Paris, Centre Pompidou, THE RISE - experimentelle Oper, IOCO

CENTRE POMPIDOU, PARIS: The Rise, eine experimentelle Oper der österreichischen Komponistin Eva Reiter (*1976) und des belgischen Choreografen Michiel Vandevelde (*1981), ist von der Poesie der amerikanischen Dichterin Louise Glück (1943-2023) inspiriert.

Paris, Centre Pompidou, THE RISE - experimentelle Oper, IOCO
Centre Pompidou, Paris @ wikimedia commons

THE RISE (2024) - Eva Reiter / Michiel Vandevelde - Eine experimentelle Oper inspiriert vom poetischen Universum der Dichterin Louise Glück - Nobelpreis für Literatur 2020 - Übersetzung in die internationale Gebärdensprache (LSI) und originale Gebärdendichtung von Günther Roiss.

Ruben Grandits, Erzähler, Lore Binon, Sopran, Ensemble Ictus und Disagree, Tänzer: Amanda Barrio Charmelo, Nathan Felix-Rivot, Antoine Roux-Briffaud, Aure Wachter.

Musiker: Dirk Descheemaeker, Hanna Kölbel, Eva Reiter, Michael Schmid, Szenografie: Eva Reiter, Michiel Vandevelde, Design der neuen Instrumente: Eva Reiter, Kostüme: Tutia Schaad.

 von Peter Michael Peters

THE RISE - Centre Pompidou youtube Ictus Ensemble

EIN TOR ZUR UNTERWELT BESCHWÖRT EINE WELT VON LEBEN UND TOD…

 Who can say what the world is? The world

Is in flux, therefore

Unreadable, the winds shifting,

The great plates invisibly shifting und changing.

 (Louise Glück: Averno / Auszug)

Außergewöhnliche Instrumente und neue Harmonien…

The Rise, eine experimentelle Oper der österreichischen Komponistin Eva Reiter (*1976) und des belgischen Choreografen Michiel Vandevelde (*1981), ist von der Poesie der amerikanischen Dichterin Louise Glück (1943-2023) inspiriert. Ihre Gedichtsammlung Averno (2006), benannt nach einem italienischen Vulkansee, der als Tor zur Unterwelt gilt, dient als Hauptmaterial für das Libretto. Glück beschwört Bilder von Leben und Tod und verknüpft die profane Welt mit der Idee der Ewigkeit.  Die Oberfläche des Sees fungiert als durchlässige Membrane, die Parallelwelten in Kommunikation zu bringt bringt.

Der Zeremonienmeister ist Ruben Grandits, ein gehörloser Schauspieler und Übersetzungsmagier, der die Bedeutung zwischen Sprache, Zeichen und Klang zirkulieren lässt. Er führt die zehn Darsteller zur Mündung des Averno-Vulkans. Neue Instrumente, die speziell für dieses Stück geschaffen wurden, werden dann vor unseren Augen neu erfunden, neue Harmonien, Grammatik, Rhetorik und sogar Politik.

In The Rise konzentrieren sich die Komponistin Reiter und der Choreograph Vandevelde auf die Koexistenz und den Austausch verschiedener Welten, die sich nacheinander auf der Bühne entfalten.  Dabei ist es der Prozess der Übersetzung, der zur Entstehung solcher neuen Welten führt. Durch das Übersetzen und Rekontextualisieren von Symbolen, Zeichen Gesten und Klängen entstehen neue Sprachen, die letztlich unsere Perspektive auf eine bestimmte Welt verändern.

Im Mittelpunkt des Stücks steht Grandits, ein junger gehörloser Performer, der als einziger Mensch – obwohl er nicht hört – in der Lage ist, die Geschichte dem Publikum zu vermitteln. Seine Hände sind mit Sensoren ausgestattet und daher werden seine Bewegungen direkt in Klang übersetzt. Seine Zeichen, wenn sie zu uns sprechen, dienen als grundlegende Quelle für die Welt der Klänge und Bewegungen. Umgekehrt wird Musik in visuelle Zeichen zurückübersetzt, wodurch das Stück auch für Gehörlose zugänglich wird. Es veranschaulicht Kommunikations-modelle, bei denen Vermittlung nicht vermieden werden kann und soll.

The Rise - Centre Pompidou, Paris - Szenenphoto ©Bea Borgers

 The Rise basiert auf den Gedichten der Nobelpreisträgerin Glück. Insbesondere ihre Publikation Averno dient als Hauptmaterial für das Libretto. Averno, ein Kratersee in Italien, galt als Eingangstor zur Unterwelt. In ihren Gedichten verbindet und vertauscht Glück die beiden Welten der Lebenden und der Toten, kehrt von einer in die andre zurück und evoziert Bilder von Leben und Tod, von Ewigkeit und Profanem. Ähnlich wie die Oberfläche des Sees als durchlässige Membrane in dieser Parallelwelt dient, werden wir durch die Art und Weise, wie diese Gedichte aufgeführt werden, Parallel- und Zwischenwelten erschaffen.

Im gesamten Werk sehen und hören wir kein traditionelles Musikinstrument, sondern nur neu konstruierte, selbst entwickelte, die die Grundlage der Partitur und des Bühnenbildes bilden. Alle Instrumente wurden mit dem Ziel entwickelt, Bewegung direkt – teilweise kollektiv – in Klang umzusetzen. Das Ensemble besteht aus vier Tänzern, vier Musikern, einer Sängerin und dem Erzähler, die mit Echomaterial eine „homogene“ Gruppe bilden. Zusammen bilden sie zudem einen „Chor“, der in seiner kollektiven Rolle eine entscheidende Funktion übernimmt und sich zunehmend als neue Gemeinschaft inszeniert.

Durch die Übertragung musikalischer Information in Gebärdensprache – durch die Vermittlung von Bedeutung in diesem Sinne – ergeben sich vielfältige Möglichkeiten der Lesart und des Zugangs zu diesem Werk. Das Unvermögen, einzelne Aspekte zu verstehen, stellt keinen Mangel dar und muss nicht kompensiert werden, sondern repräsentiert die unterschiedlichen Sichtweisen, aus denen wir Verständnis generieren.

Die sich verändernde Welt einer Dichterin…

Meadowslands ist die neunte Sammlung von Glück und präsentiert 46 Gedichte, in denen sich die Beschwörung des Zerfalls einer zeitgenössischen Ehe und Episoden aus der Odyssee (8. Jhr. v. J. C.) von Homer (8. Jhr. v. J.C. - 8. Jhr. v. J.C.) abwechseln. Meistens sind es das moderne Paar und die mythischen Helden, die sich ausdrücken, oft mit Worten und Gedanken von heute. Glücks übliche Themen: Verlust, Schmerz usw. sind in manchmal elliptischer Form und mit den Tonbrüchen, die ihr gefallen, präsent. Aber hier wird der Ehrgeiz, unterschiedliche Welten und Atmosphären sowie komplexe Fragen in Resonanz oder Dissonanz zu bringen, nicht immer verwirklicht und bestimmte Gedichte bleiben ziemlich flach, ihre Formulierungen und ihre Aphorismen ein wenig trivial.

The Rise - Centre Pompidou, Paris - Szenenphoto ©Bea Borgers

Auf jeden Fall ist die Sammlung angenehm zu lesen. Es ist leicht, mit Penelopes Traurigkeit oder voll und ganz mit Circes Wahrheiten zu sympathisieren, besonders wenn sie etwas unverblümt präsentiert werden: „Ich habe noch nie jemanden in ein Schwein verwandelt. / Manche Menschen sind Schweine: Ich gebe ihnen einfach : Das Aussehen von Schweinen“, sind wir bereit, uns damit abzufinden. Wenn Telemachos mit seiner jugendlichen Sensibilität den Ärger zum Ausdruck bringt, den seine Eltern in ihm hervorrufen, hören wir zu. Wenn Beschwerden über männliche Fehler vorgebracht werden, nicken wir mit dem Kopf, obwohl die Dichterin darauf hinweist, dass das, was wir lesen, „… keine kleine Geschichte über die angeborene Verdorbenheit des Mannes“ ist und auch wenn Odyssee nie in der eigenen Sprache zu sprechen scheint. Der auch allzu oft Raum für Vorwürfe und Sorgen hinter sich lässt, die nicht mit der wünschenswerten Ambivalenz oder Kraft zu werden scheinen.

Natürlich können wir uns mit der modernen kleinen Komödie über Ehestreitigkeiten vergnügen: „Ich habe dir doch gesagt, dass du / deine kalten Füße auf meinen Schwanz legen darfst“. Aber der poetische Bericht ist nicht immer vorhanden. Bestimmte Gedichte entgehen jedoch der Schematisierung oder narzisstischen Beschränkung und erreichen dann vollkommenes Maß an Klarheit und Kraft, wie die neun Gedichte mit dem Titel „Parables“ oder „Nostos“ über das Unveränderliche und das Unbeständige, die mit zwei bereits berühmten Zeilen enden: „Wir schauen. / Einmal auf der Welt, in der Kindheit / Der Rest ist Erinnerung.“ Sie lassen uns die wahrhaft fruchtbare Spannung wiederentdecken, die Glück mit kanonischen Texten und ihrer eigenen einfühlsamen und fein dissonanten Lyrik herzustellen weiß.

THE RITE - Szenenphoto (© Bea Borgers)

Auch Averno, das zwölf Jahre nach Meadowslands erschien und zwei weitere Gedichtsammlungen, sind noch nicht ins Deutsche übersetzt, bedient sich auch der antiken Mythologie. Der erste Titel bezieht sich natürlich auf den See, in dem die Alten den Eingang zur Unterwelt sahen, während eine der zentralen Geschichten der Sammlung die von Persephone, das Thema des Zerreißens enthält mit Weg, Tod, Wiedergeburt, Schuld und Gewalt. Die poetischen „Ichs“, die sich in den zwölf Gedichten ausdrücken, sind verschiedene Versionen derselben Psyche, manchmal verkörpert in Persephone, in Demeter… Sie kehren im gesamten Buch wieder und lassen äußere Ereignisse auf mehr oder weniger wahrnehmbare Weise „filtern“. Aktuelle (11. September 2001 in Oktober) und persönliche Erinnerungen, die durch Mythen transformiert oder in Analysesitzungen überarbeitet wurden.

Avernos Meditation befasst sich mit Fragen von Körper und Seele, Liebe, Leben und Verlust sowohl auch für Natur und Erde. Die Gedichte erwecken den Eindruck, als wären sie nach einer Katastrophe geschrieben worden und werden durch das Bedürfnis, sich daran zu erinnern und den Widerwillen, dies zu tun, zusammengehalten. Sie finden in einer oft herbstlichen Atmosphäre statt, die schöne Erinnerungen an die Jahreszeit und ihre Landschaften ermöglicht. „Ein Tag wie ein Tag im Sommer. / Außergewöhnlich behoben. Die langen Schatten der Ahornbäume / fast lila auf den Schotterwegen. / Und abends die Hitze. Nacht wie eine Nacht im Sommer.“

Averno stellt auch mehrere Fragen zur Erinnerung, insbesondere zu Traumata. Welchen Sinn hat das Erinnern? Wie passiert das? Was sind die Auswirkungen? Die Antworten sind vielfältig, wie in Blue Rotunda: „Es ist nicht interessant, sich daran zu erinnern. / Der Schaden ist nicht interessant“ oder im Gegenteil: „Das muss ich mir vorstellen / Alles / was sie gesagt hat. // Ich muss so tun, als gäbe es eine Realität / eine Karte, die zu diesem Ort führt.“ Vielfältig sind die Antworten in der Sammlung auch im Hinblick auf die für Glück so sehr obsessiven Fragen nach den Beziehungen zwischen Opfer und Angreifer sowie nach den Beziehungen zwischen Mensch, Tod und Schöpfung.

THE RISE - Szenenphoto (© Bea Borgers)

Wenn all dies im Werk von Glück nicht neu ist, so ist es doch die Form: Die Sammlung ist tatsächlich mit Echos, Fragmenten, Fugen und Prismen (die im Übrigen die Titel der Gedichte im Buch sind) gefüllt, wie nach Wunsch und Überarbeitung mit Kombination und Wiederaufnahme. So sehr, dass zwei Gedichte in Averno den Titel Wiesenland und zwei weitere Persephone, Die Wanderin tragen. Letztere, die den Rahmen für die Sammlung bilden, erklären in ihren Versen darüber hinaus unterschiedliche Versionen derselben Geschichte und unterstreichen so die treibende Rolle von Modulation und Variation im Werk.

Allerdings nehmen in diesem oft sehr schönen poetischen Werk die Konzentration auf sich selbst, die Wut, die Klage manchmal einen vorhersehbaren und erstickenden Charakter an wie z. B. bestimmte Strophen von Prismen. Die narzisstische Beschäftigung und die entmutigende Sicht auf menschliche Beziehungen entgehen dem Banalen nicht, wenn sie in einer etwas trivialen und veralteten Perspektive auf elterliche, eheliche, kindliche Probleme und gesellschaftliche Einschränkungen, die dem Einzelnen auferlegt werden, zurückgreifen. In Averno gibt es eine altmodische und klagende Vorstellung von Beziehungen zwischen Mann und Frau und dem weiblichen Zustand. Kraft und tragische Dichte haben Gedichte erst dann, wenn sie sich davon lösen und die persönliche Sphäre nutzen, um sich auf metaphysische und ästhetische Fragen zu projizieren. Dann finden wir Glücks Universum, zerbrechlich, schön, beeindruckend in seiner Kraft der Bedrohung und  Enteignung, in dem sich die Klage lyrisch entfaltet, mit all ihrer fesselnden Kraft der Umhüllung und ihren unendlichen Umkehrungen. So bemerkt sie zu Oktober, einem ziemlich langen Gedicht:

Die Lieder haben sich auf einen

kleineren Raum, den Raum des Geistes.

Sie sind jetzt dunkel, dunkel vor

Trostlosigkeit und Angst.

Und doch kommen die Noten zurück.

Sie schweben neugierig

In Erwartung der Stille.

Das Ohr gewöhnt sich daran.

Das Auge gewöhnt sich an das Verschwinden.

Du wirst nicht verschont bleiben,

ebenso wenig wie das, was du liebst.

THE RISE - Szenenphoto © Bea Borgers

Das Gedicht endet drei Seiten später mit einem zweideutigen, falsch naiven Vers: „Mein Freund, der Mond geht auf. Er ist heute Abend schön, aber wann ist er nicht schön?“

Diese Momente von Averno offenbaren die zufälligen und bewegenden Identitäten eines lyrischen „Ichs“, das, weit entfernt von Banalität, die Welt auf leidenschaftliche, sich verändernde und komplexe Weise zum Ausdruck bringt.

THE RISE - Vor-Premiere - Centre Pompidou / Ircam / Paris - 20. September 2024

Intimität und lyrische Zurückhaltung…

In The Rise, einer Kreation der Komponistin Eva Reiter und des Choreografen Michiel Vandevelde, erwecken die spielenden, tanzen und singenden Körper kurz nach ihrem Tod eine neue Welt zum Leben, inspiriert vom Gedichtzyklus Averno von Louise Glück. Diese Aufführung wird im Centre Pompidou in Zusammenarbeit mit Ircam als sogenannte Vor-Premiere (Premiere bei dem Festival Musica Straßburg 2024 am 1. Oktober.) präsentiert und verwendet internationale Gebärdensprache mit übertiteln in Französisch und Englisch. Die Ensembles Ictus und Disagree erforschte in Begleitung des belgischen taubstummen Schauspieler Ruben Grandits, der als sogenannter Zeremonienmeister, die Interaktion zwischen Sprache, Zeichen und Klängen vollzog. Dank elektronischen Sensoren an seinen Händen lösen Grandits‘ Zeichen Geräusche und Bewegung aus und führen zehn Darsteller durch das Thema des Averno-Sees, Symbol des Übergangs zwischen Lebenden und Toten. Dieser Prozess führt zu innovativen Instrumenten, neuen Harmonien und einer Neukonfiguration der künstlerischen Grammatik und bietet eine neue Perspektive auf die Politik der Kunst. In den ersten Minuten hatten wir und auch wohl das Publikum es sehr schwer in dieses Material einzutauchen, es zu erfassen, zu durchdringen, zu verstehen! Jedoch nach und nach fanden wir viel Vergnügen an dieser stummen und doch so lauten Welt: Plötzlich hatten wir viel Freude an dieser sogenannten „Weltüberschreitung“. Auch wir wollten jubelnd singen und locker tanzen. Dazu hatten wir auch das außergewöhnliche Glück ein blutjunges sympathisches taubstummes Paar kennenzulernen. Sie wurden somit unsere wissenden Begleiter für anderthalb Stunden, um uns sicher durch ein für uns völlig unbekanntes Gedanken- und Seelenlabyrinth zuführen.

Sollten sie Zeit und Gelegenheit finden: Bitte unbedingt ansehen und natürlich „hören“! Es lohnt sich wirklich! Die anderthalb Stunden verflogen wie im Traum! Unter jubelndem Applaus erwachten wir aus unserem „Traum“ und auf leichtem Fuß kehrten wir wieder in unsere banale und triviale Welt zurück. Vielleicht kehrte Odyssee nach großen Irrfahrten auch zu seiner Penelope zurück? Vielleicht hat Orpheus doch noch seine geliebte Eurydike aus dem Schattenreich entführt? Wer weiß es? (PMP/24.09.2024)