Paris, Cité de la Musique, DAS WOHLTEMPERIERTE KLAVIER - Tanzabend, IOCO Kritik, 21.04.2022
Das Wohltemperierte Klavier - Tanzabend - 12. April 2022
Teshigawara, Sato, Aimard - Johann Sebastian Bach
von Peter Michael Peters
EIN WOHLTEMPERIERTER TOTENTANZ
Anfang der 1980er betrat Saburo Teshigawara (*1953) die Bühne. Er ist Autor zahlreicher Tanzkreationen in verschiedenen Formaten (Soli, Duos, Gruppenstücke) und damit eine der wichtigsten Figuren des zeitgenössischen Tanzes weltweit. Seine choreografische Sprache entfaltet sich mit bemerkenswerter Eleganz in einer kontinuierlichen Oszillation vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, verbindet ästhetische Raffinesse mit organischen Schwingungen auf dem höchsten Punkt des sensiblen Ausdrucks.
Als Choreograf und Tänzer kreiert er auch die Kostüme und die Szenografie für seine Tanzstücke. Als informierter Musikliebhaber gibt er der Musik eine wesentliche Rolle in seinem künstlerischen Universum und erkundet das klassische Repertoire ebenso wie die zeitgenössische Sphäre. Ins besonders zu Johann Sebastian Bachs (1685-1750) Musik pflegt er eine tiefe Komplizenschaft, der er sich erst spät zuwandte! „Ich habe lange gezögert, ein Stück mit Bach zu konzipieren oder seine Musik in meiner choreografischen Arbeit zu verwenden“, erklärt Teshigawara. „Ich habe auf den Moment gewartet, denn ich habe einen sehr großen Respekt! Ich musste hineinwachsen! Es gibt keine Verwirrung oder Ambivalenz in Bachs Musik. Empfindungen werden geformt – und Form wird in Empfindungen übersetzt – mit absoluter Intelligenz. Ich suchte nach einer Beziehung zu dieser surrealen Musik von extremer Klarheit, dessen Struktur so präzise ist.“
Der seit mehreren Jahren initiierte Dialog, den Teshigawara mit Bach pflegt, erweist sich als überaus anregend. Aus den Kantaten entstand insbesondere ein mit dem Ensemble Pygmalion konzipiertes Stück im Jahre 2017. Sie werden nun in Form neuer Kreationen fortgesetzt, die auf einem der emblematischsten Werke des deutschen Komponisten basieren: Das Wohltemperierte Klavier (1722/1744).
Der japanische Meister der Bewegung führt die Choreografie dieses Stücks im Duett mit Rihoko Sato auf, seiner privilegierten Partnerin seit mehr als fünfundzwanzig Jahren. Was die Musik betrifft, sie wird von dem französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard (*1957) gespielt. Weit davon entfernt, hier seinen ersten Ausflug in den Tanzbereich zu machen, hat er bereits für klassische Produktionen in Paris und Lyon gearbeitet. „Es war ein pluralistisches Projekt, sehr offen, ich mochte diese Erfahrung sehr“, betonte Aimard. „Im Allgemeinen finde ich es interessant, mein Instrument als Werkzeug zu verwenden, das es mir ermöglicht, mich anderen Disziplinen als der Musik zu nähern, insbesondere dem Tanz.“
Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen zeigt Aimard eine verhältnismäßig große Begeisterung für Das Wohltemperierte Klavier. „Es ist ein sehr komplexes, anspruchsvolles Werk von unerschöpflichem Reichtum, das eine außerordentliche Vielfalt von Situationen bietet. Bei dieser choreografischen Kreation habe ich das Gefühl, zu den Wurzeln zurückzukehren, weil Tanz ein wichtiger Bestandteil von Bachs Musik ist – etwas, das wir heute gerne vergessen, weil die Verbindung zwischen Tanz und dieser Art von Musik sehr verloren gegangen ist“.
In Anlehnung an diese Worte von Aimard, bekräftigt Teshigawara für seinen Teil, „dass Das Wohltemperierte Klavier uns die Reinheit der Musik bringt und in ihrer Absolutheit einen sehr starken Anreiz zum Tanzen weckt.“
Beside „The Well-Tempered Clavier”…
- Is life born from nothing?
- Does life become nothing?
- Or does life continuing to move towards
- Nothing, create something?
- When human beings long for eternity
- Death becomes theirs.
- Yet, death is not the end.
- They will gain the force to become nothing.
Eternally continuous life is an art of creation.
This force of nature does not have an end.
- The game of absence and presence.
- Music gives us that supreme pleasure.
- We cannot reach the top floor of the
- architecture beyond the clouds
- Our feet are on the ground.
- (Saburo Teshigawara)
Der Tanzabend - 12. April 2022 - Konzertsaal - Cité de la Musique
Über Das Wohltemperierte Klavier sagte der russische Pianist Svjatoslav Richter (1915-1997), einer seiner großen Interpreten, „…wir müssen es lieben lernen“. Es ist in der Tat nicht leicht, die Klavierleidenschaft für dieses Werk zu öffnen, das jeder Romantik fremd bleibt und erst erobert werden will. Aimard hat beschlossen in der Philharmonie de Paris Ausschnitte des Wohltemperierten Klavier zu spielen, dessen Schwierigkeiten bekannt sind und dessen Präludien und Fugen echte technische Herausforderungen für die Pianisten darstellen. Doch der Pianist erweckt durch die Auswahl der Stücke und durch seine Interpretation natürlich die Virtuosität, aber vor allem die unendliche Vielfalt dieser Musik zum Leben. Fernab jeglicher Strenge entfaltet es sich mit Lebendigkeit, Verspieltheit und Aimard sucht seine Nuancen hörbar zu machen. Was anfangs zumindest erstaunlich erschien, dass Tänzer diese scheinbar untanzbare Musik wählten, wird dann offensichtlich: Das Wohltemperierte Klavier in Teshigawaras Choreografie berührt, was der Minimalismus von Steve Reich (*1936) und dank Anne Teresa De Keersmaeker (*1960) in Fase (1982), einem Ort der Begegnung und des Einsatz geworden ist, gerade so wie die musikalische Barockinterpretation von heute. Die Zeitlosigkeit von Bachs Wohltemperiertes Klavier platzte auf der Bühne der Cité de la Musique total auf! Teshigawara ist seit mehr als vierzig Jahren eine der großen Figuren des zeitgenössischen japanischen Tanzes. Bach ist ihm sehr vertraut, wir erinnern uns besonders an seine letzte Schöpfung Bach in 7 Worten nach den Kantaten des Kantors aus Leipzig, vor drei Jahren in der Philharmonie de Paris. Er tanzte bereits mehrmals mit seiner Komplizin, diese Doppel- und Gegenfiguren, mit der Tänzerin Sato. Diese klare Bewegung, die von der Form zur Empfindung führt, reproduzieren der Choreograf und Sato, indem sie nacheinander ihre eigenen Energien anbieten: Die eine, zurückgezogen, gehemmt, statuenhaft, die andere offen, wirbelnd, ein wahres Irrlicht auf der Szene. Auf der einen Seite die Nacktheit von Teshigawara, der seinen alternden Körper tanzend für alle sichtbar darbietet, auf der anderen Seite die Begeisterung von Satos tanzender Jugend.
Es gibt in dieser Tanzschöpfung einen klaren Gedanken der Gegensätze, der an das erinnert was Jun‘ichir? Tanizaki (1886-1965) in Lob des Schattens (1933) geschrieben hat, dass der Schatten uns das Zeitgefühl verlieren lässt. Wie die Musik vom Wohltemperierten Klavier von Bach, bietet uns die Choreografie von Teshigawara das Schwindelgefühl der Verlassenheit! Der eine und der andere Tänzer setzen wiederum eine neue Zeitlichkeit ein, die die bisherige aufhebt. Alt und Jung, Stillstand und Geschwindigkeit, Hemmung und Entfaltung gleichen, durch Schatten, einer Konstruktion aus Licht! Das Finale bringt die beiden Tänzer für ein einziges Mal mit unglaublicher Zartheit auf der Bühne zusammen. Genauso wie Das Wohltemperierte Klavier von Bach die gesamte Musik definiert… (PMP/18.04.22)
---| IOCO Kritik Philharmonie de Paris |---