Paris, Festival d`Automne - La Villette, PIERROT LUNAIRE - Arnold Schönberg, IOCO Kritik, 02.12.2022
PIERROT LUNAIRE, Op. 21 - Arnold Schönberg
21 Melodramen nach Gedichten von Albert Giraud - Übersetzung Otto Erich Hartleben
von Peter Michael Peters
- ZWISCHEN NOSTALGIE UND IRONIE…
- O alter Duft aus Märchenzeit,
- Berauschest wieder meine Sinne!
- Ein närrisch Heer von Schelmerein
- Durchschwirrt die leichte Luft. (21. O alter Duft /Auszug)
Passagen und Paradoxien
Vorstellung am 25.11.2022: Es ist bemerkenswert in welchem Ausmaß einige der meistgespielten Werke des Repertoires auf ein einzigartiges Analysen-Niveau reduziert werden und dessen Material und Herangehensweise weit davon entfernt ist die Mysterien zu durchdringen, im Gegenteil dazu beitragen das Mysterium ein wenig mehr zu verdichten. Pierrot lunaire wird nie wirklich beliebt sein, aber dennoch ist es ein immer wiederkehrendes Stück in den Konzert-Programmen und auch das bekannteste von Arnold Schönberg (1874-1951). Es zum Laboratorium für die Interpretation des Sprechgesang machen zu wollen, ist alles in allem unvermeidlich, wenn auch schrecklich reduzierend und um die Wahrheit zu sagen, ziemlich sinnlos angesichts der unsicheren, um nicht zu sagen obskuren Angaben des Komponisten zu einer Aufführung seines Werkes. Das Stück soll vor allem an eine rein formelle Dimension gebunden bleiben und andere viel substanziellere Spuren bewusst vernachlässigen, die aber vielleicht auch zur Entschlüsselung einer intimen Botschaft führen könnten. Schließlich nur darauf zu bestehen, dass es als ein sogenanntes isoliertes Werk durch seine neuen Ausdrucks- und Formmerkmale zu sehen, hilft der Kompositionen in keiner Weise einen größeren Bekanntheitsgrad zu erhalten. Während es in Erwartung, op. 17 (1924) oder in Herzgewächse, op. 20 (1928) sich vervollständigt und auch der leichten Muse entlehnt wird, aber dennoch den seriellen Ansatz vorwegnimmt: Stellt es also eine notorische Lücke von einer sogenannten Exegese dar!
Pierrot lunaire - Portrait Marlene Monteiro Freitas youtube Festival d`Automne [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Der Zyklus Karneval, Op. 9 (1835) von Robert Schumann (1810-1856) wird in den Werken von Johannes Brahms (1833-1897) fortgeführt und überspannt die Generationen, um den jungen Paul Hindemith (1895-1963) herauszufordern, dessen provokative Haltung gegenüber der musikalischen Tradition mit Mehrdeutigkeit verwoben ist. Auf ikonoklastischer Weise entwickelt sich In einer Nacht – Träume und Erlebnisse (1919) zu einem radikalen Bruch der Tradition, indem es sich drei virtuosen antiromantischen Stücken nähert und nachdem es durch eine eher impressionistische als germanische Schreibweise die fantastische Atmosphäre der Nacht nachempfunden hat. Es ist außerdem ein französisches Werk Gaspard de la nuit (1908) von Maurice Ravel (1875-1937), das an die expressionistische Welt Schönbergs grenzt. Die Geste des Lachens, das zu Tränen führt von der Angst der makabren Atmosphäre sowie die Vision des schwer fassbaren Gnom Scarbo. Sie wirkt wie, „wenn um Mitternacht der Mond am Himmel erscheint wie ein silberner Schild auf einem azurblauen Banner mit von goldenen Sternen übersäht“ ist und entwickelt einen Ausdruck bis zum Grotesken. Diese Dimension wurde aufgrund von Aloysius Bertrand (1807-1841) behandelt, der seine Inspiration von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776-1822) und in den Gravuren von Jacques Callot (1592-1635) bezieht, aber auch in der Symphonie fantastique, Op. 14 (1830) von Hector Berlioz (1803-1869). Es erscheint in einer viel ambivalenteren Form, voller Ausbrüche und Unausgesprochenem bei Albert Giraud (1860-1929) und Otto Erich Hartleben (1864-1905), deren Zyklus Teil eines Gemäldes der Neurose ist. Pierrot lunaire ist die kombinierte Inkarnation des leerlaufenden narzisstischen Dandys, des verrückten Verräter und Entwurzelten, der seinen Platz auf dem sozialen Schachbrett verloren hat. Das Leitmotiv des Kreislaufs ist in der Tat die Angst, die sich sowohl im Grotesken als auch im Grauen ausdrückt.
Angst und Neurose…
In seinen Fünf Liedern, Op. 4 (1909) komponiert nach Gedichten von Stefan George (1868-1933), hatte Schönberg den Weg zur Emanzipation der Tonsprache evozierend erklärt und auch um sich einem neuen Form- und Ausdrucksideal zu nähern. Pierrot lunaire wird sich weiter auf ein völlig unbekanntes Land einlassen, indem er den psychologischen Pfad vervollständigt, der in Erwartung vorgezeichnet wurde. Am 12. März 1912 notierte der Komponist in seinem Berliner Tagebuch: „Ich habe die Überzeugung, einem neuen Ausdruck entgegenzugehen, ich fühle es! Die bestialischen Klänge verwandeln sich sofort in Pulsationen, wo sich die Schwingungen der Sinne, der Seele vermischen. Als wäre es eine direkte Transkription.“ Die beiden Stücke, die Theodor W. Adorno (1903-1969) unter der Kategorie Die Traumprotokolle (1903/1969) zusammenfasst, erweisen sich auf den ersten Blick als stilistisch merklich unterschiedlich: Erwartung ist ein einteiliges Monodrama, Pierrot lunaire eine Abfolge aphoristischer Melodramen. Die erste installiert einen musikalischen Fluss, der alles Notierte ausschließt und ein System dissonanter Akkorde einschließt, die auf den Dur-Akkorden basieren. Die zweite wird durch ein ständiges Spiel von Referenzen betrieben, sowohl formal (Passacaglia und Variation…), historisch (Barock in 6. Madonna…) und harmonisch (die Anziehung zur Konsonanz in einem atonalen Kontext). Die beiden Werke, Wortführer eines historisch pathologischen Zustands (das Klima der Angst und die Tendenz zur Introvertiertheit wie zur Egozentrik beziehen sich auf die Kategorie des Expressionismus), sind jedoch Teil der Dimension des Traums und der Introspektion der übersetzen Angst, indem sie sich auf eine asymmetrische musikalische Prosa verlässt. Der Ausdruck der Angst offenbart sich nicht nur durch einfache Assoziationen (Spielweisen wie col legno , Chromatiken…) oder durch den abgehackten Vortrag der Deklamation (10. Raub), sondern mittels einer musikalischen Metasprache angetrieben von gemischter Rezitation. Der Athematismus und die motivische Prägnanz, der als dramatisches Prinzip gesetzte Dauerkontrast, mit einem Wort: Das Extrem konnte nur die Feinseligkeit einer mit ihren Schöpfern zerstrittenen Gesellschaft auslösen! Charakteristischerweise beruht das Phänomen der Ablehnung gegenüber atonalen Werken auf ihren literarischen und musikalischen Symbolen. In den Kommentaren der damaligen Zeit erscheint Schönberg in einem höchst unmenschlichen Licht: Er wird in seiner Musik mit scharfen, glühenden Dolchen dargestellt, mit denen er das Fleisch seines Opfers einschneidet und die Messer endlos in der Wunde dreht…
Kabarett und Melodramen
Der an Schönberg gerichtete Auftrag des Pierrot lunaire von der Schauspielerin Albertine Zehme (1857-1946), die selbst die von Otto Vrieslander (1880-1950) zu diesen Thema komponierten Liedern (1904) interpretierte, stellte das Werk in die Bewegung des Melodramas und des Kabaretts (in seiner esoterischen Form): Eine Ausdrucksform, die dem Komponist sehr vertraut war von Wien und Berlin. Wenn wir uns die bewundernswert veralteten Fotos des berühmten Kabaretts Überbrettl, eröffnet im Jahre 1901 von Baron Ernst von Wolzogen (1855-1934), ansehen und in dem Schönberg zwischen 1901 und 1903 seine Brettl-Liedern (1901/1903) komponierte. So wird uns schnell bewusst, dass es viel mehr eine musikalische Form im Rahmen des architektonischen Jugendstils ist und auch in seiner Ausführung, der aber dennoch zehn Jahre später großen Einfluss auf Pierrot lunaire haben wird. Denn diese Lieder zeigen keineswegs eine Vorwegnahme einer Schreibtechnik, sei es im Prinzip des Melodramas oder im Sprechgesang.
Das Berlin-Abenteuer interessiert uns vor allem durch dieses zwiespältige Verhältnis, das Schönberg zu der leichten Muse pflegte. Es sei daran erinnert, dass einige der Interpreten bei der Uraufführung von Pierrot lunaire aus Instrumentalisten der Nacht-Cafés bestanden. Durch seine durch Stilisierung maskierten instrumentalen Gesten tritt das Werk direkt in die Welt dieser Kapellen ein, die sowohl in Etablissements etabliert als auch im Rahmen des bürgerlichen Hauses nachgeahmt wurden und die beim Komponisten eine Nostalgie (verbunden mit dem Habsburger Reich?) mit Ironie (durch Klangklischees!) verursachten. Wenn wir in der Nachwelt dieser instrumentalen Verbreitung – die auch das Vorbild des für die Sitzungen der Gesellschaft privater Musikaufführungen empfohlenen Kammer-Ensembles war – in der modernen Musik des 20. Jahrhunderts kennen, können wir diesen Einfluss des leichten Repertoires über ernste Musik nicht mehr verbergen. Schönberg selbst hat Oscar Straus (1870-1954) während seiner Tätigkeit im Bunten Theater Berlin (Überbrettl) kennengelernt, er war auch voll des Lobes für Franz Lehár (1870-1948) und widmete sich mit einem wahren Begeisterung-Kult für die Walzer von Johann Strauss II (1825-1899), insbesondere dem Kaiser-Walzer, Op. 437 (1889): Er arrangierte eine Transkription (1925) für ein Kammer-Ensemble.
Ironie und Distanzierung
Wäre das Kabarett in seinem vergeistigten Ausdruck und in seiner literarischen Dimension das Medium, das dazu bestimmt wäre diese Schranke aufzuheben? Ein Unterfangen das Schönberg beeinflusste von den Theorien im Der Blauen Reiter (etwa 1911) und die er in seiner Oper Die glückliche Hand (1924) verwirklichen wollte! Der vom Komponisten in einem Brief an Fritz Stiedry (1883-1968) im August 1940 vorgebrachte „leicht ironische und satirische“ Ton und die Distanz, die den Sprechgesang durch Freiheit und deklamatorische Betonung herstellt, tragen ihren Stein zum zukünftigen Bau bei. Seit der Kreation und Interpretation des Pierrot lunaire haben wir uns daran gewöhnt, eine Dimension auszulöschen, die dennoch sehr präsent ist und durch den Trick der Täuschung wirkt. Durch seine besonderen Eigenschaften verzerrt der Sprechgesang tatsächlich zu einem falschen Eindruck! Indem er die Ruhe auf diese und jenen Grad bannt, stellt er die Tonhöhe zugunsten von Phrasierung und Klangfarbe in Frage und macht die Deklamation zu einem Parameter unter anderen innerhalb des Instrumental-Ensembles. In diesem Sinne wird das klassische Phänomen der dramatischen Identifikation schwer zu bewerten sein. Welche Beziehung besteht zwischen dem Rezitator – hier eine Frau – und dem Helden? Können wir die Hinweise wörtlich nehmen, die die Entwicklung des „Dramas“ in 18. Der Mondfleck begleiten? Die mikroskopische Herangehensweise an den Text in 10. Raub, die extreme Differenzierung von Dynamik, die tempi, Phrasierung und Rezitationsart spiegeln einen zugespitzten melodramatischen Ansatz wider, der dem Profil von Zehme sehr naheliegt. Wäre dies nicht auch ein Rückfall des gewaltigen Mythos von Sarah Bernhardt (1844-1923), die damals sehr bewundert wurde aber auch gleichzeitig viel belächelt wegen ihrer furchtbaren altmodischen Bühnen-Expression? Die aber Schönberg für seine Sprechgesang-Technik zu korrigieren versuchte! Die abschließende dreifache Wiederholung von 7. Der kranke Mond ist diesbezüglich sehr aufschlussreich: Der letzte Takt des Melodramas enthält die Angabe „Dieser Takt anders, aber doch nicht tragisch!“ Karl Heinz Stuckenschmidt (1001-1988) berichtete, dass der Komponist bei der Interpretin interveniert hätte, indem er ihr in das Ohr flüsterte: „Verzweifeln Sie nicht, Frau Zehme, verzweifeln Sie nicht. Wir haben dass, was Sie als Lebensversicherung brauchen!“ Wir sind nicht weit entfernt von „Nicht ganz so ägyptisch“, das 1927 Bertolt Brecht (1898-1956) Lotte Lenya (1898-1981) zugerufen hat, als diese ihm privat den Alabama-Song aus der Oper von Kurt Weill (1900-1950) Der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930) deklamierte. Der Ansatz, der aus dem Vorwort von Pierrot lunaire hervorgeht – Schönberg warnt vor einer Interpretation von Melodramen aus dem Textwort – ist zudem typisch für die Brecht-Interpretation und erinnert an die Art und Weise, wie der deutsche Dramatiker den Begriff der Distanzierung durch die Art des Singens der Songs (1937) formulierte. Es ist derselbe didaktische Ton, der manchmal die Nebulosität und Verwirrung zu ignorieren scheint, die diese Theorien hervorrufen können. Es ist vor allem die differenzierte Darstellung der verschiedenen Ausdrucksarten: Bei Schönberg ist der gesprochene und der gesungene Ton, ohne das „singende“ gesprochene Wort oder das natürliche realistische gesprochene Wort zu sein. Bei Brecht ist es eine prosaische Rede, ausgehaltenes Sprechen und Singen, die „immer voneinander getrennt bleiben müssen“. Der von Schönberg empfohlenen rhythmischen Fixierung des Textes wird Weill in seinem Aufsatz Über den gestischen Charakter der Musik (1929) Rechnung tragen. Schönbergs Theoretisierung des Sprechgesang ist somit zwischen der Idee der sogenannten Brecht’schen rhythmischen Melodie angesiedelt, einer einfachen Notation des gesprochenen Rhythmus. Die jedoch jeden Prozess der dramatischen Identifizierung ausschließt und somit der melodischen und sogar lyrischen Ausarbeitung, die von Weill zugewiesen wird und der Musik ihre volle Kraft verleiht.
Das als Aphorismus konzipierte Melodrama eignet sich besonders gut für den ironischen Umgang mit den vom Text vermittelten Symbolen. In 19. Serenade und 17. Parodie stand die Schaffung einer besonderen Atmosphäre mit einer ironischen Vision von Virtuosität (Cello-Solo), Unterhaltung oder Sentimentalität zugrunde. Die Beschreibung der „Liebe mit Schmerzen“ wird durch die mit Madrigalismen operierenden Manier der Schrift verschärft: Der Kanon im Spiegel zwischen Klarinette und Bratsche gibt die Bewegung der Stricknadeln wieder, das Summen der Girlanden eines Triple-Haken im zweiten Teil drücken das Murmeln aus. Die Schrift von Pierrot lunaire ist mit Ornamenten (14. Die Kreuze) und melismatischen Formeln übersät, die diese gelegentlichen Übersetzungen zu einer Abstufung von Effekten machen. Die Psychologie der Jahrhundertwende hat die Ironie zu einem festen Bestandteil des Narzissmus gemacht. Die Konzentration auf das Ich wird von einer großen Selbstironie in ihrer ganzen krisenhaften Dimension begleitet. Schönberg erfüllt dies in der Darstellung des ebenso verstörenden wie lächerlichen Bildes des Mondflecks auf dem Rücken von Pierrot lunaires Mantel (18. Der Mondfleck). Wie sollte man darin nicht die musikalische Umsetzung eines seiner Selbstbildnisse von hinten sehen, wie es der Komponist in den Jahren 1908/1910 mit Hilfe eines Spiegels anfertigte ? In diesen Melodramen steht die Schlüssel-Passage der Entdeckung symbolisch im Zentrum des Stückes und leitet die Wiederholung des ersten Teiles ein.
„O alter Duft“: Hier spricht der Dichter selber!
Am Ende der Kinderszenen, Op. 15 (1838) von Schumann wird der Ton plötzlich ernster, der Ausdruck reduzierter, getragen von der sich in die Höhe drängenden Frage. Der Zyklus endet und doch setzt eine zusätzliche abgründige Tiefe ein! Was für eine schöne Vorfreude auf das letzte Melodrama von Pierrot lunaire. 11. Rote Messe, strategisch in der Mitte des Zyklus platziert, erreicht den Höhepunkt der expressionistischen Vision durch die morbide Darstellung der Eucharistie. 21. O alter Duft, das zum Abschluss gewählt wurde, übernimmt sowohl die Funktion der Erinnerung – in der Dramaturgie von Pierrot lunaire – als auch die der Projektion auf einen Schlüssel-Moment in der Entwicklung von Schönberg. Die alptraumhaften Visionen haben sich durch die symbolische Figuration der parnassischen Schrift verflüchtet. Allerdings war die traumhafte Dimension, die hier von der Idee des verlorenen Paradieses dominiert wird, noch nie so stark. Die Krönung von Pierrot lunaires Abenteuern ist wirkungsvoll und vollständig: „Ein närrisch Heer von Schelmerein / Durchschwirrt die leichte Luft“. Es entsteht eine Distanz, wenn der Dichter in der ersten Person spricht. Es ist die Atmosphäre eines Schumann’schen Märchens, die einsetzt und eine intime Geschichte erzählt, der wir aufmerksamer zuhören je näher wir an das Ende gelangen: Alles getragen von der Fülle der tuttis und den Chorsätzen. Komfort und Sicherheit: Wohl etwas Unerreichbares für Schönberg! Aber der Begriff Heimat, der in seinem Essay Harmonielehre (1910) vorhanden ist, kommt in den vorangegangenen Melodramen immer wieder vor. Sollten wir darin eine doppelseitige Ironie sehen, die Inkarnation der Figur von Pierrot lunaire? Es besteht kein Zweifel, dass die hier notierten tonalen Referenzen in früheren Nummern durch Konsonanzen vorbereitet sind, die mit der Idee von Heimat, von Sicherheit verbunden sind. „Wir kommen immer wieder“, bemerkt Schönberg in einem seiner Späten Texte (1948). Diese Synthese zwischen der Erinnerung an die Ursprünge, der Tonalität und dem Schumann’schen Traum, parallel gestellt zu dem neuen Weg und dem angekündigten Serialismus. Würde dann das Wesen von Pierrot lunaire verändert sein?
PIERROT LUNAIRE - 25. November 2022 - Grande Halle de la Villette Paris
Pierrot lunaire oder der versteckte Mond - beim Festival d`Automne à Paris…
Dieser Pierrot lunaire beim Festival d’Automne à Paris ist ein eigenartiger bizarrer Abend! Das gespannte Publikum tritt in die fast völlig dunkle Halle de la Villette ein und setzt sich wie in einer Arena um ein schwach beleuchtetes Podium, das im ersten Eindruck an einen Boxring erinnert. Die ersten Noten sind als eine Art von „Zwischenräumen“ propagiert, die von dem deutschen Pianisten Florian Müller an das Publikum adressiert werden: Er interpretiert einen Popsong Nothing Compares to You (1990) von Sinead O’Connor (*1966) mit seiner äußerst talentierten Crooner-Stimme. Es stimmt auch, nichts gleicht der Musik von Schönberg und nichts gleicht oder erinnert an Pierrot lunaire! Die kapverdische Choreografin Marlene Monteiro Freitas wird uns in das von ihr auf das doppelte aufgeblasene Werk noch viele Male zeigen, sodass wir eher stark verärgert denn sehr verblüfft sind. Weil ihre „Zwischenräume“ einfach zu viel unangemessenen Platz einnehmen in ihrer nacherzählten Geschichte des Pierrot lunaire.
Dieser gleiche Crooner-Pianist wird auch als ein Abguss von Dr. Mabuse in weißer Schürze auf einem rollenden Seziertisch die Innereinen seines Klaviers dem Publikum zur Schau stellen, bevor er sie fertig zum Spielen in den Unterbau montieren wird. Auch seine Musikerkollegen sind alle am Anfang von der medizinischen Fakultät gekleidet, später aber wechseln sie alle ihre Kostümierung! Man kann es sich aussuchen, jeder von uns im Publikum wird seiner Fantasie freien Lauf lassen. Wir persönlich dachten etwa so: Als stumme Mitglieder eines teuflischen Geheimbundes…, oder einer neuen Religionsgemeinschaft…, vielleicht auch Angehörige einer seltsamen Priestersekte… (?) Es ist schwer zu erraten! Alle erscheinen jetzt in langen schwarzen bedrohlichen Inquisitions-Talaren mit einer schwarzen Kardinalskappe. Aber was sehr lustig dabei ist, es macht überhaupt keinen Eindruck auf uns, es ist kein Horror-Trip, nein im Gegenteil es ist alles voll von ermüdender Müdigkeit. Immer wieder kommen Anweisungen oder Kommentare aus dem Off. Walkie-Talkies werden, als wären es Babys, in Tücher gewickelt auf die Bühne getragen und gewiegt, ohne jedoch damit den aus ihnen tönende Coronahusten mildern zu können. Es gibt ein längeres Intermezzo von Rückkoppelungsgeräuschen. Es werden einzelne Stimmen geprobt und wiederholt, ein Geigenbogen verwandelt sich in eine Angelrute, es wird ausgiebig ins Publik geschielt, es wird gegessen oder Zähne geputzt. Kurzum, es ist ein gewaltiger chaotischer Lärm um Nichts!
Das komische an dieser Konkordanz der Zeit ist, dass sie sich bei vielen Künstlern wiederfindet: Seit Beginn des Festival d’Automne à Paris haben wir gesehen wie z. B. der schweizerische Regisseur Christoph Marthaler Geigen zerbricht. Der französische Regisseur Philippe Quesne verbrennt Klaviere: Die Worte von Giraud sagen nichts anderes aus! Die Instrumente, die hier auch missbraucht werden, sind das Symbol der zusammenbrechenden zivilisierten Welt. Girauds Worte sagen nichts anderes. Er spricht von „Lune fantasque“, von « arrière-goût troublant comme un crachat sanguinolent », von « notes assourdies », von « un grotesque archet dissonant » oder auch noch vom „charme du spleen brisé ». Jawohl ! Aber warum dann diesen anderthalbstündigen unsinnigen Klamauk auf der Szene? Kann man nur so die tief-schürfenden Worte von Giraud…, die tief-introvertierte Musik von Schönberg deutlich machen…? Wir glauben nicht!
Die Musiker und der deutsche Dirigent Ingo Metzmacher rollen auf ihren beweglichen Hockern um die in der Mitte wie auf einem Thron postierte schwedische Sängerin und Stimmkünstlerin Sofia Jernsberg herum und formieren sich zu einer rollenden Parade, die kichernd und johlend ins Publikum winken. Man macht die affigsten Grimassen und verbiegt die Körper und die Glieder in den unmöglichsten Positionen. Oder sie liegen auch einfach in Schlafstellung irgendwo auf dem Boden, auf dem Tisch oder sonst wo. Dann kribbeln sie wieder auf allen Vieren wie Insekten wahnsinnig herum. Wir würden sagen es ist nicht mehr als ein jämmerliches Freak Ballett mit wahnsinnigen Klonen oder wiederauferstandenen Zombies. Logischer Weise bei all diesem unsinnigen Mordsgeschrei können diese großartigen Musiker vom Klangforum Wien nicht immer ihr Bestes geben und so leidet natürlich die extrem komplizierte Musik von Pierrot lunaire daran. Immer wenn dann endlich gespielt wird, leuchtet das rote RECORD-Zeichen an der Decke auf. Jernsberg richtet ihren schweren Körper müde und phlegmatisch wie ein weiblicher Buddha auf und mit ihrer schrillen Stimm-Akrobatik und ihren kehligen Oberton-Akkorden schreit sie in allen Richtungen ihre nicht sehr überzeugende Interpretation eines Sprechgesangs der 21 Melodramen heraus. Das hat clowneske und dank der lila Handschuhe und ihrem rotem Kardinalshut auch ab und zu pantomimische Elemente, die aber den wichtigen Text leider durch schlechte Diktion nicht deutlich zu verstehen gibt. Auch die vielen unsinnigen Grimassen mit dem widerlichen und wiederholendem Augenrollen, auch die unablässigen Quietsch-Töne der Sängerin helfen weiß Gott nicht dieses wunderbare Werk endlich nach einem Jahrhundert zu rehabilitieren. Pantomime und Musik passen natürlich gut zusammen, aber sind Musiker auch gute Pantomimen? In den ständig wechselnden Spielpositionen war ein optimaler Klang oft Nebensache. Ob sie sich selbst wohl fühlten in dieser ungewöhnlichen Doppelrolle? Fischers unsentimental vorgetragenes Kinderlied La-Le-Lu-nur der Mann im Mond schaut zu (Heinz Rühmann / 1902-1994) war einer der innigsten Momente des Abends. Aber mit Schönbergs Komposition hat das auch nicht viel zu tun! Das Ensemble Klangforum Wien: Vera Fischer (Flöte, Piccolo), Bernhard Zachhuber (Klarinette, Bass-Klarinette), Gunde Jäch-Micko (Violine, Bratsche), Andreas Lindenbaum (Cello) und last not least unser Bar-Pianist Florian Müller (Klavier) und natürlich auch der sehr spezialisierte Dirigent Ingo Metzmacher für die Musik des 20; Jahrhunderts.
Im Jahre 1912 war Pierrot lunaire bei der Uraufführung in Wien ein grosser Skandal und der Komponist wurde als ein kaltblütiger und blutgieriger Mörder der Musiktradition angesehen. Im Jahre 2022 bei der „spartenübergreifenden“ Neuerzählung von Pierrot lunaire geht man einfach erschöpft und müde nach Hause und die Presse schreit nicht Skandal! Man schweigt einfach! Hat die Choreografin M. M. Freitas dem Komponisten Schönberg geholfen endgültig den Pantheon ohne Wiederstand zu erreichen? Nein! Für Pierrot lunaire ist der Mond noch mehr unter gegangen… hat sich ein wenig mehr versteckt! Mit oder ohne Klimawechsel…
Das Festival d`Automne à Paris besteht seit 1972 und hat sich einen festen Platz im Pariser Kulturleben geschaffen: Theater, Musik, Tanz und bildende Kunst erwärmen die herbstlichen Tage für die kunstbeflissenen Einwohner ein wenig. Das Festival ist besonders berühmt geworden für ein sehr mutiges Programm mit ungewohnten und seltenen internationalen Produktionen. (PMP/30.11.2022)
Auskünfte: Tel.: +33 1 53 45 17 17, Email: billetterie@festival-automne.com
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