiert ist – von einem englischen Homosexuellen geschrieben wurde…, wie Masteroff, der Autor des Libretto, 2014 in einem Interview betonte: „Das Musical hatte vieles gegen sich! Wir produzierten etwas, das noch nie zuvor gemacht war…/…und wir waren uns bewusst, dass wir uns ständig auf einem gefährlichen Terrain bewegten.“ Aber trotz allem wurde Cabaret ein einmaliger weltweiter Erfolg!
CABARET - am 2. Dezember 2022 im Lido 2 Paris:
Eine Parabel unserer zeitgenössischen Moral…
Die Neuinszenierung von Cabaret mit dem Hintergrund vom schnellen und brutalen Aufstieg des Nationalsozialismus beleuchtet die gefährlichen Abgründe unserer gegenwärtigen Gesellschaft. „Willkommen, Bienvenue, Welcome!“ Der erste Song aus Cabaret ist ein gewaltiger weltweiter Erfolg! Er erklingt noch immer seit dem Jahr 1966, dem Entstehungsdatum von Kanders und Ebbs wirklich einzigartigen Musicals, produziert von Prince. Aber es klingt jedes Mal anders! Im Jahre 1966 verfolgen gewissermaßen die „Nazis und Berlin“ die überlebenden Juden noch immer, die dann aber am Broadway triumphieren. Aber die Nachrichten dieser Tage sind die weltweiten Demonstrationen von Weißen gegen die Anwendung von Rassen-Diskriminierungs-Gesetzen, die Prince wahrscheinlich sehr treffen würden. Die von grausamen Erinnerungen wiederbelebten Bilder der wütenden um sich schlagenden marschierenden jungen blonden Menschen-Massen werden überlagert mit verblichenen Bildern. Die Geschichte stottert… die Geschichte wiederholt sich? Wie kann man vor den Auswüchsen des Populismus warnen und gleichzeitig seine guten Ideale mit Klarheit proklamieren? Was verbindet die Menschen? Was zerbricht die Verbindung?
Ist es die Verwirrung oder die Begeisterung, die diese Inszenierung zur Neueröffnung des Lido 2 Paris auf den Champs-Elysées beherrscht. Der kanadische Regisseur Robert Carson, der diese Produktion signiert hat, stellt den Zuschauer an den Rand eines Abgrunds. Man wiederholt die Songs und Refrains: “Willkommen, So What, Don’t Say Mama, Tomorrow Belongs to Me, usw…” Dargeboten von einer vollkommen englischen Besetzung, die stimmlich, schauspielerisch sowie tänzerisch ungemein fesselnd und perfekt ist. Die vielen brillanten Sterne im Lido irritierend für unsere verwunderten Augen erhellen jedoch kompromisslos die Abgründe des Augenblicks.
Carsen führt den Tanz mit einem chirurgischen Genie an. Die Unterhaltung ist da: Fröhlich und dekadent zugleich wie der Zeitgeist. Die Revue des Kit Kat Klub versetzt das Publikum in eine Begeisterungs-Welle voller Vergnügen und aber auch in ungeahnte unaussprechliche Gefahr. Die Tänze verschlingen den ganzen Raum des Lido 2, das Orchester klingt sehr laut und klar. Carsen spielt das Spiel des Kabaretts und integriert das Publikum, indem es bequem installiert an Säulentischen mit gutem Champagner und schrecklichen überteuerten geräucherten Lachs-Häppchen serviert wird. Emcee, der Zeremonienmeister verkörpert eine perfekte Verbindung zwischen dem Berlin von Sally Bowles, dem von Isherwood und dem Europa von heute. Strahlend und monströs, verstörend, formlos und mächtig, nicht Frau noch Mann, er ist der teilnahmslose Beobachter der Tragödien, die vorübergehen und einander ähneln, obligatorische Zahlen in der Geschichte. „Life is a cabaret“ singt Sally Bowles!
Die Interpreten:
Lizzy Connolly (Sally Bowles); Sam Buttery (Emcee); Oliver Dench (Clifford Bradshaw); Sally Ann Triplett (Fräulein Schneider); Gary Milner (Herr Schulz) Ciaràn Owens (ErnstLudwig), Charlie Martin (Fräulein Kost und Dance Captain).
Die Kit Kat Girls und Boys:
Carl Au, Luke Johnson, Dominic Lamb, Nic Myers, Olivier Ramsdale, Clancy Ryan, Kraig Thornber, Poppy Tierney, Hannah Yun Chamberlain, Elizabeth Fullalove, Natasha May-Thomas, Fraser Fraser, Darnell Mathew-James, Rhys Batten, Anya Ferdinand, Rishard-Kyro Nelson, Charlie Shae-Waddell.
Robert Carsen (Regie); Luis F. Carvalho (Kostüme und Dekoration); Fabian Aloise (Choreografie); Giuseppe di Iorio (Beleuchtung); Bob Broad (Musikalische Leitung), Orchester des Lido 2 Paris, (PMP/07.12.2022)
Cabaret-Produktion läuft im Lido2 von Paris bis zum 3. Februar 2023. „Sie sind herzlichst eingeladen! Willkommen…! Bienvenue…! Welcome…!“
CABARET im Lido2 Paris - Termine, Karten - Link HIER!
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